• Ein im Rollstuhl sitzende Frau hält vor Kolleginnen und Kollegen einen Vortrag und zeigt auf ein Flipchart, auf dem diverse Grafiken angepinnt sind.

Forum Inklusion und Teilhabe

Inklusiver Arbeitsmarkt: Gewinn für Wettbewerbsfähigkeit

dbb Chef Ulrich Silberbach fordert mehr Anstrengungen und bessere Bedingungen, damit Menschen mit Behinderung gleichberechtigt und selbstbestimmt am Arbeitsleben teilnehmen können.

Politik & Positionen

„Das Inklusionsverständnis der Arbeitgebenden orientiert sich viel zu häufig immer noch an den Teilhabebeeinträchtigungen der Menschen und wie man sie ‚fit für den Job‘ machen kann. Wir müssen aber vielmehr dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze entsprechend fit gemacht werden, damit Menschen mit Behinderung ihre Potenziale einbringen und wir damit alle gemeinsam einen wichtigen Schritt zur Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten können“, stellte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach zum Auftakt des 5. dbb Forum Inklusion und Teilhabe am 24. April 2023 in Berlin klar.

Mit einer Integration von Teilhabebeeinträchtigten in den ersten Arbeitsmarkt sei es nicht getan, „wir brauchen eine weitgehende Inklusion“, so Silberbach. Öffentliche, insbesondere aber auch private Arbeitgeber müssten noch stärker motiviert werden, vermehrt Menschen mit Behinderung einzustellen, „denn sie tragen mit ihren Fähigkeiten zum Unternehmenserfolg bei, wenn sie auf dem passenden Arbeitsplatz eingesetzt werden. Als Teil des Diversity-Managements in den Betrieben und Dienststellen sind die Ausbildung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung ein Gewinn für die Wettbewerbsfähigkeit und die Unternehmenskultur“, argumentierte der dbb Chef. Vor diesem Hintergrund sei der Anfang März erstmals im Bundestag beratene Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts zwar in Teilen zu begrüßen. „Insbesondere die vom dbb geforderte Erhöhung der Ausgleichsabgaben für Arbeitgebende, die trotz Beschäftigungspflicht keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, sollten für stärkere Beschäftigungsanreize sorgen. Ein Fehler ist es jedoch, dass künftig kein Bußgeld mehr verhängt werden können soll. Das birgt die Gefahr, dass Arbeitgebende sich von der Verpflichtung und gesellschaftlichen Aufgabe, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen, freikaufen können“, warnte Silberbach, denn von den etwa 173.000 Unternehmen in Deutschland, die gesetzlich verpflichtet sind, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Schwerbehinderung zu vergeben, kämen nur 40 Prozent dieser Verpflichtung nach. Hier müsse der Gesetzgeber dringend nachbessern, ebenso wie bei der im Koalitionsvertrag vereinbarten qualitativen und quantitativen Stärkung des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) im Sinne der betroffenen Beschäftigten.

Mit Blick auf den digitalen Wandel der Arbeitswelt betonte Silberbach, dass die Digitalisierung nicht die alleinige Antwort auf die Frage der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt sein dürfe. „Freilich eröffnen sich dadurch neue Chancen auf Beschäftigung für Menschen mit Behinderung. Digitale Technologien wie beispielsweise computergesteuerte Assistenz- und Tutorensysteme können neue Beschäftigungsfelder erschließen. Will man die Digitalisierung der Arbeitswelt aber tatsächlich als Treiber für eine stärkere Inklusion und Teilhabe am Arbeitsleben verstehen, müssen beeinträchtigungssensible Personalpolitik und Führung zwingend Anwendung finden. Alle Chancen und Risiken durch die Veränderung der Arbeitswelt aufgrund von Digitalisierung sind zu berücksichtigen, insbesondere auch die Vermeidung sozialer Isolation, die etwa durch eine Verlagerung des Arbeitsplatzes ins Homeoffice entstehen kann. Digitalisierung ist erst dann ein Gewinn, wenn sie für alle Kolleginnen und Kollegen wirklich zu einer Arbeitserleichterung führt und damit Personalressourcen für andere Aufgaben frei werden. Barrierefreie IT muss zwingend mitgedacht werden“, so Silberbach.

