Beihilfefähigkeit und medizinische Notwendigkeit

Aufwendungen für medizinische Behandlungen sind nur beihilfefähig, wenn sie nach wissenschaftlich anerkannten Methoden erfolgen. Dabei kommt es auch darauf an, dass die wissenschaftliche Anerkennung bereits zum Zeitpunkt der Behandlung bestand.

BVerwG, Urteil vom 02.11.2022 – 5 A 1.21 –

Der Fall

Die Beteiligten streiten über die Beihilfefähigkeit einer Liposuktion zur Behandlung eines Lipödems.

Die Klägerin ist gegenüber der beklagten Bundesrepublik Deutschland mit einem Bemessungssatz von 50 v. H. beihilfeberechtigt. 2019 erhielt sie die fachärztliche Diagnose, an einem Lipödem des Stadiums II zu leiden. In der Folge ließ sie, der Empfehlung der von ihr konsultierten Ärzte folgend, an den betroffenen Körperregionen eine wasserstrahlassistierte Liposuktion (WAL-Technik) durchführen. Die entsprechenden operativen Eingriffe wurden in einer Fachklinik vorgenommen. Die jeweils am Tag der Behandlung in Rechnung gestellten Aufwendungen belaufen sich auf insgesamt 25500 Euro.

Vor der Durchführung hatte die Klägerin die Beihilfestelle der Beklagten um Kostenübernahme im Rahmen der bestehenden Beihilfeberechtigung gebeten und hierzu den Operationsplan und Kostenvoranschlag eingereicht. Die Kostenübernahme wurde abgelehnt, da die medizinische Notwendigkeit für die Liposuktion nach aktuellem Wissenschaftsstand bei einem Lipödem im Stadium II nicht belegt sei. Die Klägerin legte Widerspruch ein. Mit Rücksicht auf die laufende Erprobungsstudie zur Liposuktion für alle drei Krankheitsstadien sei hier § 137c Abs. 3 SGB V anzuwenden. Danach hätten Versicherte einen Anspruch auf eine vom Gemeinsamen Bundesausschuss noch nicht abschließend bewertete Behandlungsmethode, wenn diese das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative biete und nach den Regeln der ärztlichen Kunst angewandt werde. Diese Voraussetzungen seien im Hinblick auf die Liposuktionen erfüllt. Diese seien in ihrem Fall auch medizinisch notwendig, da konservative Maßnahmen nicht zum Erfolg geführt hätten. Zudem legte die Klägerin eine weitere, auf den 3. April 2020 datierte ärztliche Stellungnahme vor. Gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid legte sie Klage ein.

Die Liposuktionen seien nach erfolglosem Ausschöpfen der konservativen Therapien als Ultima Ratio medizinisch notwendig gewesen bzw. notwendig.

Die Entscheidung

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen, die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Beihilfe zu den Aufwendungen der bei ihr durchgeführten Liposuktionen.

Maßgeblich für das Bestehen des geltend gemachten Beihilfeanspruchs ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen, für die Beihilfe verlangt wird (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2021). Daher sind vorliegend hinsichtlich der Liposuktion an den Unterschenkeln, Oberschenkelvorderseiten und Armen, die im Juli, September und November 2020 durchgeführt und in Rechnung gestellt wurden, die Vorschriften der Verordnung über Beihilfe in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen (Bundesbeihilfeverordnung - BBhV) vom 13. Februar 2009 (BGBl. I S. 326) in der durch Art. 4a des Medizinprodukte-EU-Anpassungsgesetzes vom 28. April 2020 (BGBl. I S. 960) geänderten Fassung - BBhV a. F. - anwendbar. Bezüglich der im Februar 2022 durchgeführten und in Rechnung gestellten Liposuktion an den Oberschenkelrückseiten ist auf die am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Fassung der Neunten Verordnung zur Änderung der Bundesbeihilfeverordnung vom 1. Dezember 2020 (BGBl. I S. 2713, berichtigt am 1. März 2021 <BGBl. I S. 343>) - BBhV n. F. - abzustellen. Sowohl nach der alten wie auch der neuen Fassung der Bundesbeihilfeverordnung besteht bereits dem Grunde nach kein Anspruch auf die begehrte Beihilfe, weil die Liposuktionsbehandlungen der Klägerin im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Durchführung nicht - wie von § 6 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 Bundesbeihilfeverordnung (BBhV) a. F. und § 6 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 4 Satz 1 BBhV n. F. gleichermaßen gefordert - notwendig waren. Ein Beihilfeanspruch ergibt sich auch nicht aus Härtefallgesichtspunkten oder unmittelbar aus dem durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Fürsorgegrundsatz. Die beiden letztgenannten Ablehnungsgründe werden im Folgenden nicht ausgeführt, dargestellt wird die fehlende Beihilfefähigkeit gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 BBhV a. F. bzw. § 6 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 4 Satz 1 BBhV n. F.

