Frontex - Die Zukunft hat bereits begonnen

von Christian Notzon

 

Von der breiten Öffentlichkeit fast gänzlich unbemerkt ist am 4. Dezember 2019 die neue FRONTEX-Verordnung in Kraft getreten. FRONTEX steht für die Europäische Grenz- und Küstenwache. Zwar wird in Fachkreisen und auf Polizeikongressen darüber geredet. Sogar die amtierende kroatische EU-Ratspräsidentschaft hat sich für eine beschleunigte Anwendung ausgesprochen. Vielen sind die tatsächlichen Konsequenzen aber nicht in vollem Umfang bewusst.

 

Dieser Artikel ist ein Versuch, die Aufgaben und die Zielrichtung dieser doch allein aufgrund ihrer Größe in der EU einzigartigen Behörde kurz und knapp zusammenzufassen. Zur Verdeutlichung seien hier drei Kernaufgabenbereiche genannt: 1. Erstellung eines Europäischen Lagebildes als Grundlage politischer Entscheidungen, 2. Schutz des EU-Raums an den Land- und Seegrenzen vor irregulärer Migration einschließlich der dazu nötigen Informationsbeschaffung und Informationsaustauschs, sowie 3. die Organisation und Durchführung von Rückkehr und Rückführung von ausreisepflichtigen Personen aus der Europäischen Union (und des Schengen Gebiets) in Länder außerhalb dieser.

 

Diese sehr verkürzte Darstellstellung bildet jedoch im Kern den eigentlichen Zweck von FRONTEX ab. Man könnte auch sagen, FRONTEX ist der unmittelbare Vollzug von EU-Rechtsvorschriften wie der Visa- oder der Dublin III-Verordnung durch ein Europäisches Exekutivorgan. Und vieles mehr.

 

Doch zunächst die Fakten. Die Schaffung der Europäischen Union und des Schengen-Gebiets ist die Verwirklichung eines viele Jahre währenden Prozesses, der den lang gehegten Traum eines Europas ohne Grenzen verwirklicht hat. Das Jahr 2015 hat jedoch gezeigt, wie verwundbar diese Vision ist. Wer geglaubt hat, dass der Auftrag und die Aufgabenbeschreibung völkerrechtlicher Verträge und EU-Verordnungen für Staaten an den EU-Außengrenzen, zu erwähnen sind da zum Beispiel Griechenland, Italien oder Spanien, einen zureichenden Sicherheitspuffer für die Hauptzielländer von Massenmigration schaffen, sieht sich getäuscht.

 

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein reines Schengen-Binnen-Land. Einzige, relativ problemlos zu kontrollierenden Außengrenzen Deutschlands sind die Flug- und Seehäfen. Die gesellschaftlich und politisch gewollte Abschaffung von Kontrollen an den Grenzen zu allen Nachbarstaaten Deutschlands ist uneingeschränkt zu begrüßen, daran ändern auch die temporären pandemiebedingten Kontrollen zum Beispiel an der deutsch-österreichischen Grenze nichts. Jeder unbescholtene Bürger genießt die Freizügigkeit in einem Raum ohne Schlagbäume und den damit verbundenen kontrollfreien Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen. Allerdings zeigen konkrete Einsatzanlässe wie der G7 Gipfel auf Schloss Elmau oder auch die sogenannte Schleierfahndung an den Grenzen Deutschlands, kurzzeitig eingeführte Kontrollmaßnahmen und das viel zitierte "kurz-mal-das-Licht-einschalten", dass auch Kriminelle in all ihren Tätigkeitsfeldern, das Privileg offener Grenzen zu nutzen wissen.

 

Bei den vorgenannten Kontrollmaßnahmen an den europäischen Binnengrenzen werden täglich eine Vielzahl unerlaubter Einreisen festgestellt. Die Menschen sind ja irgendwie hierhergekommen und haben folglich die EU-Außengrenzen an irgendeiner Stelle unkontrolliert überschritten. Laut Zahlen der EU-Kommission wurden im Jahr 2019 an den Außengrenzen 139.000 unerlaubte Grenzübertritte festgestellt. Im selben Jahr gab es laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge allein in Deutschland im Vergleich dazu 165.938 Asylanträge. Nicht nur Bundesinnenminister Horst Seehofer zieht daraus den Schluss, dass der europäische Schutz der EU-Außengrenzen zurzeit nicht wirksam ist.

