Ein sozialeres und gerechteres Europa fest verankern

Die Europäische Säule Sozialer Rechte

von Thomas Mann

Im April 2017 forderte Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, das Ende des Wettbewerbs um niedrigere Sozialleistungen: „Es gibt kein Europa, wenn sich nicht diejenigen, die arbeiten, die leiden, die ihren Mitbürgern Arbeit geben, in Europa verlieben... Das ist vielleicht die letzte Chance, die wir haben, um die sozialen Ambitionen von Europa zum Fliegen zu bringen.“ Es galt, die Vorbehalte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der europäischen Idee zu überwinden, die überwiegend als ein Wirtschaftsprojekt und weniger als ein Sozialprojekt verstanden werde. Er forderte ein Triple-A-Rating im sozialen Bereich. Angesichts der hohen Jugend- und Langzeit-Arbeitslosigkeit, der Armut, Ausgrenzung und Ungleichheit in und zwischen den Mitgliedstaaten sei die Integrationskraft des Kontinents kaum sichtbar. Umso wichtiger sei es, Prioritäten für mehr soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen und dabei nicht nur Bekenntnisse zu liefern, sondern vorrangig konkrete Ergebnisse.

Öffentliche Konsultationen der Vertreter der Mitgliedstaaten, der Sozialpartner und Sozialverbände sowie eine Vielzahl von Konferenzen fanden statt. Im September 2017 stellte Juncker vor dem Europäischen Parlament in seiner Rede zur Lage der Union die Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR) vor. Sie enthielt Elemente für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, das gemeinsame Engagement für sozialen Schutz, Chancengleichheit sowie die Zukunftsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft. Beim Sozialgipfel von Göteborg im November 2017 wurden die Grundsätze der ESSR von den Staats- und Regierungschefs aller 28 Mitgliedstaaten feierlich proklamiert. Bereits einen Monat zuvor hatten sich die Arbeits- und Sozialminister einstimmig dazu bekannt.

Die 20 Grundsätze der ESSR

Die Europäische Säule Sozialer Rechte besteht aus drei Kategorien: Chancengleichheit und Arbeitsmarkt-Zugang; faire Arbeitsbedingungen; Sozialschutz und soziale Inklusion. Im Kapitel „Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang“ geht es um (Grundsatz 1) allgemeine und berufliche Bildung sowie das lebenslange Lernen; (2) Gleichheit der Geschlechter und gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit; (3) Chancengleichheit, das Recht auf Gleichbehandlung bei der Beschäftigung und sozialen Schutz; (4) aktive Unterstützung für Beschäftigung, Hilfe bei der Arbeitssuche, Weiterbildung, Umschulung. Im Kapitel „Faire Arbeitsbedingungen“ geht es um (5) sichere und anpassungsfähige Beschäftigung, Einhaltung von Kollektiv- und Tarifverträgen, innovative Arbeitsformen zur Sicherung fairer Arbeit sowie Verhinderung von prekären Arbeitsbedingungen und des Missbrauchs durch atypische Verträge; (6) Löhne und Gehälter, gerechte Entlohnung von Arbeitnehmern, Sicherung von angemessenen Mindestlöhnen, Wahrung der Tarifautonomie; (7) Informationen über Beschäftigungsbedingungen und Kündigungsschutz; (8) Sozialer Dialog und Einbeziehung der Beschäftigten, Konsultationen der Sozialpartner, Verbesserung der Verhandlungsposition bei der Aushandlung von Verträgen auf Unions- und Mitgliedstaaten-Ebene; (9) Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, angemessene Regelungen für Freistellung und flexible Arbeitszeiten; (10) Gesundes, sicheres und geeignetes Arbeitsumfeld und Datenschutz. Im Kapitel „Sozialschutz und soziale Inklusion“ geht es um (11) Betreuung und Unterstützung von Kindern; (12) Sozialschutz; (13) Leistungen bei Arbeitslosigkeit, angemessene Unterstützung bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt; (14) Mindesteinkommen als angemessene Leistungen für ein würdevolles Leben; (15) Alterseinkünfte und Ruhegehälter; (16) Gesundheitsversorgung, die rechtzeitig, hochwertig und erschwinglich sein muss; (17) Inklusion von Menschen mit Behinderungen; (18) Langzeitpflege; (19) Wohnraum und Hilfe für Wohnungslose, Sozialwohnungen, Unterstützung bei der Beschaffung von Wohnraum guter Qualität; (20) Zugang zu essenziellen Dienstleistungen, Wasser-, Sanitär- und Energieversorgung, Verkehr, Finanzdiensten und digitaler Kommunikation.