Danach sind grundsätzlich nur notwendige und wirtschaftlich angemessene Aufwendungen beihilfefähig. Die Notwendigkeit von Aufwendungen für Untersuchungen und Behandlungen setzt dabei grundsätzlich voraus, dass diese nach einer wissenschaftlich anerkannten Methode vorgenommen werden. Als nicht notwendig gelten in der Regel Untersuchungen und Behandlungen, soweit sie in der Anlage 1 ausgeschlossen werden. Letzteres trifft auf die Liposuktion nicht zu. Diese stellt aber in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum keine wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode bei einem Lipödem des Stadiums II dar. Die betreffenden Aufwendungen erweisen sich auch nicht ausnahmsweise als notwendig.

Die medizinische Notwendigkeit als Voraussetzung für die Beihilfegewährung ist ein der gerichtlichen Überprüfung voll zugänglicher, unbestimmter Rechtsbegriff. Aufwendungen in Krankheitsfällen sind danach dem Grunde nach notwendig, wenn sie für eine medizinisch gebotene Behandlung entstanden sind, die der Wiedererlangung der Gesundheit, der Besserung oder Linderung von Leiden, der Beseitigung oder dem Ausgleich körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen dient. Eine Behandlungsmethode ist wissenschaftlich anerkannt, wenn sie von der herrschenden oder doch überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft für eine Behandlung der Krankheit als wirksam und geeignet angesehen wird. Ob eine bestimmte Methode zur Behandlung von Krankheiten von der jedenfalls überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft als wirksam und geeignet angesehen wird, betrifft den Bereich der Tatsachen, nicht die rechtliche Würdigung (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 26. Juni 2020 - 5 C 4.19). Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Maßstäbe war die Liposuktion im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer jeweiligen Durchführung zur Behandlung eines Lipödems des Stadiums II nicht wissenschaftlich anerkannt.