 

Diese nüchterne Erkenntnis führt zu mehreren Einsichten. Zum einen weiß man spätestens seit 2015, dass einzelne Staaten mit dem Außengrenzschutz alleine völlig überfordert sind und mit der Bewältigung dieser Unionsaufgabe nicht allein gelassen werden dürfen. Zum anderen hat man erkannt, dass die Bekämpfung unerlaubter Migration an den EU-Außengrenzen viel zu spät einsetzt, so unterschiedlich sich die Hauptmigrationsrouten auch im Einzelnen darstellen. Ohne hier weiter auf Pull- und Push-Faktoren einzugehen wäre es natürlich am besten, wenn sich Menschen aus Drittstaaten erst gar nicht auf den Weg in die EU machen würden. Es gibt jedoch noch erheblichen Erkenntnis- und Handlungsbedarf bei den politischen Entscheidungsträgern! Doch zurück zum Grenzschutz.

 

Die Erkenntnis eines fehlenden wirksamen Außengrenzschutzes führte zu der noch relativ neuen FRONTEX Verordnung (EU) 2019/1896, in der der massive Ausbau der Europäischen Grenz- und Küstenwache festgeschrieben wurde. Konkret soll die Europäische Behörde FRONTEX mit Sitz in Warschau perspektivisch bis zum Jahr 2027 auf bis zu 10.000 Beamtinnen und Beamten aufwachsen. Bereits 2020 wird FRONTEX über erste eigene uniformierte Beamte verfügen, deren Ausbildung zum Jahresende abgeschlossen sein wird. Die Agentur wird über eigene Landfahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge und Drohnen und über einen für ihre Aufgabenbewältigung erforderlichen erheblichen finanziellen Rahmen verfügen.

 

Dieser Aufwuchs wird auch unmittelbare Auswirkungen auf die deutsche Bundespolizei haben, die eine Hauptlast der für FRONTEX zu stellenden Einsatzkräfte zu tragen haben wird.

 

Die so genannte ständige Reserve, ein in vier Kategorien aufgeteilter Personalkörper, bestehend sowohl aus kurz und aus langfristig zu FRONTEX abgeordneten Polizistinnen und Polizisten, wird ab Ende 2020 aufwachsend bis 2027 über insgesamt 10.000 Beamtinnen und Beamte verfügen. Ab 2021 werden die Mitgliedstaaten zunächst eine „Reserve für Soforteinsätze“ stellen müssen, deren deutscher Anteil bei 225 Polizeibeamtinnen und -beamten liegt. Rechnet man das auf die Gesamtzahl von 10.000 Polizeikräften hoch, wäre der Deutsche Beitrag nach Berechnungen der DPolG Bundespolizeigewerkschaft bis zum Jahr 2027 bei insgesamt bis zu 1.500 Kolleginnen und Kollegen, die in unterschiedlich langen Zeiträumen für FRONTEX im Einsatz sein werden.

 

Besonders erwähnenswert aber sind politische Bestrebungen, dieses Datum auf das Jahr 2024 vorzuziehen, so zumindest das erklärte Ziel der aktuellen kroatischen Ratspräsidentschaft. Nach Aussagen von Bundesinnenminister Horst Seehofer ist man auch auf deutscher Seite nicht abgeneigt, den Aufwuchs - jedoch ohne die Nennung eines konkreten Datums - vorzuziehen. Eine Beschleunigung dieses Vorhabens wird sich naturgemäß noch früher und noch ausgeprägter auf die Bundespolizei auswirken. Es wäre dann zu befürchten, dass der jüngst erfreuliche und seit langem spürbare Personalaufwuchs in der Bundespolizei durch Personalgestellungen für FRONTEX zum Teil wieder aufgefressen wird. Dieser Umstand bereitet nicht nur Personalräten Sorgen.

 

Da FRONTEX zurzeit über keine eigenen Fortbildungsstätten verfügt, ist die Frage, in wieweit auch hier die Bundespolizei an Aus-, Fort-, und Vorbereitungsmaßnahmen für die Agentur beteiligt wird. Die bereits jetzt bestehende völlige Auslastung der Ausbildungsorganisation zulasten der Einsatzdienststellen wird die Frage nach künftigen Kapazitäten für die Fortbildung inländischer Kräfte verstärkt stellen. Dass sich dadurch bestehende Probleme ausweiten werden, erklärt sich von selbst. Dieses Themenfeld allein wird Gewerkschaften und Personalräte im Inland zu genüge beschäftigen.

