• Der Schatten eines Soldaten fällt auf die Flagge der Europäischen Union.

Europas Verteidigungsfähigkeit neu denken

Was die Roadmap 2030 anstößt – und worüber jetzt gesprochen werden muss

dbb europathemen

Die neue Roadmap Verteidigungsbereitschaft 2030 könnte Europas Sicherheitsarchitektur grundlegend verändern.

Die Roadmap Verteidigungsbereitschaft 2030 der Europäischen Kommission markiert einen Wendepunkt. Zum ersten Mal liegt ein Gesamtplan vor, der die bislang national zersplitterten Verteidigungsansätze der Mitgliedstaaten in ein gemeinsames Konzept überführen soll. Ziel ist es, Europas Fähigkeit zur Selbstverteidigung zu stärken – industriell, technologisch und operativ. Doch mit dieser Initiative beginnt auch eine notwendige Debatte darüber, wie Sicherheit europäisch gedacht, organisiert und legitimiert werden kann.

Europas sicherheitspolitischer Flickenteppich

Die Kommission benennt offen, was seit Jahren als Achillesferse gilt: Europas Verteidigungslandschaft ist zersplittert. 27 Mitgliedstaaten unterhalten mehr als 170 verschiedene Waffensysteme, rund 80 Prozent aller Beschaffungen werden weiterhin national abgewickelt. Das bedeutet Doppelstrukturen, hohe Kosten und eingeschränkte Einsatzfähigkeit. In einer geopolitischen Lage, die von Angriffskrieg, Cyberattacken und hybriden Bedrohungen geprägt ist, kann sich die EU diesen Zustand kaum noch leisten.

Die Roadmap will dem durch gemeinsame Beschaffung, abgestimmte Forschung und eine koordinierte industrielle Basis begegnen. Doch der Erfolg dieses Ansatzes hängt von zwei entscheidenden Fragen ab: Gelingt es der Kommission, Prioritäten richtig zu setzen – und kann sie Vertrauen schaffen, dass gemeinsame Beschaffung keine nationale Kontrolle kostet, sondern gemeinsame Stärke schafft? Wenn die Mitgliedstaaten ihre Sicherheitsinteressen weiter einzeln definieren, bleibt Europa verwundbar. Wenn sie sie gemeinsam gestalten, kann aus Vielfalt Handlungsfähigkeit werden.

Gemeinsame Beschaffung – europäische Integration im Ernstfall

Hinter der Forderung nach gemeinsamen Beschaffungsmechanismen steckt mehr als industrielle Logik. Sie berührt den Kern europäischer Souveränität. Ein europäischer Verteidigungsmarkt, der Innovation und Effizienz verbindet, wäre nicht nur ein wirtschaftlicher Fortschritt, sondern ein politisches Bekenntnis zur Solidarität in der Sicherheitsfrage. Damit das gelingt, braucht es verbindliche Verfahren, transparente Kontrolle und eine klare Aufgabenteilung zwischen Brüssel und den Hauptstädten.

Die Kommission will bis 2027 den Anteil gemeinsamer Beschaffung auf 40 Prozent steigern – ein ambitioniertes Ziel. Doch ob das gelingt, wird weniger von Zahlen als von Vertrauen abhängen. Wenn gemeinsame Strukturen als Angriff auf nationale Industriepolitik verstanden werden, droht das Projekt zu scheitern. Wenn sie als Instrument gemeinsamer Verantwortung gesehen werden, könnte daraus die erste echte Verteidigungsunion Europas entstehen.

Kontrolle, Werte, Legitimation

Je stärker Europas militärische Fähigkeiten werden, desto wichtiger ist die Frage nach ihrer Kontrolle. Eine glaubwürdige Verteidigungsarchitektur muss unter demokratischer Aufsicht bleiben – durch Parlamente, Gerichte und Öffentlichkeit. Sicherheit darf nicht zu einem technokratischen Feld werden, das sich der politischen und ethischen Debatte entzieht. Militärische Stärke ist notwendig, aber sie darf nie zum Selbstzweck werden.

Die Herausforderung besteht darin, Abschreckung und Demokratie zu verbinden: Stärke zu zeigen, ohne Macht zu zentralisieren. Europa braucht Instrumente, nicht Illusionen – aber es braucht ebenso Regeln, die verhindern, dass diese Instrumente jemals gegen seine eigenen Prinzipien gerichtet werden.

Gesellschaftliche Dimension: Bürger in Uniform, Dienste für Europa

Verteidigungsbereitschaft ist keine rein militärische Frage. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Diskussion über die Roadmap wirft damit auch ein Thema auf, das in mehreren Mitgliedstaaten wieder lauter wird: die Rolle der Reservekräfte und die Idee einer allgemeinen Dienstpflicht.

Europa steht vor der Frage, ob es künftig wieder mehr „Bürger in Uniform“ braucht – Menschen, die militärisch ausgebildet, aber demokratisch verankert sind. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, dass Sicherheit mehr bedeutet als militärische Stärke. Auch zivile Fähigkeiten – etwa im Katastrophenschutz, in der Energieversorgung, in der digitalen Sicherheit – sind Teil der europäischen Verteidigung. Könnte eine europäisch gedachte Dienstpflicht ein Weg sein, diese Kräfte zu bündeln? Eine Verpflichtung, die militärische wie zivile Dienste umfasst, und allen EU-Bürgerinnen und -Bürgern offensteht? Ein solcher Ansatz würde Solidarität nicht nur fordern, sondern erfahrbar machen – über Grenzen hinweg. Er könnte europäische Identität stärken und gleichzeitig die personellen Aufwuchsfähigkeiten schaffen, die heute vielerorts fehlen.

Der öffentliche Dienst als Rückgrat der Resilienz

Was oft übersehen wird: Ohne leistungsfähige öffentliche Dienste bleibt jede Verteidigungsstrategie lückenhaft. Rettungswesen, Polizei, Gesundheitsversorgung, Energie- und Wassernetze, Verwaltung – sie alle bilden das Fundament gesellschaftlicher Widerstandsfähigkeit. Ein starker öffentlicher Dienst ist kein Nebenschauplatz der Sicherheitspolitik, sondern ihre Voraussetzung. Investitionen in seine Modernisierung, seine Vernetzung und in den Schutz seines Personals sind daher ebenso Teil der Verteidigungsbereitschaft wie gemeinsame Beschaffung oder militärische Mobilität. Europas Verteidigung beginnt nicht erst an den Grenzen, sondern im Inneren seiner Gesellschaften – dort, wo Vertrauen, Zusammenhalt und Verlässlichkeit wachsen.

Europas Stärke: Handlungsfähigkeit mit Maß

Die Roadmap 2030 zeigt, dass Europa bereit ist, sicherheitspolitisch Verantwortung zu übernehmen. Ob sie erfolgreich sein wird, hängt davon ab, ob Integration und Kontrolle, Effizienz und Ethik, Verteidigung und Demokratie in Balance bleiben. Europa braucht Stärke, aber mit Maß; Geschwindigkeit, aber mit Richtung; und Verteidigungsfähigkeit, die seine Werte nicht verdrängt, sondern schützt.

Christian Moos ist Berichterstatter des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) für die Roadmap Verteidigungsbereitschaft 2030.

 

 

zurück

dbb europathemen abonnieren

Keine Nachrichten mehr verpassen? Melden Sie sich für den dbb europathemen newsletter an! Bitte nehmen Sie dafür die dbb Datenschutzrichtlinien zur Kenntnis. Unsere Newsletterangebote im Überblick.