dbb magazin 5/2022

dbb magazin Bildung und Soziale Arbeit | Zentrale Aufgabe Interview | Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz Mitbestimmung | Wie Personal- und Betriebsratsarbeit digitaler werden 5 | 2022 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

STARTER Bildungserfolge brauchen soziale Arbeitserfolge Der Sozial- und Erziehungsdienst wird offenbar nicht für voll genommen, wie der aktuelle Tarifkonflikt wieder einmal drastisch vor Augen führt. Es geht zwar „nur“ um 330000 Beschäftigte, die von der eiskalten Sparpolitik der öffentlichen Träger betroffen sind, aber ein Drittel von ihnen arbeitet in Kitas. Sie sind daher in hohem Maße verantwortlich für die Zukunft unserer Kinder. In der nächsten und vielleicht letzten Tarifrunde imMai entscheidet sich auch ihre Zukunft. Bei Schulkindern haben Lehrkräfte eine zentrale Rolle für den Bildungserfolg. Deshalb ist der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien, deren Ausbildung besonders wichtig, wie sie im Interview deutlich macht. Dietmar Sehers Reportage über eine Kita (wo ja alles beginnt) zeigt zwar, dass diese Branche boomt, aber dennoch am Stock geht. Mangelnde Wertschätzung ist dafür nur ein Grund. Der pädagogische Anspruch leidet vor allem unter dem gravierenden Personalmangel. Ein Beispiel für die besondere Bedeutung sozialer Arbeit bietet auch Sebastian Gouw, der bei der Stadt Hamm Jugendliche in Strafverfahren begleitet und berät. Und was die Bildung betrifft: Ein dbb Positionspapier zum Schuljahr 2022 fordert sichere Lehr-, Unterrichts- und Betreuungsqualität nach zwei Jahren Pandemie. Auch hier darf der soziale Hintergrund nicht aus den Augen verloren werden. red 14 21 TOPTHEMA Bildung und Soziale Arbeit 30 AKTUELL NACHRICHTEN 4 MITBESTIMMUNG Betriebsverfassungsrecht: Schwarze Bretter müssen schnell digital werden 8 Personalvertretungsrecht: Gewerkschaften brauchen digitalen Zugang zu den Amtsstuben 9 MEINUNG Mehr Markt braucht mehr Staat 12 TARIFPOLITIK Sozial- und Erziehungsdienst: Warnstreiks und Aktionen für ein Angebot 13 FOKUS INTERVIEW Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) 14 REPORTAGE Wo Erzieher täglich auf die Knie gehen 16 NACHGEFRAGT Sozialarbeiter Sebastian Gouw: Der Soziale Dienst vor Gericht 20 BILDUNGSPOLITIK dbb Positionspapier fordert Konsequenzen nach zwei Pandemiejahren 21 VORGESTELLT Sprachpraxis für Deutschlehrende im Ausland 24 EUROPA Europäische Außen- und Sicherheitspolitik: Die Mitgliedstaaten und Institutionen der EU sollten mit einer Stimme sprechen 26 INTERN SENIOREN 28 FRAUEN IAB-Studie zu Frauen in MINT-Berufen: „Weibliche Vorbilder am Arbeitsplatz sind wichtig“ 30 JUGEND Ausblick auf den Bundesjugendtag 2022 33 SERVICE 34 Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 Foto: Colourbox.de 8 AKTUELL 3 dbb magazin | Mai 2022

NACHRICHTEN Infrastruktur Neues Verständnis für öffentliche Daseinsvorsorge erforderlich Im Gespräch mit Bundesverkehrsminister Volker Wissing hat dbb Chef Ulrich Silberbach massive Investitionen in staatliche Infrastruktur und Personal gefordert. Ob Klimawandel, Pandemie oder jetzt sogar ein Angriffskrieg in Europa: Alle großen Krisen unserer Zeit machen deutlich, dass nur ein aktiver und leistungsfähiger Staat die Sicherheit und den Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger schützen kann. Wir brauchen ein neues Verständnis für öffentliche Daseinsvorsorge. Und zwar jetzt. Denn hektische Reparaturarbeiten im Notfall sind auf Dauer immer teurer als vorausschauende Planung in guten Zeiten“, sagte der dbb Bundesvorsitzende bei dem Treffen im Bundesministerium für