TdL und Hessen
EuGH stärkt Eltern behinderter Kinder am Arbeitsplatz
Der EuGH verpflichtet Arbeitgebende von Eltern behinderter Kinder zur Rücksichtnahme auf deren Belange (Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 11. September 2025, Aktenzeichen C 38/24).
Der Fall
Die Klägerin, eine Arbeitnehmerin aus Italien, ist Mutter eines minderjährigen schwerbehinderten Kindes. Sie arbeitete als „Stationsaufsicht“ und war in dieser Eigenschaft für die Überwachung und Kontrolle einer U-Bahn-Station zuständig. Ihr Sohn muss nachmittags regelmäßig medizinisch behandelt werden; dazu muss er begleitet werden.
Um diese Begleitung übernehmen zu können, forderte die Klägerin die Festlegung verbindlicher Arbeitszeiten auf den Vormittag. Der Arbeitgeber gewährt ihr zwar befristet gewisse Erleichterungen, aber keine verbindliche Verlegung der Arbeitszeiten auf Dauer. Daher klagte sie zunächst in Italien durch alle Instanzen wegen Diskriminierung. Ihr Argument: Sie werde schlechter gestellt, weil ihr Arbeitgeber nicht berücksichtige, dass sie Mutter eines schwerbehinderten Kindes sei. Das oberste italienische Gericht rief den EuGH an.
Die Entscheidung
Der EuGH gab der Klägerin Recht. Im Kern ging es um die Frage, ob die europäische Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (RL 2000/78/EG) nur die behinderten Personen selbst vor Diskriminierungen schützt oder auch deren Betreuungspersonen. Laut EuGH gilt Letzteres. Ziel der Richtlinie sei es, in Beschäftigung und Beruf jede Form der Diskriminierung wegen einer Behinderung zu bekämpfen. Deswegen müssten auch berufstätige Eltern schwerbehinderter Kinder im Arbeitsleben vor unzulässiger „Mitdiskriminierung“ geschützt werden. Konkret seien Arbeitgebende verpflichtet, solchen Arbeitnehmenden bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit entgegenzukommen und entsprechend angemessene Vorkehrungen zu treffen, sodass diese Eltern ihren behinderten Kindern die erforderliche Unterstützung zukommen lassen können. Dies gilt allerdings nicht unbegrenzt, sondern nur, sofern die Arbeitgebenden dadurch nicht unverhältnismäßig belastet würden. Kriterien seien etwa der finanzielle Aufwand sowie Größe und Ressourcen des Unternehmens.
Das Fazit
Ob die Klägerin konkret die Festlegung ihrer Arbeitszeit auf den Vormittag verlangen kann oder hier gewichtige Gründe für eine zu hohe Belastung der Arbeitgebenden sprechen, wird nun wieder in Italien entschieden. Das vorliegende Urteil stellt auch für Deutschland klar: Die Eltern schwerbehinderter Kinder genießen in der EU Schutz vor dadurch bedingter Diskriminierung. Der Schutz erschöpft sich nicht darin, „aktive“ Diskriminierungen zu unterlassen. Er kann auch eine Pflicht zur Rücksichtnahme enthalten. Eltern können von Arbeitgebenden die Ausgestaltung von Arbeitszeiten verlangen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Betreuung behinderter Kinder gewährleisten. Das stärkt Betroffene in ihrem schwierigen Spagat zwischen Pflege- und Arbeitsverpflichtungen.