Höhere Ausgleichsabgabe soll für neue Beschäftigungsanreize sorgen

Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), wies in seinem Eingangsstatement darauf hin, dass es in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte bei der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt gegeben habe. „2019 waren immerhin schon 1,82 Millionen Menschen mit Behinderung in Beschäftigung“, erklärte er. In Folge der Corona-Pandemie seien die Zahlen allerdings wieder gesunken, das BMAS hoffe aber auf eine baldige Erholung. Dazu soll auch das jüngst im Bundestag verabschiedete Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts beitragen. Es sieht unter anderem vor, dass Arbeitgebende, die trotz Beschäftigungspflicht keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, künftig eine höhere Ausgleichsabgabe zahlen müssen. Für kleinere Arbeitgeber sollen dabei wie bisher Sonderregelungen gelten. „Ein Viertel der Unternehmen beschäftigen überhaupt keine Schwerbehinderten“, erklärte Schmachtenberg dazu. Von der höheren Ausgleichsabgabe erhoffe man sich hier neue Anreize.

Weiter erklärte der Staatssekretär: „Es wird eine Genehmigungsfiktion für Anspruchsleistungen des Integrationsamtes eingeführt, um Bewilligungsverfahren zu beschleunigen. Das heißt: Anträge gelten als genehmigt, über die das Integrationsamt nicht innerhalb von sechs Wochen entscheidet.“ Auch die Arbeit des Sachverständigenbeirats für Versorgungsmedizinische Begutachtung solle neu ausgerichtet werden: Unter anderem sollen zukünftig Betroffene als Expertinnen und Experten bei der Arbeit des Beirats besser berücksichtigt werden.

Schmachtenberg betonte, dass der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung insgesamt schwerfällig sei, daher könne es dauern, bis die Beschäftigungszahlen des Vor-Corona-Niveaus erreichen würden. An bewährten Instrumenten wie dem besonderen Kündigungsschutz wolle das BMAS aber auf jeden Fall festhalten. Außerdem gehe es der Bundesregierung – und so sei auch im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP festgehalten – darum, nicht nur wieder mehr Menschen mit Behinderung in Arbeit zu bekommen, sondern auch durch geeignete Maßnahmen dafür zu sorgen, dass diese lange in Arbeit bleiben können.

„Wir brauchen jede und jeden einzelnen“

Jürgen Dusel, seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, unkte zum Einstieg in seinen Impuls in einem humorvollen Vergleich: Die Abkürzung BMAS kenne man als Abkürzung für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Für ihn stehe dieses Akronym allerdings für „Barrieren machen alle sauer“. Es sei wichtig, diese Barrieren zu brechen, betonte Dusel. Die Bundesrepublik Deutschland habe sich schon vor 14 Jahren, mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention, dazu verpflichtet, das Recht auf Teilhabe am Arbeitsplatz für Menschen mit Behinderung und Schwerbehinderte zu bewahren. „Eigentlich eine Selbstverständlichkeit“, so Dusel. Für die letzten Jahre müsse allerdings festgestellt werden, dass Menschen mit Behinderungen weiterhin deutlich häufiger und länger arbeitslos seien. Daher sei es Aufgabe des Staates, tätig zu werden. Dusel rief die Bundesregierung dazu auf, Maßnahmen für mehr Integration und Inklusion unter Beachtung des Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention und Artikel 33 des Grundgesetzes zu ergreifen. Menschen mit Behinderung müssten sich darauf verlassen können, dass diese verbrieften Rechte auch bei ihnen ankämen. Nicht nur auf Papier, sondern vor allem in der praktischen Umsetzung. Anderenfalls kämen sich Menschen mit Behinderung und ihre Familien abgehängt vor, seien frustriert und vom Staat enttäuscht. „Im schlimmsten Fall laufen sie dann den politischen Kräften hinterher, die vermeintlich einfache Antworten auf die schwierigen Fragen geben“, warnte Dusel. Deshalb brauche die Demokratie auch die Inklusion.