Digitales und Verkehr am 12. April 2022. „Wir haben einen riesigen Investitionsstau bei der Infrastruktur und dem Personal. Um den aufzulösen, braucht es einen gemeinsamen Kraftakt von allen staatlichen Ebenen. Es sind letztlich nahezu alle Politikbereiche betroffen, beispielsweise Sicherheit, Gesundheit oder Bildung – von der allumfassend notwendigen Digitalisierung ganz zu schweigen“, erklärte Silberbach. „Das gilt natürlich auch für den Verkehrssektor: Es wird nicht reichen, mal eben etwas Geld für Bauleistungen an maroden Brücken auf den Tisch zu legen. Wir brauchen auch hier Personal für nachhaltig bessere Planungs-, Genehmigungs- und Instandhaltungskapazitäten ebenso wie für den laufenden Betrieb etwa von Bus und Bahn.“ Als Beispiel für eine mehr vorausschauende Politik verwies der dbb Chef auf die im Zusammenhang mit dem Entlastungspaket der Bundesregierung geplante zeitlich befristete Absenkung der Kosten für ÖPNV-Monatskarten. Silberbach: „Das ist kurzfristig sicherlich ein interessanter Ansatz. Langfristig müssen aber in erster Linie die Angebote insgesamt ausgebaut werden. Im ländlichen Raum fehlt es oft generell an ÖPNV-Verbindungen, in den urbanen Zentren sind sie dagegen schon heute oft nah an der Überlastung. Eine Preissenkung ohne Ausbaustrategie ist deshalb auf Dauer nicht zielführend. Gerade auch mit Blick auf die selbst gesteckten Ziele bei der CO₂-Reduzierung in diesem Sektor.“ ■ dbb Gewerkschaftstag 2022 In der Zeit vom 27. bis 30. November 2022 führt der dbb beamtenbund und tarifunion in Berlin seinen Gewerkschaftstag durch. Der Gewerkschaftstag ist das oberste Organ des dbb und findet turnusgemäß alle fünf Jahre statt. Im November 2022 werden die stimmberechtigten Delegierten des Gewerkschaftstages den politischen Kurs für die kommende Legislatur festlegen und eine neue Bundesleitung wählen. Die Einladung zum Gewerkschaftstag wird durch die amtierende Bundesleitung in Form einer schriftlichen Mitteilung ausgesprochen, die Zeit, Ort, Tagesordnung und die eingegangenen Anträge enthält. Sie erfolgt mindestens vier Wochen vor dem Gewerkschaftstag. Ankündigung Foto: MuchMania/Colourbox.de 4 AKTUELL dbb magazin | Mai 2022

Personalmangel im öffentlichen Dienst Ausbildungskapazitäten erhöhen dbb Chef Ulrich Silberbach fordert einen massiven Ausbau der Ausbildungskapazitäten im öffentlichen Dienst und warnt vor dramatischen Personalengpässen. Insbesondere auf kommunaler Ebene drohe dem öffentlichen Dienst ein dramatischer Mangel an Fachkräften, warnt der dbb Bundesvorsitzende in einem Gastbeitrag für die Zeitschrift „WirKommunalen“ (Ausgabe April 2022). „Immer mehr Gemeinden, Städte und Landkreise suchen händeringend nach Personal. Ob klassische Verwaltung, Bauamt, IT-Administration, Friedhofswesen, Müllabfuhr, Jobcenter, Stadtreinigung, Wasserwerke oder Kläranlagen – in nahezu allen Sparten werden neue Mitarbeitende gesucht.“ Bereits aktuell fehlten im öffentlichen Dienst insgesamt mehr als 300000 Beschäftigte, in den nächsten zehn Jahren würden rund 1,3 Millionen altersbedingt ausscheiden. „Der Personalmangel in den Kommunen, wo rund 80 Prozent der Dienstleistungen der öffentlichen Hand angeboten werden, hat schon heute für die Bürgerinnen und Bürger weitreichende Konsequenzen bei der öffentlichen Daseinsvorsorge.