Befreiung von der Nachtschicht wegen Gesundheitsgefährdung

Die Betriebsparteien sind nicht befugt, arbeitsmedizinische Feststellungen selbst in Frage zu stellen und dem Arbeitnehmer die jährliche Vorlage einer arbeitsmedizinischen Feststellung aufzuerlegen, wenn ihm bereits eine dauerhafte Nachtschichtuntauglichkeit bescheinigt wurde (LArbG Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Januar 2018, Aktenzeichen 19 TaBV 2/17).

Der Fall

Der Arbeitgeber betreibt eine Drogeriemarktkette. Der antragstellende Betriebsrat vereinbarte im Zusammenhang mit der Umstellung von einem Zwei-Schicht-Betrieb auf einen Drei-Schicht-Betrieb mit dem Arbeitgeber (Antragsgegner) eine Betriebsvereinbarung „Interessenausgleich / Sozialplan“ mit einem Anhang zur „Vorgehensweise zu Anträgen auf Befreiung von der Nachtarbeit gem. § 6 Abs. 4 Arbeitszeitgesetz (AZG)“ (nachfolgend Betriebsvereinbarung „Nachtarbeit“).

Nach dieser Betriebsvereinbarung steht eine Befreiung von der Nachtarbeit Personen zu, die Kinder oder pflegebedürftige Angehörige betreuen, sowie Beschäftigten, die nach arbeitsmedizinischer Feststellung durch die weitere Verrichtung von Nachtarbeit in ihrer Gesundheit gefährdet werden. In dem Antrag sollen Angaben zur voraussichtlichen Dauer der Befreiung und dem Grund für die benötigte Sonderarbeitszeit mitgeteilt werden. Weiter ist dem Antrag ein arbeitsmedizinisches Gutachten beizufügen. Alle zwölf Monate ist der weitere Bedarf an der Sonderarbeitszeit schriftlich beim Arbeitgeber anzuzeigen. Zwischen den Beteiligten besteht Streit, inwiefern Arbeitnehmer, die aus gesundheitlichen Gründen einen entsprechenden Antrag gestellt haben, gehalten sind, in jedem Fall alle zwölf Monate einen neuen beziehungsweise einen Folgeantrag unter Vorlage eines aktuellen ärztlichen Attests zu stellen. Der Betriebsrat ist der Ansicht, dass der Arbeitgeber bei ärztlich attestierter dauerhafter Nachtschichtuntauglichkeit kein aktuelles Attest alle zwölf Monate verlangen darf. Der Arbeitgeber ist hingegen der Ansicht, dass nach der Betriebsvereinbarung „Nachtarbeit“ alle zwölf Monate ein erneutes arbeitsmedizinisches Gutachten vorzulegen ist. Auch in den Fällen eines unbefristet ausgestellten arbeitsmedizinischen Gutachtens liege eine Prognoseentscheidung vor. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung müsse deshalb nicht ohne Weiteres für die gesamte Dauer des Arbeitsverhältnisses fortbestehen, weshalb eine regelmäßige Überprüfung angezeigt sei. Der Betriebsrat möchte gerichtlich feststellen lassen, dass das Verlangen eines neuen arbeitsmedizinischen Gutachtens im Abstand von jeweils zwölf Monaten – bei einer ärztlicherseits unbefristet festgestellten Nachtschichtuntauglichkeit – gegen die Betriebsvereinbarung verstößt. Das Arbeitsgericht hat den Feststellungsantrag zurückgewiesen.

Die Entscheidung

Die Beschwerde des Betriebsrats vor dem Landesarbeitsgericht (LArbG) hatte Erfolg. Die Auslegung von Betriebsvereinbarungen richtet sich wegen ihrer aus § 77 Abs. 4 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) folgenden normativen Wirkung nach den Grundsätzen der Tarif- und Gesetzesauslegung. Ausgehend vom Wortlaut der Betriebsvereinbarung „Nachtarbeit“ sowie unter Berücksichtigung von systematischen Aspekten sowie Sinn und Zweck derselben kann nicht festgestellt werden, dass der Arbeitgeber berechtigt ist, ein aktuelles arbeitsmedizinisches Gutachten im Abstand von jeweils zwölf Monaten auch von den Arbeitnehmern zu verlangen, bei denen arbeitsmedizinisch eine unbefristete Nachtschichtuntauglichkeit in dem Sinne festgestellt ist, dass die weitere Verrichtung von Nachtarbeit sie dauerhaft in ihrer Gesundheit gefährdet. Das LArbG hat im Rahmen der systematischen Auslegung der Betriebsvereinbarung die strengen Vorlagepflichten, die alle zwölf Monate erfolgen sollten, zunächst den in der Betriebsvereinbarung ebenfalls geregelten Sonderarbeitszeiten bei Betreuung minderjähriger Kinder zugeordnet, da hier mit einer Änderung der Betreuungssituation in regelmäßigen Abständen zu rechnen sei. Dasselbe gelte auch bei einer befristet festgestellten Nachtschichtuntauglichkeit. In den Fällen hingegen, in denen eine dauerhafte Nachtschichtuntauglichkeit attestiert wird, können die Betriebsparteien in diese Feststellungen nicht eingreifen, sondern müssen sie hinnehmen. Nach § 6 Abs. 4 Satz 1 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) hat der Arbeitgeber den Nachtarbeitnehmer auf dessen Verlangen auf einen für ihn geeigneten Tagesarbeitsplatz unter anderem dann umzusetzen, wenn nach arbeitsmedizinischer Feststellung die weitere Verrichtung von Nachtarbeit den Arbeitnehmer in seiner Gesundheit gefährdet. Außerdem stehen dem Betriebsrat nach Satz 2 und 3 der Vorschrift Anhörungs- und Vorschlagsrechte für den Fall zu, dass der Umsetzung des Nachtarbeitnehmers auf einen für ihn geeigneten Tagesarbeitsplatz nach Auffassung des Arbeitgebers dringende betriebliche Erfordernisse entgegenstehen. Daraus ergibt sich, dass den Betriebsparteien die Befugnis nicht zusteht, arbeitsmedizinische Feststellungen selbst in Frage zu stellen. Auch die Frage, ob und durch wen sich ein Nachtarbeitnehmer untersuchen lässt, unterliegt nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats. Die Nachtarbeitnehmer können auch nicht durch Betriebsvereinbarung zur Teilnahme an Untersuchungen nach § 6 Abs.3 ArbZG verpflichtet werden.

Das Fazit

Bereits mit Urteil vom 28. Januar 1992 – Aktenzeichen 1 BvR 1025/82 – hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt, dass Nachtarbeit schädlich für die Gesundheit ist, und verlangt, dass wichtige Schutzpflichten gesetzlich geregelt werden. Solche Regelungen beinhaltet § 6 ArbZG. Nähere Einzelheiten können durch Betriebsvereinbarungen geregelt werden. Bislang sind arbeitsgerichtliche Streitigkeiten zu diesem Thema selten gewesen, insofern hat die vorliegende Entscheidung eine besondere praktische Bedeutung. In der Entscheidung wird auch zutreffend festgestellt, dass die Modalitäten der Nachtschichtumsetzung auch dem Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG unterliegen, weil diese Norm dem Gesundheitsschutz dient und die betriebliche Umsetzung nicht abschließend geregelt ist.

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