Nicht nur in der freien Wirtschaft sieht der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung mit Blick auf den Integrationsstatus weiterhin erheblichen Nachholbedarf, sondern auch innerhalb des öffentlichen Dienstes. Dieser erfülle in einigen Bundesländern die Beschäftigungspflicht für Menschen mit Behinderung nicht. Dies sei nicht akzeptabel, denn dem Staat als Arbeitgeber käme eine wesentliche Vorbildfunktion zu, mahnte Dusel. So könne man nicht erwarten, dass es in der Privatwirtschaft anders läuft. Zudem sei die Inklusion von Mitarbeitenden mit Behinderung eine spürbare Abhilfe gegen den Personal- und Fachkräftemangel, insbesondere im öffentlichen Dienst. Dusel betonte, dass die Gruppe der schwerbehinderten Arbeitslosen deutlich qualifizierter sei als die Gruppe der Arbeitslosen ohne Behinderung. Außerdem seien Menschen mit Behinderung sehr engagiert, und es gebe keinen Arbeitsplatz in Deutschland, für den sie nicht qualifiziert genug wären, fügte er hinzu. Flankierend zur verstärkten Beschäftigung von Behinderten im ersten Arbeitsmarkt müsste ein nachhaltiges betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) etabliert werden, um die Menschen grundsätzlich länger in der Arbeit zu halten. Ein Rechtsanspruch auf Wiedereingliederung sei wünschenswert, so Dusel, „wir brauchen jede und jeden Einzelnen“, bekräftigte er. Nach drei Jahren Pandemie habe sich der Digitalisierungssprung in der Arbeitswelt durchaus als brauchbarer Effekt auch für die Integration von Menschen mit Behinderung erwiesen, gleichwohl gebe es auch hier noch Verbesserungsbedarf, vor allem hinsichtlich der Barrierefreiheit digitaler Anwendungen. „Barrierefreiheit ist ein Qualitätsstandard für ein modernes Land“, betonte Dusel.

Inklusionsverweigerer wirksam sanktionieren

Unter der Überschrift „Teilhabe am Arbeitsleben als Dauerbaustelle für die Gesetzgebung? Bundesteilhabegesetz war ein Anfang, Inklusion verlangt Fortsetzung!“ zeichnete Franz Josef Düwell, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht a.D., die verschiedenen Versuche der Politik seit 2016 nach, Schwerbehinderte besser in den Arbeitsmarkt zu inkludieren und ihre Teilhabe als Arbeitnehmende innerhalb von Unternehmen und Behörden zu stärken. Immer wieder habe es erneuter Nachbesserungen bedurft, um der Tendenz der Arbeitgeber, Schwerbehinderte frühzeitig aus dem Unternehmen auszugliedern und zwangszuverrenten, etwas entgegensetzen zu können. Insbesondere die Institution des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM), die dafür sorgen sollte, für die betroffene Person passende Tätigkeiten in Betrieb oder Dienststelle zu finden, habe lange Zeit nur im Einvernehmen mit dem Personalrat handeln können und kein verbindliches Mitbestimmungsrecht gehabt. Erst im Jahr 2021 sei die Teilhabe der Schwerbehinderten dadurch gestärkt worden, dass diesen beim BEM das Recht auf Hinzuziehung einer Vertrauensperson eigener Wahl zugestanden worden sei.

