Homeoffice für alle?
Gewerkschaften haben in vielen europäischen Ländern ihre soziale und ursprüngliche Rolle verloren. Im schlimmsten Fall haben sie sogar ihre Funktion, alle Arten von Arbeitnehmern zu vertreten, verloren. Diese Entwicklung ist durch den Fortschritt der Disintermediation, welcher sowohl durch die Globalisierung als auch durch die Digitalisierung angetrieben wurde, zu begründen.
Im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie könnte die Basis für eine neue Grundlage der Gewerkschaften sowie für einen neuen Spielraum ihrer Legitimität geschaffen sein. Diese Grundlage liegt insbesondere in der Aushandlung kooperativer Ansätze zwischen allen Beteiligten und einer Umsetzung neuer internationaler und nationaler regulativer Rahmenbedingungen mit lokalen unternehmensinternen Ansätzen.
Zunächst sollten sich allerdings die Gewerkschaften mit der Frage auseinandersetzen, welche strategischen Entscheidungen Unternehmen treffen müssen, damit ihre Arbeitsabläufe an das „neue Normal“ angepasst sind? Was können die Mitarbeiter hier fordern? Wie soll die Regierung agieren?
Covid-19: Der große Beschleuniger der digitalen Transformation
Der Wandel des alltäglichen Lebens und der Arbeitsgewohnheiten im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie hatte nicht nur hohe ökonomische Auswirkungen, sondern führte auch zu einer Weiterentwicklung des Arbeitskonzepts. Home-Office hat es vielen Menschen ermöglicht, ihre Tätigkeit von zu Hause aus auszuüben und so die Umweltbelastung und die Anreisekosten zum Büro zu verringern und mehr Zeit mit der Familie zu verbringen.
Mit Blick auf die städtischen Räume sollte Home-Office auch als große Chance für die peripheren Gebiete gesehen werden, da nicht mehr eine tägliche Anfahrt zur Arbeit stattfinden muss. Auf der anderen Seite geht hierdurch für Unternehmen die Möglichkeit einher, dass sie ihren Standort in entlegenere Gebiete errichten können.
Die eigentliche treibende Kraft hinter diesen Veränderungen ist ohne Zweifel die digitale Transformation, durch welche Millionen von Arbeitnehmern näher an die neuen Technologien herangebracht und strukturelle Veränderungen im Arbeitsumfeld absolut erforderlich wurden.
Warum ein Recht auf Home-Office eine verführerische Versuchung ist, die jedoch – mit wenigen Ausnahmen – nicht funktionieren wird
Im Zuge dieser Entwicklungen wurden immer wieder Forderungen nach einem Recht auf Home-Office gestellt. Dies kann sich als schwieriger erweisen als es den Anschein macht, möglicherweise kann es sogar kontraproduktiv sein: Viele Herausforderungen, die mit einer Schaffung des allgemein verbindlichen Rechts auf Home-Office einhergehen, sind mit der Schwierigkeit verbunden, einen ausreichenden Rechtsrahmen zu schaffen, welcher an alle Berufsgruppen anpassbar ist.
Gesondert betrachtet werden sollten schutzbedürfte Gruppen unter den Arbeitnehmern, für welche ein Recht auf Home-Office tatsächlich hilfreich sein kann. Hierzu zählen beispielsweise Menschen mit Behinderungen oder schwangere Frauen. In Ermangelung einer angemessenen Infrastruktur und vieler Vorschriften, die in verschiedenen beruflichen Zusammenhängen bestehen, ist es jedoch sinnlos, die Umsetzung eines solchen allgemeinen Rechts zu fordern.
Eine Ausweitung des Geltungsbereichs der bestehenden Rechtsvorschriften bezüglich der Gleichstellung der Geschlechter sowie eine Aufnahme von Antidiskriminierungsklauseln in Tarifverträgen sind Schlüsselelemente, durch welche dazu beigetragen werden kann, dass der digitale mit dem sozialen Fortschritt in einen Einklang gebracht wird. Die Verwirklichung eines gerechteren beruflichen Umfelds ist eine der größeren Herausforderung, die mit der Ausweitung des Home-Office einhergeht. Ungleichheiten und Kluften zwischen den verschiedenen Gruppen der Arbeitnehmer müssen überbrückt werden, indem alle sich im Home-Office befindenden Arbeitnehmer mit einer angemessenen Arbeitsausstattung versehen sind. So können sie ihrer Tätigkeit wie während der Präsenzarbeitszeit nachgehen.
