Sorge um den Rechtsstaat
Im Jahr 2015 habe ich mich entschieden, dem EWSA die Erarbeitung einer Initiativstellungnahme vorzuschlagen, da die Sorge um die Lage der Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der demokratischen Grundsätze und der Menschenrechte innerhalb der EU bereits damals groß war.
Von José Antonio Moreno Díaz
In dieser 2016 vom EWSA verabschiedeten Stellungnahme wurde nicht nur vorgeschlagen, eine horizontale und breit angelegte Debatte über die Rechtsstaatlichkeit in der EU anzustoßen, sondern auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, – in diesem Fall von der Zivilgesellschaft ausgehende – gemeinsame Überlegungen anzustellen. Gleichzeitig wurde die Einrichtung institutioneller Mechanismen gefordert, um die Menschenrechte und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in der EU zu überwachen.
Infolge dieser Überlegungen kam der EWSA überein, eine Temporäre Gruppe „Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit“ (englische Abkürzung: FRRL) einzurichten. Dabei stützte er sich auf den umfassenden Konsens innerhalb des EWSA darüber, dass das Handeln der Regierungen einiger EU-Mitgliedstaaten, aber auch gemeinsame, in der gesamten EU verbreitete Risiken und Spannungen eine Bedrohung darstellen.
Seit ihrer Einrichtung im Juli 2018 hat die FRRL sowohl mit der Kommission als auch mit dem Rat und mit der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (englische Abkürzung: FRA) eine intensive institutionelle Tätigkeit entwickelt, und seit den Wahlen zum Europäischen Parlament arbeitet sie eng mit dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlaments zusammen. Folgerichtig ist die entsprechende Zusammenarbeit mit dem finnischen Ratsvorsitz in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 dank der Tatsache, dass er Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zur politischen Achse seiner Agenda gemacht hat, ebenfalls sehr eng.
Im Rahmen der Konzipierung des Arbeitsplans der FRRL haben wir seit September 2018 drei Maßnahmen eingeleitet:
- die Intensivierung der institutionellen Kontakte;
- die Förderung der Vernetzung mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowohl in den Herkunftsländern als auch auf EU-Ebene in Brüssel, um eine Kultur des Dialogs und des gegenseitigen Vertrauens zu unterstützen, die nicht nur eine gemeinsame Analyse, sondern auch den unmittelbaren Kontakt – in Echtzeit – ermöglicht;
- die Erleichterung des direkten Kontakts mit den in den verschiedenen Ländern an vorderster Front und an der Basis tätigen Organisationen und die Durchführung von Informationsreisen in alle EU-Mitgliedstaaten: bisher gab es Besuche in Rumänien, Polen, Ungarn, Frankreich, Österreich und Bulgarien, und bis Ende des Jahres werden wir nach Italien reisen. 2020 sollen die Informationsreisen fortgesetzt werden.
Bei den Besuchen wurden wir auf verschiedenen Ebenen mit schwierigen Situationen konfrontiert. Die Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit scheinen in Bezug auf die Bereiche, in denen sie vorkommen, ein gemeinsames Muster zu haben: Bedrohung der beziehungsweise direkte Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, Beschränkungen der Informationsfreiheit und/oder Angriffe auf die Medien, Schikanieren zivilgesellschaftlicher Organisationen, Beschneidung der Grundrechte wie zum Beispiel der Versammlungsfreiheit oder des Demonstrationsrechts, Verstöße gegen die Rechte von Minderheiten oder bestimmten sozialen Gruppen wie etwa Frauen, Ausländer, ethnische Minderheiten.
Natürlich unterscheidet sich die Sichtweise der Organisationen vor Ort stark von derjenigen, die die Vertreter der verschiedenen Regierungen zu vermitteln suchen, obwohl sich bis jetzt alle Regierungen – mit mehr oder weniger gutem Willen und mehr oder weniger hochrangigen institutionellen Vertretern – mit den Teilnehmern unserer Informationsreisen getroffen und versucht haben, ihre Standpunkte zu rechtfertigen.
Der EWSA ist eine beratende Einrichtung, aber sein großer Mehrwert besteht darin, dass er der organisierten Zivilgesellschaft auf EU-Ebene eine Stimme verleiht: Wir begrüßen es, dass der EWSA bei der Debatte über die Menschenrechte und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in der EU – wie auch in anderen Bereichen – eine führende Rolle spielt und dass wir diese Debatte weiterhin fördern.
Als die Kommission im April 2019 ihr Diskussionspapier zu der Frage vorlegte, wie sich die Menschenrechte und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in der EU stärken lassen, hatte der EWSA bereits fast ein Jahr lang effektiv gearbeitet und seine Analyse aus der sozialen Perspektive begonnen: Dadurch konnten in dem im Juli 2019 veröffentlichten endgültigen Kommissionsdokument verschiedene Bemerkungen aus der Stellungnahme des EWSA zu dieser Mitteilung berücksichtigt werden.
Die FRRL begrüßt dieses Dokument, sieht es allerdings als einen ersten Schritt an, auf den weitere folgen müssen. So ist auf die mangelnde Selbstkritik der EU-Organe und insbesondere der Europäischen Kommission bezüglich der Frage hinzuweisen, wie es zu dieser, in einigen Ländern besonders akuten Situation kommen konnte: Warum wurde nicht früher gehandelt? Oder sogar: Warum wurde nicht besser und effizienter reagiert?
Ein weiterer Aspekt, den die FRRL hervorheben muss, ist das Fehlen konkreter Vorschläge, Maßnahmen und Instrumente, die dazu beitragen können, durch wirksame politische Arbeit die Menschenrechte zu verteidigen und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in der EU zu fördern.
Ausgehend von diesem Dokument und unter Bezugnahme auf die drei von der Kommission vorgeschlagenen Interventionsbereiche kommt der FRRL sowohl bei der Förderung einer Kultur der Menschenrechte und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit in der EU als auch bei der Prävention und Aufdeckung von Handlungen und/oder Situationen in den verschiedenen Mitgliedstaaten, die zu Angriffen oder Verletzungen der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in der EU führen können, ganz eindeutig eine Rolle zu.
Die Herausforderungen ergeben sich somit daraus, dass bisher nicht reagiert wurde und dass die in einigen EU-Mitgliedstaaten bereits bestehende Situation, ohne ein entschlossenes, wirksames und proaktives Vorgehen der EU-Organe, andere Staaten angesichts der – bisher – fehlenden Ahndung dazu verleiten könnte, die gleichen Angriffe zu unternehmen.
Eine weitere Herausforderung besteht darin, die Debatte über Menschenrechte und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in der EU in eine für die Bürger verständliche Sprache zu „übersetzen“: Wir dürfen nicht den Fehler begehen, aus allem technische, terminologische oder rechtsphilosophische Fragen zu machen. Es muss dafür gesorgt werden, dass die Bürger wissen, welche Rechte sie haben und was Rechtsstaatlichkeit bedeutet: Nur was man kennt, kann man verteidigen.
José Antonio Moreno Díaz ist spanischer Menschenrechtsanwalt und als Mitglied im Europäischen Wirtschafts– und Sozialausschuss (EWSA) Vorsitzender der temporären Gruppe „Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit“. Im November 2019 wurde einen Interimsbericht der Gruppe veröffentlicht.