Ein Ärgernis ist es aus Düwells Sicht, dass die Beschäftigungsquote von Schwerbehinderten seit Jahren sinke und derzeit im privaten Sektor bei 3,9 und im öffentlichen Dienst bei 5,6 Prozent liege. Das jüngst von der Ampelkoalition vorgelegte Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes fördere Düwell zufolge Inklusionsverweigerer, weil es die Bußgeldvorschrift für Betriebe, die die Vorgaben zur Beschäftigungsquote nicht erfüllten, aufhöbe. „Das legalisierte Freikaufen ist ein Skandal!“, machte der Arbeitsrichter deutlich und forderte, dass Jobcarving, also die gezielte, individuelle Anpassung von Arbeitsplätzen auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse eines Schwerbehinderten, verpflichtend in das Gesetz aufzunehmen. Wer sich über Fachkräftemangel beklage, müsse dafür Sorge tragen, dass Fachkräfte auch arbeiten könnten. „Das setzt voraus, dass man die Menschen befähigt, bis 67 durchzuhalten“, unterstrich der Jurist und forderte von der Politik dreierlei für eine bessere Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderung: Die Praxis der Frühverrentung Schwerbehinderter wirksamer zu beschränken, es den Beschäftigten zu ermöglichen, Wiedereingliederung in den Betrieb zu verlangen, und Inklusionsverweigerer wirksam zu sanktionieren.

Inklusionsunternehmen besser unterstützen, Barrierefreiheit zum Standard machen

Eine aktuelle „Zwischenbilanz“ zogen die behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprechern der Bundestagsfraktionen bei ihrer Podiumsdiskussion. Im Fokus ihres Lagebilds stand der aktuelle Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts. Wilfried Oellers, Behindertenbeauftragter der oppositionellen CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fand in punkto Beschleunigung der Genehmigungsverfahren zwar durchaus lobende Worte für den Entwurf, „aber man hätte noch mehr vereinfachen können und müssen für die Inklusion praktizierenden Unternehmen“, diese sollten zudem etwa bei öffentlichen Auftragsvergaben bevorzugt behandelt werden, regte Oellers an. Sören Pellmann, Sprecher für Inklusion und Teilhabe der Fraktion Die Linke, kritisierte ebenso wie dbb Chef Silberbach die Streichung des Bußgelds für inklusionsverweigernde Unternehmen: „Das war ein Fehler.“ Wann werde nun evaluieren müssen, inwiefern die neue vierte Stufe der Ausgleichsabgabe, die Inklusionsverweigerer tragen sollen, den Wegfall der Sanktionierung kompensieren könne. Eine „glatte Eins“ dagegen gab es von Jens Beeck, dem teilhabepolitischen Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, für den Gesetzentwurf der Regierungskoalition. Seiner Auffassung nach sei das Bußgeld ohnehin wirkungslos gewesen, weil in der juristischen Praxis kaum erfolgreich durchsetzbar. Die neue Struktur der Ausgleichsabgaben werde mehr Budget für die Förderung von Inklusion auf dem Arbeitsmarkt generieren, die dann auch schneller als bislang bei den Inklusionsunternehmen ankommen werde, zeigt sich Beeck überzeugt. Das Gesetz werde „messbare Effekte auf den inklusiven Arbeitsmarkt“ haben. Optimistisch zeigte sich auch Angelika Glöckner, Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung der SPD-Bundestagsfraktion. Das Gesetz sei insbesondere mit Blick auf den Fachkräftemangel ein „großer Wurf“. Die neue vierte Stufe der Ausgleichsabgabe werde dafür sorgen, dass sich nur noch wenige Arbeitgebende „einen schlanken Fuß“ in Sachen Inklusion machen. Anreize seien besser als Sanktionen, so Glöckner. Linken-Politiker Pellmann kritisierte indes die steuerliche Absetzbarkeit der Ausgleichsabgabe als Betriebskosten. Insofern handele es sich doch um eine Art „Freikaufen“ von der verpflichtenden inklusiven Beschäftigung, „das hätte man im Steuerrecht glattziehen müssen“.

