Schwarzer Peter um Impfstoffe
Als es im Rahmen der Covid-19 Pandemie im Frühjahr 2020 um die Beschaffung von Schutzausrüstungen wie Masken ging, ereignete sich ein unrühmlicher Wettbewerb der Staaten. Die EU-Mitglieder verabschiedeten Exportverbote und versuchten, sich auf den Weltmärkten gegenseitig zu überbieten. Damit bei der Beschaffung des Impfstoffes nicht wie zuvor bei den Hygienemasken erneut die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten über denen der europäischen Gemeinschaft stehen, drängte die Europäische Kommission darauf, einen anderen Ansatz zu verfolgen. Die Mitgliedstaaten sollten von Anfang an zusammenarbeiten und gemeinsam die Entwicklung und Produktion der Impfstoffe unterstützen, die anschließend gemeinsam gekauft und je nach Bevölkerungsgröße unter den Mitgliedstaaten verteilt würden.
Am 17. Juni 2020 legte die Europäische Kommission eine Impfstrategie vor, um die Entwicklung, Herstellung und den Einsatz von Impfstoffen gegen Covid-19 zu beschleunigen. Zu diesem Zeitpunkt war bereits länger klar, dass nur mit sicheren und wirksamen Impfstoffen die Covid-19 Pandemie überstanden werden kann. Die Impfstoffentwicklung ist ein komplexer und langwieriger Prozess, der normalerweise etwa zehn Jahre dauert. Mit der Impfstrategie unterstützte die Kommission die Bemühungen und beschleunigte die Entwicklung und Verfügbarkeit von Impfstoffen.
Über mehrere Monate hat die EU-Kommission über Verträge mit sechs Pharmaunternehmen verhandelt, was letzten Endes zu einem Ergebnis von 2,3 Milliarden Impfstoffdosen für die EU führte. Axel Voss, Politiker der EVP-Fraktion, betonte mit Blick auf die abgeschlossenen Verträge: „Generell ist es so, dass die EU den Impfstoff nicht kauft, sondern Verträge über Abnahmegarantien schließt. Dieses wird in einem Lenkungsausschuss erörtert und überprüft, in dem die Regierungen aller Mitgliedstaaten vertreten sind. Im Verhandlungsverfahren teilen die Mitgliedstaaten der Kommission mit, welche Menge eines bestimmten Impfstoffs sie bestellen wollen. Die Mitgliedstaaten sind dann anschließend selbst dafür verantwortlich, die verfügbaren Impfstoffe zu kaufen, sobald diese sich als sicher und wirksam erwiesen haben.“
Sehr selten wurde ein Produkt mit einer so großen Spannung erwartet wie der Covid-19 Impfstoff. Deshalb ist es auch wenig verwunderlich, dass die Nachricht im Januar 2021 über eine Verzögerung bei der Impfstoffeinführung zu einer großen Enttäuschung innerhalb der europäischen Bevölkerung führte. Die Frage nach dem Verantwortlichen für diese Misere kam auf, was dazu führte, dass sich die Regierungen, die Pharmaunternehmen sowie die EU wechselseitig die Schuld für das Debakel gaben.
Insbesondere die Entscheidung, ein langwieriges Zulassungsverfahren zu wählen, stieß auf Kritik. Damit diejenigen in der Bevölkerung beruhigt werden, die einer Impfung skeptisch gegenüberstehen, griff die EU im Gegensatz zu anderen Staaten nicht auf Notfallzulassungen zurück, sondern bestand auf einem vollständigen Prüfverfahren der Impfstoffe durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA). Darüber hinaus wären die Hersteller bei einer Notfallzulassung von jeglicher Haftung freigestellt. Allein durch diese Einschränkung ist die Impfrate der EU im Vergleich zu Israel, Großbritannien und den USA bereits zurückgefallen.
In ihrer Rede vor dem Plenum des Europäischen Parlaments zum aktuellen Stand der Covid-19 Impfstrategie der EU am 10. Februar 2021 sagte Präsidentin von der Leyen hierzu: „Es war richtig und es ist richtig, dass wir Europäerinnen und Europäer den Impfstoff gemeinsam bestellt haben und nun solidarisch teilen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was es bedeutet hätte, wenn einige wenige große Mitgliedstaaten sich Impfstoff gesichert hätten und der Rest leer ausgegangen wäre. Was das für unseren Binnenmarkt bedeutet hätte, und für die Einheit Europas! Es wäre wirtschaftlicher Unsinn. Und es wäre das Ende unserer Gemeinschaft.“ Von der Leyen unterstrich, dass es richtig gewesen sei, bei der Sicherheit und der Wirksamkeit keine Abstriche zu machen. Daher setzte man aufs Prüfverfahren der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA, wodurch das Zulassungsverfahren zwar drei bis vier Wochen länger dauere, aber diese zusätzliche Zeit eine Investition sei, die sich in puncto Vertrauen und Sicherheit auszahle.
Höchstwahrscheinlich wird der Mangel an Covid-19 Impfstoffen auf dem europäischen Kontinent noch einige Monate anhalten. Das Ziel der EU, bis Sommer 2021 70 Prozent der Bevölkerung impfen zu lassen, wird schwer zu erreichen sein. Es stellt sich zwangsläufig die Frage, ob es besser gewesen wäre, die Beschaffung von Impfstoffen den Staaten selbst zu überlassen. Diese Frage kann abschließend niemand beantworten. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass sich das gemeinsame Handeln der EU am Ende auszahlt. Ohne die EU hätten die Pharmaunternehmen eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten gehabt. Impfstoffe wären teurer und unsicherer gewesen, insbesondere für die kleineren und ärmeren Mitgliedstaaten. Wirtschaftlich starke Staaten wie Deutschland wären heute vermutlich in einer besseren Ausgangslage, wenn sie mit den Pharmaunternehmen alleine verhandelt hätten. Allerdings hätten sie hiermit auch das Solidaritätsprinzip der Europäischen Union untergraben. Der Stärkere hätte sich durchgesetzt, der Schwächere hätte sich hintenanstellen müssen.
„Das gemeinsame Handeln bei der Impfstoffbeschaffung war grundsätzlich die richtige Entscheidung. Allerdings hätte deutlich konsequenter gehandelt und entschieden werden müssen. Anstatt sich auf das Zuschieben des Schwarzen Peters zu konzentrieren, müssen die EU, die Mitgliedstaaten und die Pharmaunternehmen jetzt zusammenarbeiten, damit die Produktion so schnell wie möglich hochgefahren wird“, fordert die stellvertretende Bundesvorsitzende des dbb beamtenbund und tarifunion, Kirsten Lühmann.
Eine Positivmeldung kam jüngst von der stark in der Kritik stehenden EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. Diese hat ein Schnellverfahren angekündigt, wenn zugelassene Corona-Impfstoffe an Virus-Mutationen angepasst werden müssen. Der Augsburger Allgemeinen sagte sie: „Wir haben nun entschieden, dass ein Impfstoff, der vom Hersteller auf der Basis des bisherigen Vakzins zur Bekämpfung neuer Mutationen nachgebessert wurde, nicht mehr den ganzen Zulassungsprozess durchlaufen muss. Es wird also schneller gehen, geeignete Impfstoffe verfügbar zu haben, ohne bei der Sicherheit Abstriche zu machen.“ Sie fügt hinzu: „Ohne die EU hätten die Bürger in allen 27 Mitgliedstaaten unabhängig von der Größe und der Wirtschaftskraft wahrscheinlich keinen Zugang zu Vakzinen bekommen.“ Die europäische Impfstrategie sei ein Erfolg.