“ Um die Aufgabenerfüllung der öffentlichen Hand nachhaltig zu sichern und zukunftsfest aufzustellen, müsse der öffentliche Dienst „in allen Gebietskörperschaften gestartete Personalgewinnungsstrategien nachhaltig ausweiten. Das wird aber nicht reichen, der Staat muss auf potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten bestenfalls schon in den Schulen und Universitäten zugehen und offensiv für sich als Arbeitgeber werben“, fordert Silberbach. „In der öffentlichen Wahrnehmung dominieren immer noch tradierte Vorstellungen über schwerfällige und streng bürokratische Amtsstuben. Wir müssen die eigene Attraktivität, die Stärken und Vorteile einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst auf kommunaler Ebene wieder stärker herausstellen.“ Eindringlich warnt Silberbach vor Sparmaßnahmen im Staatsdienst. Personell und technisch schlecht ausgestattet, befinde sich dieser nicht erst seit der Coronapandemie „quasi im Dauerstresstest. Eine neuerliche Sparwelle, die den öffentlichen Sektor weiter schwächt, wäre ein historischer Fehler. Was wir jetzt brauchen, sind viel mehr neue Investitionen in den öffentlichen Dienst und die staatliche Infrastruktur. Fachkräftemangel, Digitalisierung, Klimaschutz, der demografische Wandel – die Liste der Herausforderungen, vor denen insbesondere die rund 11400 Kommunen in Deutschland stehen, ist lang. Ohne einen leistungsfähigen und motivierten öffentlichen Dienst werden diese Zukunftsaufgaben nicht zu bewältigen sein.“ ■ ... ist das Magazin des überparteilichen Netzwerks Junge Bürgermeister*innen. In Deutschland gibt es aktuell über 600 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die bei ihrer letzten Wahl jünger als 40 Jahre alt waren. „WirKommunalen“ ... Angesichts der großen Herausforderungen durch die Betreuung von Geflüchteten aus der Ukraine sind zusätzliche Ressourcen für das Schulwesen dringend erforderlich. „Wir stehen in Deutschland und Europa in der Verantwortung, die Geflüchteten willkommen zu heißen und ihnen Schutz zu bieten. Wir müssen ihnen daher möglichst schnell den Zugang zu Bildung und professioneller Betreuung ermöglichen. Dabei spielen unsere Schulen eine zentrale Rolle“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 1. April 2022 beim Gewerkschaftstag des Verbandes Deutscher Realschullehrer (VDR). Der Lehrermangel, die verschleppte Digitalisierung, die jahrzehntelange Unterfinanzierung der Bildungseinrichtungen: All das räche sich nun zumwiederholten Male. Silberbach: „Gute Bildung ist jedoch nicht nur entscheidend für die Zukunft jeder und jedes Einzelnen, sondern auch für die Zukunft des ganzen Landes.“ Mehr Unterstützung für Schulen Model Foto: Colourbox.de Model Foto: Colourbox.de AKTUELL 5 dbb magazin | Mai 2022

Fachkräfte Personal halten, Abwanderung verhindern Der öffentliche Dienst muss seine Attraktivität stärker betonen und mehr in Aus- und Weiterbildung investieren, um Personal zu halten. Sonst drohen nicht nur ein demografisch begründeter Personalrückgang, sondern auch die Abwanderung der jüngeren Beschäftigten. 80 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst können sich laut aktuellem „Bleibebarometer“ von Next:Public und Hertie School vorstellen, den Arbeitgeber zu wechseln – eine Zahl, die dbb Chef Ulrich Silberbach Anlass zur Sorge gibt: „Dass die Unzufriedenheit groß ist, ist uns bewusst, aber dass es so enorm ist, wiederum nicht“, sagte er im Interview mit der Zeitung „Das Parlament“ (Ausgabe vom 28. März 2022). „Im Kernbereich des öffentlichen Dienstes fehlen bereits jetzt über 300000 Menschen. Das bedeutet auch, dass die Arbeitsbelastung für alle absehbar immer weiter steigen wird. Die Menschen erkennen das und gerade jene in der Altersgruppe der 35- bis 45-Jährigen ziehen dann eben in Erwägung zu wechseln, bevor ein Wechsel aufgrund des höheren Alters eher schwieriger wird. Neben der demografischen Entwicklung kommt deshalb eine weitere Hürde auf uns zu: Der vorhandene Mittelbau, auf den wir bislang zählen, denkt immer stärker darüber nach, den öffentlichen Dienst zu verlassen.