Verbesserungsbedarf sahen sowohl Wilfried Oellers als auch Jens Beeck bei der Beratung und Begleitung von Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen. So gebe es zwar seit etwa einem Jahr ausgewiesene Ansprechstellen auch für interessierte Unternehmen, doch noch fänden die Beteiligten diese nicht. „Das ist nicht die Form von Beratung und Begleitung, die gerade kleinere und mittlere Unternehmen brauchen“, kritisierte Oellers. Beeck forderte, administrative Probleme bei Gewährung von Zuschüssen zu beheben und betonte: „Jedes Matching bei der inklusiven Beschäftigung ist ein Win-Win – auch gesamtgesellschaftlich.“ Optimierungspotenzial stellten die Diskutierenden einhellig auch bei den Themen Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) und der generellen Barrierefreiheit fest. „Es muss gelingen, alle Beschäftigten gesundheitlich bis zur jeweiligen Regelaltersgrenze in der Vollbeschäftigung zu halten und sich nicht in die Erwerbsminderung zu verlieren“, unterstrich Angelika Glöckner. Für die Festlegung von Barrierefreiheit als generellem Standard für Gebäude, digitale Anwendungen, Verkehr und insbesondere auch den ÖPNV – plädierte Jens Beeck. „Sobald das Standard ist, wird jede Abweichung vom Standard automatisch teurer“ – dies sei mithin der schnellste Weg, Barrierefreiheit in vielen Bereichen herzustellen, so der FDP-Politiker.

dbb Vize Heiko Teggatz beschloss den ersten Veranstaltungstag mit einem starken Appell: „Wir als dbb mit all unserer Vielfältigkeit über alle Beschäftigtengruppen hinweg, egal, ob innere und äußere Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Finanzen, Infrastruktur oder Verwaltung – wir sind es, die sich verständigen und gemeinsam gegenüber Politik und Medien für unsere Rechte einstehen und kämpfen müssen. Vielfalt ist unsere Stärke, nur gemeinsam können wir die dicken Bretter wie Barrierefreiheit und Arbeitsmarktinklusion bohren.“

„Problemkind Heilungsbewährung“

Mit dem „Problemkind Heilungsbewährung“ eröffnete Marianne Schörnig, Fachanwältin für Sozialrecht, den zweiten Tag des Forum Inklusion und Teilhabe am 25. April 2023 und stieg mit ihrem Vortrag tief in die Materie der Schwerbehinderungsfeststellung ein. Die Heilungsbewährung spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Bemessung des Grades der Behinderung (GdB) und beschreibt einen Zeitraum nach der Behandlung von Krankheiten, in dem abgewartet werden muss, ob ein Rückfall eintritt – etwa im Fall von Transplantationen innerer Organe und vor allem nach bösartigen Tumorerkrankungen. Für die häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten sind in den „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“, nach denen sich die Integrationsämter bei der Feststellung des GdB richten, Anhaltswerte für den GdB während der Heilungsbewährungszeit angegeben. Während dieser Zeit wird ein höherer GdB zuerkannt als er sich aus der vorliegenden Behinderung ergibt. In der Regel umfasst die Heilungsbewährung einen Zeitraum von fünf Jahren nach Eintritt der Erkrankung. Nach Ablauf der Zeit der Heilungsbewährung wird der GdB neu bewertet. Soweit kein Rückfall feststellbar ist, wird regelmäßig ein niedrigerer GdB für die Zukunft festgesetzt. Dies ist häufig auch dann der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand nach Ablauf der Heilungsbewährung gar nicht geändert hat. Hier setzte die Sozialrechtsexpertin Schörnig mit ihrer Kritik an: Zum einen werde recht häufig übersehen, dass durch die Behandlung andere Erkrankungen aufgetreten sind, die mit dem Hauptleiden nicht deckungsgleich sind. Oder es werde vergessen, dass bereits vor der Erkrankung ein Grad der Behinderung wegen völlig anderer Erkrankungen vorhanden war. Dieser falle dann „unter den Tisch“, obgleich es höchst unwahrscheinlich sei, dass diese Erkrankungen während einer Heilungsbewährung „verschwinden“.

Problematisch sei die rein physische Betrachtungsweise der Heilungsbewährung. Deren Ziel ist erreicht, wenn die betreffende Erkrankung nicht erneut auftrete. Der erhöhte Grad der Behinderung werde jedoch auch wegen der psychischen Belastung während der Dauer der Heilungsbewährung vergeben, und diese erledige sich erfahrungsgemäß nicht „von heute auf morgen“. In der Regel blieben vielmehr Ängste und Depressionen, oft jahrelang, und wögen oft sogar schwerer als die überstandene Krankheit selbst. Schörnig riet Betroffenen, bei der Überprüfung der Heilungsbewährung, die die Behörden etwa ein Jahr vor deren Auslaufen durchführen, wachsam zu sein und sich erforderlichenfalls gegen eine Herabsetzung des GdB zu wehren.

