Nur mit ausreichenden Mitgliedern ist eine Arbeitnehmerkoalition auch tariffähig

Ob eine Vereinigung von Arbeitnehmenden als tariffähige Gewerkschaft anerkannt wird, kann davon abhängig gemacht werden, ob sie eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite aufweist. Der Rechtsspruch eines Landesarbeitsgerichts, eine Vereinigung mit einem Organisationsgrad von höchstens 0,5 Prozent sei nicht tariffähig, verletzt das Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht (BVerfG, Beschluss vom 13. September 2019, Aktenzeichen 1 BvR 1/16).

Der Fall

Die Beschwerdeführerin ist eine Vereinigung von Arbeitnehmenden in der privaten Versicherungsbranche. Das Hessische Landesarbeitsgericht hat mit Beschluss vom 9. April 2015 (9 TaBV 225/14) entschieden, dass die Vereinigung keine tariffähige Gewerkschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) sei. Es sei weder aus vergangener Teilnahme am Tarifgeschehen, noch aus der Größe und Zusammensetzung ersichtlich, dass sie über die erforderliche Durchsetzungskraft verfüge. Für die konkrete Beurteilung der Mächtigkeit und Leistungsfähigkeit einer Vereinigung von Arbeitnehmenden komme – neben ihrer vergangenen Teilnahme am Tarifgeschehen – ihrer Mitgliederzahl eine entscheidende Bedeutung zu. Zudem sei bei einer noch recht jungen Organisation die Durchsetzungskraft und Mächtigkeit prognostisch zu beurteilen. Aus dem Vortrag der Beschwerdeführerin ergebe sich jedoch keine tragfähige Prognose für die Fähigkeit, Tarifverhandlungen und Tarifabschlüsse für die Versicherungswirtschaft zu erzwingen. Aus ihren Darlegungen ließe sich mathematisch ein Organisationsgrad von mindestens 0,05 Prozent und höchstens 0,5 Prozent ableiten. Die Vereinigung ist der Auffassung, die Entscheidung verletze unter anderem Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG), und zog deshalb nach Karlsruhe.

Die Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die Anerkennung einer Vereinigung von Arbeitnehmenden als tariffähige Gewerkschaft von der Anzahl und Zusammensetzung ihrer Mitglieder abhängig zu machen, verletze das Grundgesetz nicht. Die Mitgliederzahl gebe vor allem Aufschluss darüber, ob eine Arbeitnehmervereinigung hinreichend Druck auf den sozialen Gegenspieler aufbauen kann, um Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags zu erzwingen. Da es keine gesetzliche Regelung gibt, die ausdrücklich klärt, wann eine Arbeitnehmerkoalition als Gewerkschaft anzusehen ist, seien die Arbeitsgerichte befugt, die Voraussetzungen für die Anerkennung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition im Wege der Auslegung des TVG im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG näher zu umschreiben. Es dürften dabei aber keine Anforderungen an die Tariffähigkeit gestellt werden, die erheblich auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken, diese unverhältnismäßig einschränken und so zur Aushöhlung der durch Art. 9 Abs. 3 GG gesicherten freien Koalitionsbildung und -betätigung führten. Im vorliegenden Fall durfte das Fachgericht zur Beurteilung der sozialen Mächtigkeit auf die Anzahl und Zusammensetzung der Mitglieder der Beschwerdeführerin abstellen. Die Annahme, dass sich aus einem Organisationsgrad von nicht mehr als 0,5 Prozent unter der Berücksichtigung der konkreten Zusammensetzung der Vereinigung keine hinreichende Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler ergebe, ist nach Auffassung des BVerfG nachvollziehbar.

Das Fazit

Die Entscheidung zeigt, wie wichtig es ist, dass sich Vereinigungen von Beschäftigten gut organisieren, um Mitglieder werben und halten zu können. Arbeitnehmende sind nur gemeinsam stark und können auch nur gemeinsam Druck aufbauen, bis hin zum Arbeitskampf.

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