“ Insbesondere in den Bereichen Pflege, Sozial- und Erziehungsdienst sowie IT bestünden ganz erhebliche Personalbedarfe. „Was die Menschen in diesem Land nun spüren, ist, dass der öffentliche Dienst auf Kante genäht wurde und auf Krisensituationen wie eine Pandemie nicht vorbereitet ist. Wir fordern nicht, Personalüberhänge zu produzieren, man kann sich auch nicht auf alle Szenarien vorbereiten. Aber dass ein öffentlicher Dienst leistungsfähig und aufgabengerecht mit Personal ausgestattet sein muss, sollte mittlerweile dem letzten Hinterbänkler klar sein“, machte der dbb Chef deutlich. Um Personal zu gewinnen und zu halten, müsse der Staat deutlich mehr tun, forderte Silberbach: attraktivere Arbeitsbedingungen und konkrete Perspektiven inklusive verlässlicher und moderner Aus- und Weiterbildung. Als Beispiel führte der dbb Bundesvorsitzende den IT-Bereich an: „Eigentlich ist das Interesse gerade bei Berufsanfängern groß, denn die Arbeit im öffentlichen Dienst ist sehr vielfältig. Aber ein großes Manko ist für viele dann einerseits die Bezahlung, ein anderer großer Punkt ist die Qualifizierung. Da hat der öffentliche Dienst einen großen Nachteil. Digitalisierung bedeutet permanenten Workflow. Wer sich nicht ständig aus- und weiterbildet, hat schnell den Anschluss verpasst. Da bieten wir Interessierten einfach nicht genügend Perspektive.“ Das vollständige Interview: www.das-parlament.de ■ Die Qualität der frühkindlichen Bildung ist akut gefährdet Bund, Länder und Kommunen müssen größere Anstrengungen unternehmen, um hochwertige frühkindliche Bildung sicherzustellen. Das gelingt nur durch mehr Personal. „Es ist inzwischen Konsens, dass bis 2030 mindestens 200 000 Fachkräfte in der frühkindlichen Bildung fehlen. Gleichzeitig werden immer neue Aufgaben beschlossen – wie zuletzt der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ab dem Jahr 2026. So begrüßenswert die Maßnahme ist: Wenn wir als Gesellschaft qualitativ erstklassige frühkindliche Bildung wollen, muss die Politik jetzt handeln“, sagte dbb Chef Silberbach am 20. April 2022. Deshalb sei es auch unverständlich, warum die kommunalen Arbeitgebenden bei den Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst die Aufwertung des Berufsfeldes verweigerten. Model Foto: Colourbox.de Foto: eamesBot/Colourbox.de 6 AKTUELL dbb magazin | Mai 2022

Europarechtliche Einflüsse auf das Beamtenrecht Am 27. Juni 2022 von 13 bis 16.30 Uhr wird sich das 8. dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST im dbb forum in Berlin-Mitte mit den Einflüssen des Europarechts auf das deutsche Beamtenrecht befassen. Die Präsenzveranstaltung wird im Livestream begleitet. Die Europäische Union hat zwar keine unmittelbare Regelungskompetenz in Bezug auf das verfassungsrechtlich verankerte deutsche Beamtenrecht – faktisch jedoch beeinflusst das Unionsrecht das Beamtenrecht in erheblichemMaße, beispielsweise durch die europarechtlichen Vorgaben für Beschäftigungsverhältnisse. Dieses Spannungsfeld möchte der dbb unter verschiedenen Gesichtspunkten näher beleuchten und dazu mit Expertinnen und Experten ins Gespräch kommen. Erörtert werden soll, in welchen Bereichen die Einwirkungen des Unionsrechts auf das Beamtenrecht besonders stark sind, wo potenzielle neue Einfallstore entstehen und in welchen Bereichen sich Gefahren und Risiken für das nationale Beamtenrecht ergeben können. Öffentliches Dienstrecht und Verwaltungshandeln von Bundes- und Landesverwaltungen sind bereits