Gastbeitrag von Tobias MaaßenZwischen Stagnation und Erneuerung: Deutschlands wirtschaftliche Perspektiven und EU-Länderspezifische Empfehlungen
Die länderspezifischen Empfehlungen der EU-Kommission für Deutschland rücken zentrale Weichenstellungen in den Fokus – auch der öffentliche Dienst wird gefragt sein.
Am 4. Juni 2025 hat die Europäische Kommission ihren diesjährigen Länderbericht zu Deutschland im Rahmen des Europäischen Semesters veröffentlicht. Der Bericht erscheint in einer Phase konjunktureller Schwäche, aber auch politischer Neuausrichtung: Die Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz hat sich zum Ziel gesetzt, die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland umfassend zu stärken. Die Europäische Kommission hat Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls als Kernanliegen für das aktuelle Mandat formuliert und entsprechende Initiativen vorgelegt. Es herrscht also Einigkeit. Doch wie decken sich die wirtschaftspolitischen Analysen und Zielsetzungen? Welche Politikfelder stehen dabei im Zentrum, wo gibt es Übereinstimmung – wo divergieren die Ansätze deutlich? Und wie sind vor diesem Hintergrund die länderspezifischen Empfehlungen der EU-Kommission an Deutschland im Rahmen des Europäischen Semesters 2025 zu bewerten?
Deutschland durchläuft eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation und hat wirtschaftlich nur sehr begrenzt von der Erholung nach der COVID-19 Pandemie profitiert. Als einzige große Volkswirtschaft in der EU, hat sie 2024 einen Rückgang verzeichnet. Die Gründe dafür sind nicht nur temporär, sondern auch struktureller Natur: Insbesondere die steigenden Energiepreise, der demographische Wandel und Fachkräftemangel, die Verschlechterung des internationalen Handels und der Aufstieg Chinas vom Abnehmer zum direkten Konkurrenten spielen eine Rolle. Diese Entwicklung wurde von niedrigen Investitionen flankiert, welche von 2019-2024 um 6,3 Prozent gesunken und niedriger als in allen anderen EU-Mitgliedstaaten sind.
Die finanzpolitische Kehrtwende vom März 2025 hat das Potential, das kurz- und langfristige Wachstum wieder anzukurbeln. Der Handlungsspielraum für öffentliche Investitionen in Infrastruktur auf Bundes- und Länderebene sowie in Verteidigung wurde erweitert. Zudem stehen Deutschland weitere Mittel aus der europäischen Aufbau- und Resilienzfazilität zu, sobald eine vollständige Umsetzung der vereinbarten Investitionen und Reformen nachgewiesen werden kann. Das würde weitere Mittel für die digitale und grüne Transformation der Wirtschaft bereitstellen. Zusätzlich zu diesen direkten Zahlungen aus dem EU-Topf profitiert die deutsche Volkswirtschaft maßgeblich von Aufträgen aus anderen EU-Mitgliedsländern, die mittels EU-Geldern finanziert werden. Die Verfügbarkeit öffentlicher Mittel ist jedoch lediglich eine Voraussetzung und noch nicht die Lösung für Deutschlands wirtschaftliche Misere. Mit einem durchschnittlichen Potentialwachstum von 0,5 Prozent pro Jahr liegt das Land weitere strukturelle Reformen notwendig macht.
Konvergenzen: Standortpolitik, Digitalisierung und Infrastruktur
Die Europäische Kommission und die Bundesregierung sind sich in zentralen Fragen der wirtschafts- und strukturpolitischen Modernisierung einig, etwa dass es eine Beschleunigung bei der Planung von Investitionsprojekten braucht, um den Abfluss von Investitionen aus öffentlicher und privater Hand zu verbessern. Die Bundesregierung hat dies mit konkreten Vorschlägen im Koalitionsvertrag untermauert und für 2025 ein Sofortprogramm Bürokratieabbau angekündigt, um Regeln und Dokumentationspflichten zu reduzieren und zu vereinfachen.