Pro- und Contra-Bewertungen der ESSR

Die Europäische Säule Sozialer Rechte wurde als ein notwendiger Schritt akzeptiert, um die Destabilisierung des europäischen Projekts zu stoppen. Es gehe um ein gemeinsames politisches Bekenntnis der Mitgliedstaaten zur EU und der sozialen Dimension. Das Aufbruchsignal, um soziale Rechte zu sichern, Menschen aus Arbeitslosigkeit und Armut herauszuführen, wurde begrüßt. Angesichts der Herausforderungen durch Digitalisierung, Globalisierung, veränderte Arbeitswelten und die demographische Entwicklung sei eine nachhaltige soziale Sicherung vonnöten. Dennoch gab es auf Seiten der Sozialpartner Kritik. So bekannten sich Arbeitgeber-Verbände zwar zur sozialen Dimension des gemeinsamen Binnenmarktes. Sie unterstrichen, dass die ESSR zu Recht klarstelle, es gehe nicht um eine Ausweitung der in den Verträgen festgelegten Befugnisse und Aufgaben der Union. Jedoch brächten weitreichendere und zentralistische europäische Regelungen mit Eingriffen in die mitgliedstaatlich geregelte Sozialpolitik keinen sozialen Fortschritt. Wenn vorgegaukelt würde, dass Jobs per Erlass geschaffen werden können, handele es sich um unerfüllbare Versprechen. Eine aktivierende Sozialpolitik sei notwendig, deren Ausgestaltung in der Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten liege. Tatsächlich notwendig seien Rahmenbedingungen für Bildung, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit, um den Menschen echte Perspektiven zu geben. Dagegen begrüßt wurde die Stärkung des europäischen Binnenmarktes etwa durch den Junckerplan mit der Förderung von Investitionen, ebenso eine stabilitätsorientierte Fiskal- und Wirtschaftspolitik. Auf Seiten der Gewerkschaften wurde die errichtete Säule als ein notwendiger Schritt angesehen, der eine Wende einläuten müsse. Der Wettbewerb nach unten sei zu beenden: immer billigere Produktion; schlechtere Konditionen bei Selbstständigkeit und Subunternehmern; mangelhafte Kontrollen bei Löhnen und Schwarzarbeit. Die Bürgerinnen und Bürger müssten in ihrem alltäglichen Leben spüren, dass das Wohlfahrtsversprechen der EU praktische Auswirkungen habe. Aus bisher unverbindlichen Regeln mit schwachen Vorgaben müsse allerdings ein starker Pfeiler für soziale Rechte werden. Deshalb müsse die ESSR zu einem rechtsverbindlichen Instrument werden, unterfüttert mit klaren sozialpolitischen Programmen und ausreichenden Finanzmitteln. Die Tarifbindung müsse wieder zunehmen und Sozialleistungen ausreichend Sicherheit und Schutz in Zeiten rasanter Veränderungen geben. Nur eine EU, die sozial investiere, könne wieder Vertrauen gewinnen. Bereits 2017 kündigte Jean-Claude Juncker ein Begleitpaket von europäischen Initiativen in der Sozialpolitik an. Künftig solle der soziale Fortschritt genauso gemessen werden wie der wirtschaftliche. Wichtig sei ein soziales Scoreboard: Jeder Mitgliedstaat solle sich mit anderen messen, so dass eine Vergleichbarkeit in der EU entstehen könne. Im wirtschaftspolitischen Bereich und dessen Koordinierung funktioniere das bereits einschließlich eines Sanktionsmechanismus, ebenso durch Defizit-Verfahren. Der EU-Sozialgipfel in Göteborg war der Anfang einer Umsetzung von konkreten Schritten, die Hoffnung geben.

Maßnahmen zur Umsetzung der ESSR

Seit Ende 2019 hat die EU-Kommission an der Umsetzung der Grundsätze der ESSR gearbeitet. Zu ihren Initiativen gehören ein Fonds für einen gerechten Übergang; ein Richtlinien-Vorschlag zu angemessenen Mindestlöhnen; eine Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter; die Förderung der Jugendbeschäftigung; das Instrument zur Senkung des Risikos des Arbeitsplatz-Verlustes SURE; eine Europäische Kompetenzagenda.

Aktionsplan zur ESSR, März 2021

Im Jahr 2020 wurden Sozialpartner, Organisationen der Zivilgesellschaft, Verantwortliche in den Mitgliedstaaten, Städten und Regionen sowie Bürgerinnen und Bürger konsultiert und Webinare für Entscheidungsträger veranstaltet. Daraufhin entstand ein von der EU-Kommission zu entwickelnder Aktionsplan, der die Rechte und Grundsätze der ESSR weiter realisieren sollte. Es galt, auf die Veränderungen der Arbeitsmärkte und Volkswirtschaften sowie der Pandemie auf das soziale Leben zu reagieren.

