Aktiv im Ruhestand – die Juni-Ausgabe ist da
Erst der Schock, dann die Hoffnung
Anlässlich des Welthirntumortags am 8. Juni haben wir bei einem Patienten und einem Hirntumorspezialisten nachgefragt, wie sich die Diagnose verkraften lässt.
Es waren die kleinen Zeichen, damals im Jahr 2023. Wie so oft saßen Sohn und Enkelkind im Garten von Jürgen Schmidt und seiner Frau. Ein schönes Familientreffen in Idar-Oberstein. Doch dieses Mal lag irgendetwas in der Luft. „Papa, du bist so anders“, sagte der Sohn. Was meinte er bloß? Der 84-Jährige fühlte sich gut. Da war nichts! „Doch“, sagte auch seine Frau, „du bist so ruhig, gar nicht mehr aktiv.“ Und dann sah das Enkelkind den hängenden Mundwinkel beim Opa.
„Das sieht leider nicht gut aus“
Aufregung machte sich breit im Garten. Ein Schlaganfall vielleicht? Die Familie brachte Jürgen Schmidt sofort in die Notaufnahme. Dort war der Verdacht zwar schnell vom Tisch. Dennoch sagte der Arzt: „Das sieht leider nicht gut aus.“ Er meinte damit die MRT-Bilder aus dem Inneren des Kopfes von Jürgen Schmidt. Sie zeigten etwas, „das dort nicht hingehört“. Ein Tumor vermutlich. Der erste Schock. Und die bange Frage: gut- oder bösartig? Um das herauszufinden, wurde Jürgen Schmidt eine Gewebeprobe entnommen. An den Satz des Arztes im Auswertungsgespräch kann sich Schmidt genau erinnern: „Ich muss Ihnen leider sagen, dass der Tumor bösartig ist.“ Der zweite Schock. Aber es kam noch schlimmer: „Es handelt sich um ein Glioblastom.“
Glioblastom. Niederschmetternder kann eine Diagnose kaum sein. „Es handelt sich dabei um einen nicht heilbaren Hirntumor, der sich aus hirneigenen Zellen, wahrscheinlich den sogenannten Gliazellen des Gehirns entwickelt“, erklärt Prof. Martin Glas, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Neuroonkologie am St. Marien Hospital in Lünen. „Nach der Diagnose haben die Erkrankten eine mittlere Überlebenszeit von nur 15 bis 25 Monaten. Die Erkrankung verläuft aber sehr unterschiedlich, sodass wir manchen Patienten auch deutlich besser helfen können.“ Hauptsächlich betroffen seien ältere Menschen – aber auch Kinder und jüngere Erwachsene könnten daran erkranken.
Das Glioblastom, der häufigste unter den bösartigen hirneigenen Tumoren, ist eine Unterform aus der Gruppe der Hirntumore. Etwa 30.000 Neuerkrankungen werden im Jahr in Deutschland festgestellt – bösartige, gutartige Tumore sowie Hirnmetastasen zusammengenommen. „Im Vergleich zu Brustkrebs- oder Prostatakrebsdiagnosen ist diese Zahl zwar etwas geringer, aber nicht weniger beachtenswert“, sagt der Arzt. „Ein Hirntumor bedroht die Schaltzentrale unseres Körpers.“ Glücklicherweise ließen sich viele der Tumore therapieren – etwa durch eine OP, Bestrahlungen, Chemotherapie oder elektrische Wechselfelder. Neuerdings werden auch immuntherapeutische Ansätze geprüft. All diese Ansätze sind auch Mittel der Wahl bei einem Glioblastom. „Hier geht es allerdings nicht um Heilung, sondern darum, die Lebensqualität der Patienten zu erhalten und ihre Lebensdauer zu verlängern“, erklärt Hirntumorexperte Glas.
Angehörige als wichtige Stütze
Leben verlängern, nicht heilen können. Botschaften, die Jürgen Schmidt aus Idar-Oberstein erst einmal verkraften musste. „In dieser Zeit war meine Familie die größte Stütze“, sagt er. Ihre Liebe und Zuneigung hätten ihn gestärkt für alles, was kommt. „Die Unterstützung durch Angehörige ist äußerst wichtig“, betont auch Professor Glas. Und zwar von Anfang an. „Wir empfehlen unseren Patienten, direkt zur ersten Befundbesprechung eine vertraute Person dabei zu haben. In der Regel nehmen Erkrankte nach der schlimmen Diagnose sicherlich nicht mehr als fünf Prozent des Gesagten auf. Es ist gut, wenn jemand an ihrer Seite ist.“ Und auch in der Zeit nach der Diagnose seien Angehörige eine wertvolle Stütze, um beispielsweise gemeinsam wichtige Therapieentscheidungen zu treffen.
So erging es auch Jürgen Schmidt. Er habe schnell erkannt: Die Familie erkrankt mit. „Die Belastung liegt nicht nur auf den Betroffenen.“ Und das bestätigt auch Professor Glas. „Bei einer solch schweren Diagnose dürfen wir die Angehörigen nicht vernachlässigen. Wer Bedarf hat, erhält psychologische Unterstützung und kann sich beispielsweise auch in Angehörigengruppen austauschen.“ Wichtig sei, die eigenen Sorgen auch tatsächlich kundzutun, um von solchen Hilfen profitieren zu können.
