• Flaggen im Wind vor dem EU-Parlament in Straßburg

Gastbeitrag von Ilka Wölfle, Direktorin der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung

Das Ende der Legislaturperiode naht – Stürmische Zeiten vor der Aufbruchstimmung

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Wie jedes Jahr hat die Europäische Kommission im Oktober ihr Arbeitsprogramm für das kommende Jahr vorgestellt. Es war keine große Überraschung, dass es eher bescheiden ausfällt.

Schon im Titel „Heute handeln, um morgen bereit zu sein“ schwingt Aufbruchstimmung mit. Das Team rund um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen konzentriert sich primär darauf, die verbleibenden Dossiers noch vor den Europawahlen im Juni 2024 abzuarbeiten. Denn auch die EU-Kommission wird sich danach neu zusammensetzen. Welche Prioritäten dann gesetzt werden, hängt auch von der Besetzung der Spitze der EU-Kommission ab.

Durch die Zielgerade oder doch nicht?

Mit Hochdruck arbeiten deswegen auch das Europäische Parlament (EU-Parlament) und die Mitgliedstaaten daran, Fortschritte bei den anhängigen Gesetzesinitiativen zu erzielen. Erfolgreich waren die Verhandlungsteams, wenn es um den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor gefährlichen Stoffen geht. Im Oktober hat der Rat neue Regeln zur Senkung der Expositionsgrenzwerte von Asbest am Arbeitsplatz verabschiedet. Mit den neuen Grenzwerten müssen modernere Messmethoden - wie die Elektronenmikroskopie - die auch dünne Asbestfasern erfassen, in den Mitgliedstaaten eingeführt werden. Bis Ende des Jahres sollen zudem geänderte Grenzwerte zu Blei und neue Grenzwerte für Diisocyanate auf den Weg gebracht werden. Die Verhandlungen zwischen der EU-Kommission, dem Rat und dem EU-Parlament sind noch im Gange, eine Einigung steht jedoch kurz bevor. Wesentlich unwahrscheinlicher ist eine Einigung zu europaweit geltenden Regeln zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitern. Zwar hat sich das EU-Parlament bereits im Februar auf einen Standpunkt geeinigt. Im Rat gehen die Auffassungen zu den Regelungen zur Feststellung des Beschäftigungsstatus jedoch weit auseinander. Vor allem die Anzahl der Kriterien, anhand jener der Beschäftigungsstatus bestimmt werden soll, sowie deren Nichtberücksichtigung, wenn ein Kriterium gesetzlich oder tarifvertraglich vorgeschrieben ist, sind umstritten. Dies sind auch wichtige Punkte für die deutsche Sozialversicherung. So bestimmt der Beschäftigungsstatus über Sozialversicherungspflicht sowie Umfang von Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Auch müssen die Regelungen praxisgerecht umsetzbar sein, denn der Rentenversicherung obliegt die Prüfung des Beschäftigtenstatus. Auch ein Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens für ein Europäisches Lieferkettengesetz ist unsicher. Für die deutsche Sozialversicherung war hier vor allem die von der EU-Kommission vorgenommene Einbeziehung der gesetzlichen Rentenversicherungsträger unter die betroffenen Finanzunternehmen von Relevanz. Diese hätte der gesetzlichen Rentenversicherung zusätzliche Transparenz- und Berichtspflichten auferlegt und zudem das Risiko mit sich gebracht, auf andere Sozialversicherungszweige ausgeweitet zu werden. 

Spannend bleibt es auch weiterhin im Gesundheitsbereich. Seit fast eineinhalb Jahren verhandeln die EU-Institutionen über die Frage wie europaweit bestmöglich auf nationaler Ebene erhobene Gesundheitsdaten zusammengeführt und grenzüberschreitend genutzt werden können. Versicherte sollen digital auf eigene Behandlungsdaten zugreifen und über deren Verwendung entscheiden können. Gesundheitsdaten sollen aber auch für die Forschung besser nutzbar werden. Es überrascht nicht, dass ein Abschluss des Verfahrens bei einem so hochsensiblen Thema vor Ende der Legislaturperiode nicht gelingen wird. Vor allem die Diskussion um die Frage, wie viel Mitspracherecht die Patientinnen und Patienten bei der Weitergabe ihrer Gesundheitsdaten haben sollen wird kontrovers diskutiert. Aber auch die von der EU-Kommission im April auf den Weg gebrachte umfangreiche Arzneimittelreform wird die Sozialversicherung noch länger beschäftigen. Die Diskussionen über die Verbesserung des Zugangs, die Bezahlbarkeit und die Verfügbarkeit von Arzneimitteln in der EU sind schwierig und von stark gegensätzlichen Interessen geprägt. Deswegen überrascht es auch nicht, dass die unterschiedlichen Positionen von Industrie und Kostenträgern recht schnell in den Debatten im EU-Parlament deutlich geworden sind.

Wie geht es weiter?

Grundlegende sozial- und gesundheitspolitische Entscheidungen werden auch in Zukunft vertragsgemäß bei den Mitgliedstaaten liegen. Dennoch ist davon auszugehen, dass sozial- und gesundheitspolitische Themen auf europapolitischer Ebene zunehmend an Bedeutung gewinnen werden. Sozial- und Gesundheitspolitik in Europa ist ein lebendiger Prozess und wird für unsere nationale Ebene immer wichtiger. Dieser Prozess muss stetig und eng begleitet werden. Der aktuellen spanischen und der kommenden belgischen Ratspräsidentschaft fällt die Aufgabe zu, thematisch Akzente für die zukünftige EU-Kommission zu formulieren. Beide Regierungen haben sich in ihrer Schwerpunktsetzung auf eine weitere Stärkung des Sozialen in Europa verständigt. Fragen des Zugangs zum Sozialschutz, wie beispielsweise die Altersvorsorgepflicht von Selbständigen stehen dabei im Zentrum. Es werden aber auch weitere Fortschritte bei der länderübergreifenden Digitalisierung der sozialen Sicherungssysteme angestrebt oder der besseren Versorgung der EU-Bürgerinnen und Bürger mit Arzneimitteln. Alle Mitgliedstaaten stehen vor den gleichen Herausforderungen: dem Klimawandel, dem demografischen Wandel und der Digitalisierung. Entsprechend müssen wir in Europa gemeinsam nach Antworten und Strategien suchen und dabei die sozialen Aspekte berücksichtigen.

 

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