Bei der Erarbeitung der länderspezifischen Empfehlungen vergleicht die Kommission die Mitgliedsstaaten untereinander. Bei der Digitalisierung sticht Deutschland neben dem schleppenden Ausbau digitaler öffentlicher Dienste und mangelnde Interoperabilität zwischen Verwaltungsregistern auch die niedrige Verfügbarkeit von Glasfaser heraus. Die Bundesregierung hat sich dem Problem mit der Gründung des Ministeriums für Digitalisierung und Staatsmodernisierung angenommen.
Auch steuerpolitisch gibt es Überschneidungen: Die Analyse der Kommission kritisiert das deutsche Steuer- und Transfersystem für seine geringen Anreize zur Ausweitung der Arbeitszeit. Die Bundesregierung plant hier Entlastungen und will ebenfalls Anreize für Investitionen in Deutschland erhöhen.
Differenzen: Arbeitsmarktpolitik, Energiepreise, soziale Investitionen
Gleichzeitig bestehen klare Unterschiede in der Schwerpunktsetzung. Die Kommission betont die Notwendigkeit struktureller Investitionen in Bildung, Kinderbetreuung und Weiterbildung – insbesondere zur besseren Arbeitsmarktintegration von Frauen, Älteren und Menschen mit Migrationshintergrund. Zwar erkennt die Bundesregierung den Fachkräftemangel an, setzt jedoch bislang vorrangig auf steuerliche Anreize und Migration. Gleichzeitig ist aber noch unklar, welche Rolle Bildung und Betreuung beim Infrastrukturfond spielen werden. Nach Analyse der Kommission sollte zudem die unzureichende Verfügbarkeit früher Bildungsangebote und der Lehrkräftemangel stärker angegangen werden, um den grassierenden Fachkräftemangel zu bekämpfen.
In der Energiepolitik fordert die Kommission eine marktorientierte Strompreisgestaltung und den Abbau verzerrender und umweltschädlicher Subventionen. Die Bundesregierung hingegen setzt auf den Industriestrompreis und zusätzliche Netzentgeltentlastungen.
Fünf länderspezifische Empfehlungen der Kommission für Deutschland 2025: Eine Agenda für Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit
Die Analyse der EU-Kommission zeigt, dass die geringe Wachstumsdynamik, strukturelle Investitionsschwächen und der zunehmende Fachkräftemangel zentrale Herausforderungen darstellen. Sie hat im Rahmen des Europäischen Semesters länderspezifische Empfehlungen formuliert, die auf die zentralen strukturellen Schwächen der deutschen Wirtschaft antworten und auf eine Stärkung ihrer langfristigen Wettbewerbsfähigkeit zielen. Die Umsetzung dieser Empfehlungen ist aus Sicht der Kommission keine optionale Maßnahme, sondern ein notwendiger Schritt zur wirtschaftlichen Stabilisierung und Transformation.
1. Haushaltspolitische Steuerung und Effizienz verbessern
Trotz einer im europäischen Vergleich moderaten Schuldenquote bleibt der fiskalische Handlungsspielraum Deutschlands begrenzt. Grund hierfür ist eine über Jahre gewachsene Struktur der öffentlichen Ausgaben, bei der konsumtive Ausgaben (zum Beispiel laufende Kosten oder Transferleistungen) dominieren, während investive Ausgaben (zum Beispiel Bahn, Brücken, Schulen, oder Breitbandausbau) zurückfallen. Die Kommission empfiehlt daher eine strategische Neupriorisierung innerhalb der Haushalte: Eindämmung von Transfers (zum Beispiel in die Rentensysteme) und Stärkung von wachstumsfördernden Ausgaben. Zugleich sollten ineffiziente Subventionen überprüft und abgebaut werden. Nur durch eine konsequente Reallokation der Mittel lassen sich die Spielräume schaffen, die für den klimaneutralen Umbau, Digitalisierung und Bildung dringend benötigt werden. Dabei ist es elementar, dass die deutsche Finanzplanung die neu geschaffenen Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts einhält: Die Bundesregierung ist angehalten, bis Ende Juli ihren nationalen finanzpolitischen Plan vorzulegen.