Jedes gewonnene Lebensjahr ist wertvoll
Jürgen Schmidt und seine Frau stärkten sich gegenseitig. Sie vergruben die Köpfe nicht im Sand, sondern trafen gemeinsam Entscheidungen – und zwar für eine in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannte, aber längst etablierte Therapie: den Einsatz von sogenannten Tumortherapiefeldern (TTFields), eine Behandlung mit elektrischen Wechselfeldern. Dafür klebt Jürgen Schmidts Frau zwei- bis dreimal wöchentlich vier Elektroden auf die rasierte Haut seines Kopfes – für mindestens 18 Stunden täglich verbleiben sie dort und tun ihre Arbeit: Sie setzen den Tumor einem elektrischen Wechselfeld aus und stören damit die Zellteilung. Bestenfalls gehen die Tumorzellen dadurch kaputt. Studien zeigen: Patienten können damit eine längere Lebenszeit erreichen. Jürgen Schmidt ist sehr zufrieden mit seiner Therapiewahl. „Anstrengend und zeitaufwendig ist es“, sagt er. Aber: Die Behandlung gebe ihm Hoffnung für die Zukunft. „Ich lebe schon länger, als man mir vorausgesagt hat“, sagt er. „Was für ein Geschenk!“
Dass die Tumortherapie große Fortschritte macht, betont auch Mediziner Glas.
„Wir können den Menschen heute schon deutlich besser helfen als vor zehn Jahren. Es gibt Einzelfälle, die mit einem Glioblastom sogar noch zehn Jahre nach der Diagnosestellung leben. Das ist enorm“, sagt er. Und selbst wenn es durch eine Therapie nur zwei Jahre mehr seien, sei dies „substanzielle Lebenszeit“, die für die Betroffenen unglaublich wertvoll sei.
Frühe Warnzeichen ernst nehmen
Um immer besser zu werden in der Behandlung von Hirntumoren, brauche es jedoch zukünftig noch größere Anstrengungen. „Die Krankheit erhält noch nicht die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft, die sie braucht“, sagt Professor Glas. „Wir benötigen beispielsweise eine gute Aufklärung und seriöse Informationen, damit Patienten frühe Warnzeichen ernst nehmen und sich untersuchen lassen.“ Diese frühen Warnzeichen – eindeutig sind sie allerdings nicht. Wer aber beispielsweise plötzlich einen epileptischen Anfall erleidet, nicht mehr gut sprechen kann und Kopfschmerzen entwickelt, die in dieser Form noch nie aufgetreten sind, sollte diese Symptome ernst nehmen und sich unbedingt untersuchen lassen, betont der Hirntumorexperte. Zumal es keine Früherkennungsprogramme für die Erkrankung gebe – so wie bei Brust- oder Darmkrebs zum Beispiel.
Notwendige Aufklärung und Vernetzung
Einen weiteren Wunsch hat Martin Glas: „Wir müssen mehr zusammenarbeiten.“ Er meint damit die behandelnden Ärzte, Forschergruppen, Patientenorganisationen, Pressevertreter sowie Vertreter aus der Industrie, aber natürlich auch die Betroffenen selbst. „Es ist wichtig, dass wir wirklich an einem Strang ziehen und nicht nebeneinanderher arbeiten.“ Eigens für dieses Ziel hat Martin Glas die Initiative „Gemeinsam gegen Glioblastom“ gegründet. Sie gehört zur gemeinwohlorientierten Patientenbewegung yeswecan!cer und dem Deutschen Innovationsbündnis Krebs & Gehirn e. V. Auf deren Webseiten finden Betroffene Informationen rund um die Erkrankung. Zudem haben sie dort die Möglichkeit, sich untereinander zu vernetzen.
Jürgen Schmidt schätzt sich heute glücklich, dass er frühzeitig in die Notaufnahme des Klinikums Idar-Oberstein gekommen ist. Er hat das Gefühl, dass er sowohl von seinem behandelnden Facharzt, dem Neurochirurgen Dr. Jochen Tüttenberg, als auch dem Chefarzt der Neurologie, Dr. Martin Eicke, ausgezeichnet behandelt worden ist. Stand doch Tüttenberg stets für ein Gespräch zur Verfügung. „So war ich über den Stand meiner Erkrankung, Behandlung und Therapieformen immer bestens informiert“, erzählt Schmidt dankbar. Gemeinsam mit seinem Vorgesetzten baue Tüttenberg zudem „ein Netzwerk zum Wohle seiner Patienten“ auf. Als Patient sieht Schmidt durch dieses Vorgehen den exzellenten Ruf des Krankenhauses auch über die direkte Umgebung Idar-Obersteins hinaus bestätigt.
Und seine gesamte Familie freut sich über die Angebote zur Vernetzung mit anderen betroffenen Patienten und ihren Angehörigen, auch wenn sie sie derzeit noch nicht in Anspruch nimmt. Jürgen Schmidt fühlt sich gut umsorgt und aufgefangen von seiner Frau, seinen Söhnen, Schwiegertöchtern und von seinen fünf Enkeln. Und auch seine Familie schaut voller Zuversicht in die Zukunft. Haben sie einen Wunsch? Ja, natürlich: „Noch viele gemeinsame Tage im Garten erleben.“ Und das wünschen wir der Familie auch! Sandra Arens
Informationen über Symptome von Hirntumoren und Kontakte zu kompetenten Ansprechpartnern finden Sie untenstehend.