Im März 2021 wurden in einem Aktionsplan drei Kernziele formuliert, die bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollen: A) Mindestens 78 % der Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren sollen einen Arbeitsplatz haben. B) Mindestens 60 % der Erwachsenen sollen jedes Jahr an Fortbildungen teilnehmen. C) Um mindestens 15 Millionen soll die Zahl der von Armut oder soziale Ausgrenzung bedrohten Menschen sinken.

Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, eigene nationale Zielsetzungen festzulegen als solidarischen Beitrag.

Die erstrebten Fortschritte werden von der EU-Kommission durch das Europäische Semester überwacht. Es ist ein Rahmen, um die Sozial- und Wirtschaftspolitik in der EU zu koordinieren. Das sozialpolitische Scoreboard soll so überarbeitet werden, dass es sich enger an die Grundsätze der ESSR ausrichten lässt. Die für die beschäftigungs- und sozialpolitischen Maßnahmen vorrangig zuständigen Mitgliedstaaten werden aufgefordert, Mechanismen zu schaffen, damit die maßgeblichen Akteure optimal an der Umsetzung der ESSR mitwirken können.

Wege aus der Corona-Krise

Je konkreter die sozial- und beschäftigungspolitischen Schritte zur Umsetzung der ESSR auf der europäischen und den nationalen Ebenen sind, desto höher ist die Akzeptanz dieser Richtschnur für das soziale Europa. Deshalb gehören die Bemühungen, die Coronavirus-Pandemie zu bändigen, in den Maßnahmen-Katalog:

  • Mit dem SURE-Programm zur Finanzierung der Kurzarbeit werden für die Mitgliedstaaten Darlehen in Höhe von bis zu 100 Milliarden € bereitgestellt.
  • Um Jugendliche beim Einstieg in das Arbeitsleben zu unterstützen, gibt es ein Paket von Beschlüssen zur Förderung der Jugendbeschäftigung, des Erwerbs von Kompetenzen sowie der beruflichen Aus- und Weiterbildung.
  • Die Initiative NextGenerationEU als zeitlich begrenztes Instrument und der verabschiedete langfristige Haushalt bilden das bedeutendste je geschaffene Konjunkturpaket der EU. Mit circa 1,8 Billionen Euro sollen die aktuelle Krise überwunden und Reformen eingeleitet werden.
  • Außerdem stehen der Europäische Sozialfonds ESF+ und der Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen zur Verfügung. Ihre Mittel werden aus dem Programm REACT-EU aufgestockt

Weitere Maßnahmen des Aktionsplans

Darüber hinaus veröffentlichte die EU-Kommission drei Initiativen:

  • eine Empfehlung für wirksame aktive Beschäftigungsförderung, vorrangig in digitalen und grünen Branchen,
  • eine neue Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen,
  • eine Richtlinie zur Lohntransparenz, um Informationen über Löhne und Gehälter leichter verfügbar zu machen und die Durchsetzung eines gerechten Entgeltes zu erleichtern.

Die EU-Kommission kündigte einen neuen strategischen Rahmen für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz an; einen Vorschlag für eine Garantie gegen Kinderarmut; eine Mitteilung über globale menschenwürdige Arbeit; eine Initiative zur Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen im Bereich digitale Arbeitsplattformen; einen Aktionsplan für die Sozialwirtschaft sowie die Einrichtung einer Plattform bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Für 2022 wird eine Empfehlung des Rates zu Mindest-Einkommen, die Überprüfung des Qualitätsrahmens für Praktika sowie eine Initiative zur Langzeitpflege erwartet.

Der Sozialgipfel in Porto

Am 8. und 9. Mai diesen Jahres wird im Rahmen des portugiesischen Ratsvorsitzes ein Sozialgipfel veranstaltet, der die Stärkung der sozialen Dimension Europas im Fokus hat. Hier werden nicht nur Statements der Politiker erwartet, sondern auch Nachweise, inwieweit die Säule umgesetzt wurde und mit welchen Initiativen auf der Ebene der EU und der Mitgliedstaaten gerechnet werden kann.

Kein Zweifel: Die ESSR mit ihren ambitionierten Zielen Förderung der Beschäftigung; Aufbau von zukunftssicheren Arbeitsplätzen; Abbau sozialer Ungleichheiten; vernünftige Einkommen sowie Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit hat alle Chancen, breite Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu finden. Das soziale Europa hat ein Gesicht.

Informationen zum Autor

Thomas Mann war 25 Jahre lang hessischer CDU-Europaabgeordneter (von 1994 bis 2019). Er arbeitete im Ausschuss für Beschäftigung und Soziales sowie im Ausschuss für Wirtschaft und Währung. Er gehörte den drei Steuer-Sonderausschüssen an, ebenso dem Panama-Papers-Untersuchungsausschuss. Er war 20 Jahre lang Präsident der Tibet-Intergruppe. Seit 1998 ist er Landesvorsitzender der Europa Union Hessen und seit 2003 Vizepräsident der Europa Union Deutschland.

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