 

Einen weiteren Aspekt, der es wert ist, hier näher betrachtet zu werden, ist das Einsatzspektrum der Agentur. Bemerkenswert ist zum Beispiel die Anzahl von fast 600 Flügen mit Flugzeugen (mit steigender Tendenz), die FRONTEX nach eigenen Angaben im Jahr 2019 absolviert hat. Diese beinhalten zum Beispiel Grenzüberwachungsflüge sowie Flüge über dem Mittelmeer, die zum einen die operativen Kräfte bei konkreten Einsätzen unterstützen, als auch Aufklärungsflüge zum Zwecke einer Lagebilderstellung.

 

Der Umfang und die „Robustheit“ dieser Einsätze war in der deutschen Grenzpolizei, die in ihrem Flugdienst lediglich über Hubschrauber verfügt, in der Form bislang nicht gekannt. So war beispielsweise am 2. April 2020 in der Presse zu lesen, dass ein im März 2020 für FRONTEX über der griechischen Ägäis eingesetztes Aufklärungsflugzeug mehrere Minuten von der Luftwaffe des NATO-Mitgliedstaates Türkei verfolgt wurde. Dieses kleine Beispiel zeigt, dass die Gefahr für eine Polizeiorganisation und ihre Angehörigen unter Umständen in militärische Konfliktsituationen zu geraten, nicht nur der Phantasie von Verschwörungstheoretikern entspringt.

 

Der vorgenannte kleine Überblick über die personelle Lage als auch Probleme im operativen Bereich von FRONTEX wirft naturgemäß für eine Berufsvertretung eine Menge Fragen auf.

 

Einen Schwerpunkt des gewerkschaftlichen Blickwinkels sollte auf dem an den EU-Außengrenzen eingesetzten Personal liegen. Viele Fragen, die im Inland durch den Beteiligungskatalog des Bundespersonalvertretungsgesetzes geregelt sind, wie zum Beispiel bei Einstellungen, Ver- und Umsetzungen, Ausstattung, Arbeitszeit, Arbeitsschutz, Sozialeinrichtungen, die Unterbringung, Beurteilungswesen, Teilnahme an Prüfungen etc. unterliegen zurzeit allein der Verantwortung der FRONTEX Agentur und werden durch Personalräte nicht begleitet. Eine Mitarbeitervertretung, die Rechte von Beschäftigten wahrnehmen könnte, existiert auf dieser Ebene nicht.

 

Die Tatsache, dass das Fehlen einer echten parlamentarischen Kontrolle eine personalrätliche Vertretung umso unentbehrlicher macht, braucht aufgrund der fachkundigen Leserschaft nicht näher erläutert werden. Das Bedürfnis nach einer starken Stimme für die eingesetzten Kolleginnen und Kollegen wird lauter.

Eine solche Internationalisierung von Aufgaben lässt bestehende Gewerkschaften und Berufsvertretungsdachverbände schnell an ihre nationalen Grenzen stoßen. Hierbei ist aber nicht nur wichtig, dass die eingesetzten Kolleginnen und Kollegen kompetente, an die Hierarchie angelehnte Ansprechpartner haben. Im Umkehrschluss ist es aber auch wichtig, dass Europäischen Institutionen konkrete, mandatierte und gut strukturierte Ansprechpartner haben, die befugt sind für das für FRONTEX arbeitende Personal zu sprechen, sei es in der Zentrale in Warschau, auf Schiffen im Mittelmeer, an den EU Außergrenzen oder gar im Nicht-EU-Ausland. Um das zu schaffen, ist eine Vertiefung eines internationalen Dialogs von Polizeigewerkschaften auf Europäischen Ebene dringend geboten. Bestehende Strukturen sind zu nutzen und auszubauen, sollten sie nicht vorhanden sein, sind sie dringend und schnell zu schafften.

 

Diese sicherlich gewaltige Aufgabe ist kein Thema für Übermorgen, sondern sollte zeitnah angegangen werden! Institutionen wie die DPolG, der dbb beamtenbund und tarifunion, die EPU aber auch die CESI sind hierfür gute Ansprechpartner.

 

Christian Notzon ist Referent für Europäische Polizeiangelegenheiten der DPolG Bundespolizeigewerkschaft.