Diese Würdigung liegt bereits zahlreichen Entscheidungen der bisher nahezu einhelligen Rechtsprechung zugrunde (vgl. etwa BSG, Urteil vom 25. März 2021 - B 1 KR 25/20 R -). Danach wird die Liposuktion von der überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft - unabhängig von dem Schweregrad des konkreten Krankheitsbildes - zur Behandlung eines Lipödems bislang nicht als wirksam und geeignet angesehen. Dies indizieren zunächst einige Entscheidungen, die der Gemeinsame Bundesausschuss seit 2017 im Hinblick auf die Liposuktion als Behandlung eines Lipödems zulasten der gesetzlichen Krankenkassen getroffen hat, welche einschließlich ihrer jeweiligen Begründung über die Internetseite des Ausschusses (www.g-ba.de) allgemein zugänglich sind. Aussagekräftig ist zunächst die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 20. Juli 2017, das im Jahre 2014 auf Antrag der Patientenvertretung eingeleitete Verfahren nach § 135 Abs. 1, § 137c Abs. 1 SGB V zur Bewertung der Liposuktion beim Lipödem auszusetzen und die Beratungen zu einer Erprobungs-Richtlinie gemäß § 137e Abs. 1 SGB V aufzunehmen. Daraus ist zu schließen, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine ausreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlagen, um die Liposuktion als wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode bei einem Lipödem anzusehen. Denn der Gemeinsame Bundesausschuss ist gemäß § 137c Abs. 1 Satz 3 SGB V zu einer derartigen Entscheidung nur befugt, wenn der Nutzen einer Methode noch nicht hinreichend belegt ist, sie aber das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet. In Übereinstimmung mit diesen gesetzlichen Vorgaben wird in den "Tragenden Gründen" zu den Beschlüssen vom 20. Juli 2017 über einerseits eine Änderung der "Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung" und andererseits eine Änderung der "Richtlinie Methoden Krankenhausbehandlung", jeweils betreffend die Liposuktion bei Lipödem, festgehalten, dass der Nutzen für die Methode der Liposuktion bei Lipödem noch nicht hinreichend belegt sei. Bei der Evidenzrecherche seien nur wenige Studien gefunden worden. Deren Ergebnisse seien nicht ausreichend, um den medizinischen Nutzen und die Risiken der Liposuktion abschließend bewerten zu können. Für eine valide Nutzenbewertung der Liposuktion bei Lipödem fehlten bezüglich aller drei Krankheitsstadien vielmehr hinreichende Erkenntnisse zum Nutzen der Liposuktion im Vergleich zur konsequent durchgeführten konservativen Behandlung in Bezug auf die Symptomreduktion, die Lebensqualität und das Erfordernis (weiterer) konservativer Maßnahmen, zur Notwendigkeit von Folge- und Wiederholungseingriffen oder zur langfristigen Sicherheit, insbesondere im Hinblick auf die Funktion der Lymphbahnen und die Entwicklung von (sekundären) Lymphödemen. Diese Erkenntnisse müssten durch eine randomisierte kontrollierte Studie ermittelt werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat bei dieser Bewertung - wie den "Tragenden Gründen" weiter zu entnehmen ist - die Ergebnisse des Abschlussberichts seiner Abteilung Fachberatung Medizin, die Auswertung der bei ihm anlässlich der Veröffentlichung des Beratungsthemas eingegangenen Einschätzungen einschließlich der dort benannten Literatur, die im Rahmen des Stellungnahmeverfahrens abgegebenen Äußerungen der einschlägigen medizinischen Fachgesellschaften und der Bundesärztekammer sowie die Ergebnisse der durchgeführten Expertenanhörung berücksichtigt.

Auch nachfolgenden Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses lassen erkennen, dass sich an der unzureichenden Datenlage bis zum Ende des hier maßgeblichen Zeitraums nichts geändert hat.

Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn wird für Krankheitsfälle grundsätzlich abschließend durch die Beihilfevorschriften konkretisiert (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 26. April 2018 - 5 C 4.17 -). Sie fordert von Verfassungswegen nicht den Ausgleich jeglicher Aufwendungen im Krankheitsfall und auch nicht deren Erstattung in jeweils vollem Umfange (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2021 - 5 C 18.19 -). Dementsprechend lässt sich unmittelbar aus der Fürsorgepflicht grundsätzlich kein über die beihilferechtlichen Regelungen hinausgehender Anspruch herleiten, wenn sich aus diesen für bestimmte krankheitsbedingte Aufwendungen ein Leistungsausschluss oder eine Leistungsbegrenzung ergibt. Auf die verfassungsrechtliche Fürsorgepflicht als Grundlage eines Beihilfeanspruchs kann nur ausnahmsweise zurückgegriffen werden, wenn dadurch der nicht zur Disposition des Dienstherrn stehende Wesenskern der Fürsorgepflicht betroffen ist, weil der Beihilfeberechtigte mit erheblichen finanziellen Kosten belastet bleibt, die er durch die Regelalimentation und eine zumutbare Eigenvorsorge nicht bewältigen kann. Gemessen daran scheidet ein Beihilfeanspruch auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht hier aus.

Das Fazit

Die Notwendigkeit von Aufwendungen für Untersuchungen und Behandlungen setzt dabei grundsätzlich voraus, dass diese nach einer wissenschaftlich anerkannten Methode vorgenommen werden.

Aufwendungen in Krankheitsfällen sind danach dem Grunde nach notwendig, wenn sie für eine medizinisch gebotene Behandlung entstanden sind, die der Wiedererlangung der Gesundheit, der Besserung oder Linderung von Leiden, der Beseitigung oder dem Ausgleich körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen dient. Eine Behandlungsmethode ist wissenschaftlich anerkannt, wenn sie von der herrschenden oder doch überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft für eine Behandlung der Krankheit als wirksam und geeignet angesehen wird.

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