Einen ausführlichen Blick widmetet Schörnig auch den mittlerweile Jahrzehnte währenden Versuchen, die Heilungsbewährung innerhalb der Versorgungsmedizinischen Grundsetze gesetzlich konkret zu verankern. Bislang seien alle Ansätze und Gesetzentwürfe hierzu wieder „in der Schublade verschwunden“ – der aktuell vorliegende Referentenentwurf, zu dem Schörnig Stellung nahm, stammt aus dem Jahr 2018 und ist der sechste in der bislang erfolglosen Serie. Immerhin definiere dieser Ansatz die allgemeinen Grundsätze und Ziele der Heilungsbewährung, bleibe dann aber in vielen Punkten ungenau und schließe mit einer Aufzählung der jeweiligen Heilungsbewährungs-Zeiträume nach einzelnen Krankheiten zahlreiche in der Praxis durchaus relevante Erkrankungen aus. Zudem sieht er eine Befristung der GdB-Feststellung vor. Damit würde eine Schwerbehinderung automatisch zu einem Stichtag X enden und mit ihr sämtliche Schutzrechte für die betroffene Person, falls sie sich nicht rechtzeitig selbst proaktiv um eine Verlängerung bemüht hat. Dies sei eine Zumutung für Menschen mit Schwerbehinderung, kritisierte Schörnig, und widerspräche zutiefst dem Entlastungs- und Schutzgedanken, aus dem heraus ein GdB für Betroffene und damit eine verbindliche Rechtsposition überhaupt festgestellt werde. Folgerichtig hätten vor allem die Sozialverbände auch gegen diesen Gesetzentwurf massive Einsprüche vorgebracht, weswegen es mutmaßlich auch hier nicht zu einer Weiterentwicklung kommen werde, so die Prognose der Juristin.

„Wer nichts tut, der diskriminiert – auch im Dienstrecht“

Stephan Rittweger, der seit 2010 Vorsitzender Richter am Bayerischen Landessozialgericht ist, stellt in seinem Vortrag aktuelle Urteile aus dem Behinderten- und Sozialrecht vor. Dabei ging er insbesondere auf den unterschiedlichen Behinderungsbegriff in der nationalen und der europäischen Rechtsprechung ein. Durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK), die sowohl in der Europäischen Union als auch in Deutschland geltendes Recht sei, habe es hier es hier gerade in anderen EU-Staaten deutliche Fortschritte gegeben, wie er anhand von Entscheidungen aus Spanien und Estland deutlich machte. „Dagegen ist der Begriff der Behinderung bei uns in der deutschen Rechtsprechung geradezu ein Anachronismus“, so die Einschätzung von Rittweger. Der wesentliche Unterschied: Der Europäische Gerichtshof (EuGH), dessen Beurteilungen den Entscheidungen aus Spanien und Estland zugrunde lagen, definiert den Begriff der Behinderung sowohl personenbezogen als auch arbeitsplatzbezogen. In der Konsequenz ergebe sich daraus, dass an Arbeit- beziehungsweise Dienstgebende viel höhere Erwartungen gestellt werden, um Menschen mit Behinderung in einem Arbeitsverhältnis zu halten. Sie müssten dafür geeignete Maßnahmen ergreifen. „Wer nichts tut, der diskriminiert – auch im Dienstrecht“, fasste der Richter diesen Richtungswechsel in der Rechtsprechung zusammen. Vor diesem Hintergrund forderte Rittweger von seinen deutsche Kolleginnen und Kollegen, nicht auf höchstrichterliche Entscheidungen von den obersten Gerichten in Deutschland zu warten, sondern entsprechende Fälle schon in der ersten Instanz dem EuGH vorzulegen, um diese Entwicklung abzubilden.