heute von Rechtsakten der Europäischen Union beeinflusst. Insoweit sind unter anderem ein gutes Verständnis für Verfahrensweisen auf EU-Rechtssetzungsebene und solide Kenntnisse zum Vollzug von EU-Recht durch die Bundes- und Landesverwaltungen unerlässlich. Deshalb soll auch der Frage nachgegangen werden, wie die europarechtliche und europapolitische Kompetenz der Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit Blick auf eine sachkompetente Interessenwahrnehmung auf europäischer Ebene gefördert und ausgebaut werden kann. Mit dem dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST bietet der dbb eine Veranstaltungsreihe und Austauschplattform von Fachleuten für Fachleute und die interessierte Öffentlichkeit zu ausgewählten aktuellen Fragestellungen des öffentlichen Dienstes, schwerpunktmäßig aus dem Beamtenbereich. Weitere Informationen: www.dbb.de/ veranstaltungen/dbb-forum-oeffentlicher-dienst.html Ankündigung 8. dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST EU-Recht versus Berufsbeamtentum? 5. dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST 22. Juni 2020 dbb forum berlin EU-Recht versus Berufsbeamtentum? 5. dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST

Betriebsverfassungsrecht Schwarze Bretter müssen schnell digital werden Der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP sieht auf Bundesebene vor, digitale Plattformen in der Arbeitswelt auszubauen. Sie sind eine Bereicherung und wichtig im Zeitalter der Digitalisierung. Daher setzt sich der dbb bereits seit 2019 für ein digitales Zugangsrecht der Gewerkschaften zu den Dienststellen ein. Die Ausgestaltung der Mitgliederwerbung und -information ist Teil der von Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) geschützten Betätigungsfreiheit und muss von den Arbeitgebenden geduldet werden. Zu den anerkannten Kontaktmöglichkeiten gehören die Unterhaltung eines „Schwarzen Bretts“ als Informationsmedium, das Werben um Mitglieder und die Ziele der Gewerkschaft in Dienststelle und Betrieb mit Flugblättern sowie das Ansprechen von Beschäftigten einschließlich Aushändigung von Informations- und Werbematerial. Werbliche Aktivitäten einzelner Gewerkschaftsmitglieder qualifiziert das Bundesverfassungsgericht zudem als durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Meinungsäußerungen. Diese Grundrechtsverwirklichung setzt praktikable und gleichberechtigte Nutzungsmöglichkeiten der jeweils verwendeten digitalen Kommunikationswege durch die in der Dienststelle vertretenen Gewerkschaften voraus. „Gewerkschaften brauchen dringend ein elektronisches Zugangsrecht zum Betrieb. Der Anteil an Beschäftigten, die mobil oder in flexiblen Arbeitszeitmodellen arbeiten, nimmt stetig zu. Daher sind diese Beschäftigten für die Gewerkschaften auf dem herkömmlichen Weg kaum mehr erreichbar. Diese Problematik beim Arbeiten im Homeoffice ist während der Coronapandemie für jedermann offensichtlich geworden“, sagt dbb Vize und Fachvorstand Tarifpolitik, Volker Geyer. Veränderte Arbeitsabläufe Neben „konventionellen“ Aktivitäten kommt dem „digitalen Zugangsrecht“ eine zunehmende Bedeutung zu. Dieser Zuwachs resultiert unmittelbar aus der schnell fortschreitenden Digitalisierung von Arbeitsprozessen und -abläufen in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes. In der Folge haben sich Beschäftigte bereits an Kommunikationsprozesse gewöhnt, die über das Internet ablaufen: Wer für die private und dienstliche Kommunikation vorwiegend Messengerdienste nutzt und Informationen nur noch im Internet sucht, den erreichen konventionelle Flugblätter oder gedruckte