2. Engpässe angehen und öffentliche Investitionen stärken
Die Verfassungsänderung und die Schaffung eines Sondervermögens war ein wichtiger Schritt, aber jetzt kommt es auf die konkrete und effektive Umsetzung an. Planungs- und Umsetzungskapazitäten auf kommunaler wie Landesebene wurden zu lange vernachlässigt. Der Erfolg der Investitionsoffensive hängt somit von verbesserten Verwaltungsstrukturen, digitalisierten Genehmigungsprozessen und strategischer Steuerung ab. Die Empfehlungen zielen daher nicht nur auf Geld, sondern auch auf Governance. Gerade der beschleunigte Ausbau der Energie- und Verkehrsnetze sowie von Bildungs- und Forschungsinfrastruktur sind eine Voraussetzung für den wirtschaftlichen Umbau. Die vollständige Umsetzung der Reformen und Investitionen aus der Aufbau- und Resilienzfazilität sowie der EU-Kohäsionsmittel können die Investitionsquote stärken und einen wichtigen Beitrag zu einer verbesserten Governance leisten.
3. Anreize zur Arbeitsaufnahme verbessern und Fachkräftesicherung ausbauen
Deutschland sieht sich in den kommenden Jahren mit einem starken Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung konfrontiert. Ohne ein Gegensteuern, wird das Wachstumspotenzial dauerhaft schrumpfen. Es braucht also eine umfassende Mobilisierung von Arbeitskräften: durch bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gezielte Weiterbildungsangebote, attraktivere steuerliche Rahmenbedingungen für Zweitverdienende sowie eine vereinfachte Anerkennung ausländischer Qualifikationen.
4. Marktorientierte und sozial ausgewogene Energiepreispolitik sicherstellen
Hohe und volatile Energiepreise gelten als Standortnachteil, insbesondere für die energieintensive Industrie. Übergangsmaßnahmen sind notwendig, sollten aber einem Ausbau der erneuerbaren Energien nicht im Wege stehen und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen weiter verringern. Dabei sollten laut Analyse der EU-Kommission effiziente und integrierte Energiesysteme gefördert und Stromnetze modernisiert werden. Nur durch einen kostenbewussten Umbau der Energieinfrastruktur kann Energie zugleich bezahlbar und klimaverträglich sein. Gleichzeitig sollen Preissignale im Markt erhalten bleiben, um Effizienz- und Einsparanreize zu erhalten. Insbesondere im Wohnungs- und Verkehrssektor sinken die Emissionen nicht schnell genug. Deutschland würde davon profitieren, die Dekarbonisierung zu beschleunigen und die Sanierung des Schienennetzes fördern.
5. Forschung und Innovation für zukünftiges Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit
Deutschland ist nach wie vor ein starker Akteur im Bereich Forschung und Innovation, sieht sich jedoch einem wachsenden globalen Wettbewerb gegenüber – dabei macht sich eine starke Abhängigkeit von Sektoren im mittleren Technologieniveau bemerkbar. Hier bieten sich die Förderung disruptiver Innovationen, die kommerzielle Verwertung von Forschung und verbesserte Finanzierungsbedingungen für Start- und Scale-Ups also Lösungen an. Vorübergehende Verbesserung der Abschreibungsoptionen und F&E-Steuergutschriften – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – können kosteneffiziente Wege sein, um Investitionen zu stimulieren. Weitere Anstrengungen, den Verwaltungsaufwand zu verringern, sind jedoch notwendig. Der Staat sollte seine Rolle als digitaler Dienstleister für Bürger und Wirtschaft stärken.
Implikationen für Staat und Verwaltung
Für den öffentlichen Dienst ergeben sich aus diesen Empfehlungen erhebliche Aufgaben. Die Ausweitung von Ganztagsangeboten, Investitionen in Bildung, Beschleunigung von Planungsverfahren, Digitalisierung der Verwaltung, Integration von Fachkräften – all dies ist ohne leistungsfähige Behörden auf kommunaler, Landes- und Bundesebene nicht zu leisten. Die Verwaltung sollte dies jedoch als Gelegenheit begreifen, interne Prozesse und Strukturen nicht nur zu digitalisieren, sondern auch zu modernisieren.
Gleichzeitig bietet die Umsetzung der Empfehlungen eine strategische Chance: Der Staat kann vom reaktiven Verwalter zum aktiven Treiber der sozial-ökologischen Transformation werden. Eine Verwaltung, die digital, gut ausgestattet und personell zukunftsfähig aufgestellt ist, wird zur zentralen Säule eines modernen, resilienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaftsmodells.