Umweltschutz als öffentlich-rechtliche Aufgabe
Der Zustand der biologischen Vielfalt weltweit und in der EU ist alarmierend und erfordert dringendes Handeln. Rund ein Viertel der bekannten Tier- und Pflanzenarten sind bedroht, davon die Hälfte stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht. Die 2020 vorgestellte EU-Biodiversitätsstrategie bildet einen zentralen Teil des Europäischen Grünen Deals und lässt auf Weichenstellungen hin zu einem integralen Biodiversitätsschutz in allen Politikbereichen hoffen. Ende dieses Jahres wird in diesem Zusammenhang der Kommissionsvorschlag für einen EU-Plan zur Renaturierung erwartet.
Trotz bereits bestehender, umfassender und bindender EU-Gesetzgebung im Bereich des Umweltschutzes mangelt es an der nötigen Umsetzung und vor allem Durchsetzung dieser Richtlinien. So sind die durch die FFH- und die Vogelschutz-Richtlinie etablierten Natura 2000-Schutzgebiete wichtige Refugien für bedrohte Arten. Doch ihr Schutzzweck wird wegen fehlender Managementpläne, ungenügender Pflege und Erlaubniserteilungen für umweltschädliche wirtschaftliche Aktivitäten häufig nicht erfüllt.
Die Europäische Kommission muss Verstöße gegen das europäische Umweltrecht konsequent durch Vertragsverletzungsverfahren ahnden, illegale Aktivitäten in Schutzgebieten möglichst früh verhindern und entsprechende Urteile des Europäischen Gerichtshofs stärker kontrollieren. Nur so kann das in der EU-Biodiversitätsstrategie formulierte Ziel, mindestens 30% der Land- und Meeresgebiete unter Schutz zu stellen, nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität erreicht werden.
Egal auf welcher Politik- oder Verwaltungsebene: Umweltschutz muss über Zuständigkeitsgrenzen hinweg gedacht werden. Wandernde Arten wie die Europäische Wildkatze brauchen Korridore. Deshalb müssen Schutzgebiete weiter vernetzt werden und ein konsequenter Austausch zwischen benachbarten Behörden erfolgen. Je größer das Schutzgebiet, desto besser ist seine Schutzfunktion. Einen wichtigen Beitrag kann hierbei das Europäische Grüne Band leisten, das dem Verlauf des Eisernen Vorhangs durch 24 europäische Länder folgt. Eine konsequente Unterschutzstellung des Grünen Bands stellt eine wertvolle Chance für die Artenvielfalt dar. Aktuell wird es jedoch zunehmend von Infrastrukturprojekten, landwirtschaftlichen Flächen und Siedlungen zerschnitten.
Die vorhandenen Schutzgebiete reichen allerdings bei Weitem nicht aus, um das Artensterben aufzuhalten und müssen europaweit verdoppelt werden. Insbesondere der Erhalt der noch vorhandenen Moore und die Wiedervernässung trocken gelegter Feuchtgebiete würden viele Insektenarten, wie beispielsweise die Zwerglibelle, vor dem Aussterben bewahren. Aufgrund der klimapolitischen Bedeutung von Mooren als Kohlenstoffspeichern könnte somit ein maßgeblicher Beitrag zu klimapolitischen Zielen geleistet werden. Und last but not least sind Moore unsere Verbündeten in der Anpassung an den Klimawandel, denn sie puffern Starkregen ab und sorgen durch Verdunstung für lokale Abkühlung. Deshalb fordere ich die Europäische Kommission auf, eine eigene EU-Moorstrategie aufzusetzen.
Durch die Ausweisung von Schutzgebieten allein kann Umwelt nicht geschützt werden. Es braucht auch Erhaltungs- und Entwicklungsmaßnahmen, die üblicherweise in Managementplänen festgelegt werden. Gerade dieser Bereich funktioniert in Deutschland leider unzureichend, sodass die Europäische Kommission, nach einem erfolglosen Aufforderungsschreiben 2015 und langwierigen Gesprächen, im Februar 2020 rechtliche Schritte gegen die Bundesrepublik eingeleitet hat. Die Frist für die Festlegung notwendiger Schutzmaßnahmen ist in einigen Fällen sogar vor mehr als zehn Jahren abgelaufen. Deutschland muss seine Verpflichtungen zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen endlich erfüllen! Kommt Deutschland der Aufforderung nicht nach, wird die Kommission den Fall an den Gerichtshof der Europäischen Union verweisen.
Die Umsetzung konkreter Schutzmaßnahmen erfolgt durch Naturschutz- oder Agrarumweltprogramme sowie Artenschutz- und Biotoppflegemaßnahmen, welche auf lokaler oder regionaler Ebene durchgeführt werden. Das Erfolgsgeheimnis hierbei ist eine gute Zusammenarbeit mit Flächeneigentümern und -nutzern sowie die Beteiligung von Bevölkerung, Verbänden und Interessengemeinschaften. Tatsächlich ist die Nutzung von Natura 2000-Gebieten kein Tabu. Viele Biotope in Europa haben sich grade erst durch die menschliche Bewirtschaftung entwickelt, beispielsweise die Heidelandschaften in Norddeutschland, die es ohne Schafe und Schäfer nicht gäbe. Sofern Arten und Lebensräume also nicht beeinträchtigt werden oder sogar profitieren, steht einer Nutzung nichts entgegen.
Es kann aber vorkommen, dass unterschiedliche Interessen schwer miteinander in Einklang gebracht werden können. Die FFH-Richtlinie legt für diesen Fall ein abgestuftes Verfahren mit Verträglichkeitsprüfungen fest. An deren Ende darf ein Projekt nur dann gestattet werden, wenn ein öffentliches, zwingend notwendiges Interesse besteht, es keine Alternativen gibt oder, wenn Maßnahmen zur Sicherung des Zusammenhangs des Natura 2000-Netzes qualitativ und quantitativ in hinreichender Form vorgesehen beziehungsweise umgesetzt wurden. In jedem Fall muss die Europäische Kommission über das Ergebnis informiert werden und eine Stellungnahme abgeben.
Dieses Verfahren darf aber nicht nur formal abgearbeitet werden, es muss eine echte Kontrolle stattfinden. Leider werden gerade die Naturschutzbehörden wegen der schwierigen finanziellen Situation vieler Kommunen personell oft nicht ausreichend ausgestattet. Und wenn die Untere Naturschutzbehörde die Umweltverträglichkeitsprüfung für das Bauamt durchführt, kann die Unabhängigkeit nicht immer garantiert werden. Es bräuchte für solche Fälle eine klarere Trennung der Ebenen in Deutschland. Für einen wirklich kohärenten Schutz muss es hierfür auch eine EU-Umwelt-Inspektionsrichtlinie mit gemeinsamen Standards für klare und nachvollziehbare Kosten-Nutzen-Analysen geben.
Nur, wenn die Europäische Union mutige, koordinierte und umfassende Maßnahmen für den Artenschutz ergreift und damit auch global eine Führungsrolle einnimmt, können wir das Artensterben aufhalten und die Artenvielfalt als unsere eigene Überlebensgrundlage auf der Erde erhalten.
von Jutta Paulus, MdEP