Verbesserung der Heimarbeitsplätze bei einer gleichzeitigen Gewährleistung einer guten Infrastruktur: Unternehmen und Regierungen spielen hier eine bedeutende Rolle
Vorteile wie eine größere Unabhängigkeit von Arbeitnehmern, die Möglichkeit für Eltern, sich um ihre Kinder zu sorgen während sie ihre Karriere nicht außer Acht lassen sowie die Schaffung von Tarifverträgen, die die Arbeit flexibler und gerechter machen, gehen mit einigen Bedenken einher. Diese sind: Die Schwierigkeit, verschiedene Zeitzonen aufeinander abzustimmen, die fehlende Zusammenarbeit in Echtzeit, die Isolation, die falsche Vermittlung von Informationen, das Risiko, dass sich das Privatleben mit dem Berufsleben vermischt sowie die Schwierigkeit, die Arbeitnehmer auf technischer Ebene zu schulen.
Die Regierungen sind in dem Zusammenhang verpflichtet, die Internetgeschwindigkeit zu verbessern, sodass die Arbeitnehmer von zu Hause aus problemlosen Empfang haben. Weitreichende Investitionen können hier als zielführendes Element gesehen werden. Außerdem müssen auf politischer Ebene Vorschriften verfasst werden, damit der Arbeitgeber zur Einhaltung der Standardarbeitszeiten angehalten wird. Hierfür sind kürzlich durchgesetzte Maßnahmen in Frankreich und Deutschland ein gutes Beispiel.
Die Gewerkschaften sollten auf der anderen Seite sicherstellen, dass auf Unternehmensebene Entscheidungen getroffen werden, die die Arbeitnehmer von der neuen Art zu arbeiten profitieren lassen. Als effektive und pragmatische Maßnahme sollten sie hier darauf drängen, dass erforderliche Ausstattungen und Tools für das Home-Office bereitgestellt werden. Diese Maßnahme ist vor allem im Hinblick auf die Steigerung der Produktivität für beide Seiten erstrebenswert.
Andere förderliche Maßnahmen können die Einrichtung eines oder mehrerer Arbeitsplätze für die Mitarbeiter sowie die Bereitstellung von ergonomischem Equipment und der notwendigen Softwareunterstützung sein. Außerdem ist es wichtig, den Mitarbeitern die Möglichkeit einzuräumen, die dienstlichen und privaten IT-Einrichtungen zu kombinieren. Sinnvollerweise sollte der Arbeitgeber 100 Prozent der anfallenden Kosten während des Home-Office übernehmen. Aufgrund einer möglichen Mischnutzung der Ausstattungen sollten es aber mindestens 50 Prozent der Kosten sein.
Die Grenzen der Belastbarkeit: Eine stärkere Zukunft liegt in neuen Managementansätzen. Die Gewerkschaften sollten hier forcierend wirken
Um einen kontinuierlichen Fortlauf des Geschäftsbetriebs zu gewährleisten, haben sich Unternehmen schnell andere Geschäftsmodelle angeeignet, häufig auf Kosten neuer, weniger guter Betriebseinstellungen. Gleichzeitig muss eine oft unvorbereitete und nicht ausreichend ausgestattete Arbeitnehmerschaft die neue Arbeitsweise in kürzester Zeit adaptieren, was in Verbindung mit den Kontaktbeschränkungen und dem Lockdown bei vielen Menschen zu einer physiologischen Erschöpfung führte. Eine sogenannte „Zoom- Müdigkeit“, benannt nach der bekannten Videokonferenz-Plattform, setzte ein.
In dem Kontext der immer wieder neu auftauchenden Herausforderungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sollten Gewerkschaften als verbindendes Glied agieren. Sie sollten einen zunehmend sektoralen und innovativen Ansatz verfolgen. Dieser ist notwendig, damit mit den beruflichen Entwicklungen Schritt gehalten werden kann. Ein Schutz der Arbeitnehmer vor Ausbeutung sowie Missbrauch der Verträge soll durch festgelegte Rahmenbedingungen gewährleistet werden.
Es ist für die Gewerkschaften in erster Linie wichtig, verstärkt ihre Beziehungen zu den Führungskräften und Managern der Unternehmen auszubauen, welche durch die vorrangige Konzentration auf die Arbeitnehmerschaft bei ihnen meistens weniger im Fokus stehen. Anstatt, dass Gewerkschaftselemente in Unternehmen verankert werden, wäre es zielführender, mit Hilfe von Schulungen, die Manager bei der Entwicklung moderner Managementmodelle zu unterstützen. Es handelt sich hierbei um Modelle, die mehr auf intelligentem Arbeiten als auf Home-Office basieren. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass der Arbeitnehmer handlungsfreier agieren kann, indem sich seine Tätigkeit eher nach Zielen als nach festen Arbeitszeiten richtet.