Von barrierefreier IT profitieren alle

Erdmuthe Meyer zu Bexten ist seit 2018 die Beauftragte der Hessischen Landesregierung für barrierefreie IT und leitet seit 2021 das Landeskompetenzzentrums für barrierefreie IT Hessen (LBIT). Als Vorreiter seiner Art hilft das LBIT, die Internetauftritte öffentlicher Institutionen und Behörden so barrierefrei wie möglich zu gestalten. Dafür stellt das LBIT verschiedene Services zur Verfügung, beispielsweise Werkzeuge und Checklisten für den Selbsttest. Zusätzlich zu den Hilfestellungen zur barrierearmen Gestaltung von Websites wird das LBIT auch in Verwaltungsprozesse mit einbezogen, um die Digitalisierung der Verwaltung von vornherein barrierearm, wenn möglich barrierefrei zu gestalten. Meyer zu Bexten betonte dabei, dass dies sowohl für Internet- als auch für Intranet-Services gelte – oft werde nicht bedacht, dass Teilhabe nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für behinderte Beschäftigte gilt.

Meyer zu Bexten unterstrich, dass Barrierefreiheit alle angeht: „Barrierefreie IT bedeutet nichts anderes als die uneingeschränkte Zugänglichkeit zur IT für alle Menschen unabhängig von ihren Einschränkungen. Auch ohne eine Schwerbehinderung sind beinahe alle von uns mal mehr oder mal weniger eingeschränkt – was ist zum Beispiel, wenn ich meine Brille nicht habe oder mir in den Finger schneide? Von Barrierefreiheit profitieren wir alle.“ Obwohl sich in den letzten Jahren bereits viel in Richtung barrierefreie IT bewegt hat, machte Meyer zu Bexten deutlich, dass der Prozess ohne Frage ein langer sei und es kaum vorkomme, dass ein Internetauftritt komplett barrierefrei sei. Das sollte allerdings niemanden davon abhalten, weiterhin Barrierefreiheit anzustreben, so ihr Appell.

„dbb – die Barrieren-Brecher“

Ein positives Fazit zum Abschluss der Tagung zog Frank Richter, stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgruppe Inklusion und Teilhabe des dbb. Anlass zur Freude sei die Feststellung, dass sich in Sachen Inklusion und Teilhabe insbesondere politisch Einiges getan habe im vergangenen Jahr. Richter griff die Interpretation der Abkürzung „dbb“ von Jürgen Dusel, dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, auf, die dieser am Tag zuvor geprägt hatte: „‘dbb – die Barrieren-Brecher‘. Genau so sollten und werden wir uns auch künftig verstehen“, bekräftigte Richter.

Hintergrund

Am 24. und 25. April 2023 veranstaltete der dbb sein mittlerweile 5. dbb Forum Inklusion und Teilhabe unter der Überschrift  „Inklusiver Arbeitsmarkt: Pandemie als Katalysator?“. Zahlreiche hochkarätige Referentinnen und Referenten diskutierten im barrierefreien dbb forum berlin, wie es in Zeiten des Fachkräftemangels gelingen kann, die Potenziale von Menschen mit Teilhabebeeinträchtigungen besser zu heben und in den Arbeitsmarkt einzubinden, u. a. Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Franz Josef Düwell, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht a.D., Stephan Rittweger, Vorsitzender Richter am Bayerischen Landessozialgericht, Erdmuthe Meyer zu Bexten, Hessische Landesbeauftragte für barrierefreie IT, und die behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Bundestagsfraktionen. Der dbb ist mit seinen rund 1,3 Millionen Mitgliedern eine wichtige Stimme der Menschen mit Behinderung im öffentlichen Dienst. Zahlreiche Schwerbehindertenvertreterinnen und -vertreter sowie Personalrätinnen und Personalräte aus den Reihen der dbb Mitgliedsgewerkschaften kämpfen in den Dienststellen, Behörden und Betrieben täglich für eine Verbesserung der Teilhabe und Rechte von Menschen mit Behinderungen.

 

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