Durch eine Umsetzung der innovativen Methoden von den geschulten Managern, ist den Mitarbeitern ein besseres Arbeiten möglich und die Unternehmenseigentümer sind mit den Ergebnissen zufriedener. Nur eine innovative Leitung wie diese kann tatsächlich zu einer Win-Win-Situation für alle Beteiligten führen.
Ein Gespenst verfolgt Europa: der politische Hebel zur Vereinbarkeit von sozialem Schutz mit der zukünftigen Art des Arbeitens und der fortschreitenden Automation
Zukünftig könnten mit der fortschreitenden Automation auch Verluste von Arbeitsplätzen einhergehen. In vielen Fällen ist eine Übertragung von Arbeitsplätzen von einer Branche in die andere möglich. In anderen Fällen ist das kompliziert bis hin zu unmöglich. Der Transfer von Mitarbeitern von einem Unternehmenssektor in einen anderen ist mit Blick auf die Arbeitsgeräte sowie die Fähigkeiten des Mitarbeiters komplex.
Im Hinblick auf kontinuierliches Lernen und die Anpassung an zunehmende, autonome Arbeitsbedingungen, wäre es wünschenswert, wenn sich die Unternehmen mit Umschulungsprozessen befassten. Prinzipiell sollte jeder Mitarbeiter, der von der Digitalisierung der Arbeit betroffen ist, bei der Aneignung neuer Fähigkeiten von Unternehmensseite aus unterstützt werden. Außerdem sollte Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsplatz aufgrund der Digitalisierung verloren haben, neue Räume eröffnet werden. Wichtig ist, dass weiterhin sichergestellt ist, dass der Gesetzgeber die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage von Arbeitskräften überbrückt.
Aus strategischer Sicht werden die Unternehmen neue Wege beschreiten und neue Arbeitsgeräte und Ausstattungen beschaffen müssen, um die Migration von Arbeitskräften in ihren Sektoren anzugehen. Die zunehmende digitale Innovation erfordert, dass die Unternehmen in Technologien investieren, die für jeden ihrer Mitarbeiter zugänglich sind. Massenumschulungen, sofern diese zulässig sind, stellen nicht für alle die gleiche Schwierigkeit dar. Während für die einen eine Digitalisierung ihrer Arbeitsabläufe eine Erleichterung bedeutet, ist das für viele andere nicht der Fall. Low Code- und No Code- Technologien sind gute Beispiele für alle Unternehmensakteure, die die Kluft zwischen digitaler Zugänglichkeit und Schutz der eigenen Mitarbeiter schließen wollen.
Der letzte Schritt: Mit welchen Mitteln Gewerkschaften auch im 21. Jahrhundert noch relevant bleiben können
Gewerkschaften müssen, sofern sie noch weiterhin von Relevanz sein wollen, eine neue Art der Vermittlung des Aufbaus solider Arbeitsbeziehungen entwickeln. Die größte Herausforderung für die Gewerkschaften besteht darin, sich an die digitale Entwicklung und Schutzanforderungen der Arbeitnehmer anzupassen. Eine neue Art des Umgangs mit Mitgliedern wird die traditionellen persönlichen Treffen ersetzen.
Um stets neue Mitglieder, insbesondere unter den jüngeren Arbeitnehmern, zu gewinnen, sollten die Gewerkschaften über neue Wege nachdenken, diese bestmöglich zu erreichen. Eine Verbesserung der Sichtbarkeit im Netz sowie die Nutzung von Social Media Plattformen sollten zukünftig verstärkt in Betracht gezogen werden, um mit der Innovation Schritt zu halten.
Wie in diesem Artikel hervorgehoben wurde, bietet die Digitalisierung der Arbeit eine Chance für alle Beteiligten: Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Manager. Die mehr oder weniger wichtige Rolle der Gewerkschaften in diesem Prozess ist es, fähig zu sein, Vorschriften mit flexiblen Grenzen zu erstellen, die sich in einer Vielzahl von Situationen anpassen und besonders die Arbeitnehmer schützen können - ohne sich zwangsläufig auf ideologische Ansätze oder Überzeugungen zu berufen.
Die zukünftige Arbeit ist unbarmherzig und pragmatisch. Gewerkschaften sollten es auch sein.
von Andrea Latino