Magazine vielfach nicht mehr. Hinzu kommt, dass in „Desk-­ Sharing-Büros“ eine zunehmende Zahl von Beschäftigten nicht mehr an ihren persönlich zugeordneten Arbeitsplätzen tätig ist, sondern an ständig wechselnden Schreibtischen arbeitet. Gleiches gilt für „mobil“ von unterwegs tätige Arbeitnehmende oder für „Telearbeitende“, die zu Hause arbeiten. Gericht bestätigt digitales Zugangsrecht Mit jedem Schritt der Loslösung von konventionellen Arbeitsstrukturen sind Arbeitnehmende für dienststellenbezogene Werbeaktivitäten schwerer erreichbar. Damit erhöht sich die Notwendigkeit digitalisierter Kontaktmöglichkeiten signifikant. Beim digitalen Zugangsrecht geht es daher nicht nur um das Versenden von E-Mails und die Nutzung von E-Mail-Verteilern der Dienststelle. Gewerkschaftliche Werbestrategien treffen in der digitalen Arbeitswelt auf neue Gegebenheiten. So zeichnet sich derzeit beispielsweise ab, dass die E-Mail künftig durch neuartige „digitale Teamoberflächen“ ersetzt wird. Dies führt dazu, dass elektronische Zugangs-, Kontakt-, Werbe- und Informationsmöglichkeiten, die Gewerkschaften in der „analogen Arbeitswelt“ haben, an ein neues technisches Niveau angepasst werden müssen. Grundsätzlich muss den Gewerkschaften ein digitaler Zugang zu den Beschäftigten ermöglicht werden. Das Fotos: Visual Generation/Colourbox.de (5) MITBESTIMMUNG 8 AKTUELL dbb magazin | Mai 2022

Bundesarbeitsgericht hat für den Bereich des Betriebsverfassungsrechts bereits 1995 festgestellt, dass Gewerkschaften ohne weitere Voraussetzungen das Recht zusteht, E-Mails an alle Beschäftigten – Mitglieder ebenso wie Nichtmitglieder – zu versenden. Die öffentliche Verwaltung hat das allerdings überwiegend noch nicht übernommen. Zum Beispiel muss ihnen von der Dienststelle dazu aus Datenschutzgründen ein aktueller Verteiler „an alle“ zur Verfügung gestellt werden. Ihnen ist weiterhin die Möglichkeit einzuräumen, eigene Informationsangebote oder Links zu solchen in vorhandene „Intranets“, beziehungsweise in interne „soziale Netzwerke“, einzustellen. Angesichts der ständigen Fortentwicklung technischer Standards muss der Zugang der Gewerkschaften zu den jeweils in der Dienststelle oder dem Betrieb aktuellen Werbe- und Informationskanälen dauerhaft und bruchfrei eröffnet sein. Bislang haben die Gewerkschaften erreicht, dass im Rahmen der Novellierung des Bundespersonalvertretungsgesetzes zumindest die Möglichkeit geschaffen wurde, auf Verlangen einer Gewerkschaft im Intranet der Dienststelle auf den Internetauftritt der Gewerkschaft zu verlinken. Bei den Tarifverhandlungen zum TV Hessen ist es dem dbb im Oktober 2021 gelungen, den Gewerkschaften in den Mitarbeiterportalen des Landes Hessen die Möglichkeit zur Einrichtung eines digitalen „Schwarzen Bretts“ einzuräumen. ■ Personalvertretungsrecht Gewerkschaften brauchen digitalen Zugang zu den Amtsstuben Zwei Jahre Coronapandemie haben die Arbeitswelt auch in der öffentlichen Verwaltung verändert. Homeoffice und mobiles Arbeiten sind heute in vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes so selbstverständlich, wie es sich vor der Pandemie kaum jemand vorstellen konnte. Mit den neuen Möglichkeiten hat sich auch die Art und Weise verändert, wie Mitbestimmung praktiziert wird. Personalrätinnen und Personalräte müssen mit den Veränderungen Schritt halten können. Dabei ist auch die Politik gefordert. Bereits imMai 2019 hatte der dbb in seinem Positionspapier „Auf demWeg in die Digitalisierung. Mitbestimmen wohin es geht“ gefordert, das Zugangsrecht der Gewerkschaften zur Dienststelle zu modernisieren. Das betrifft die Möglichkeit, gewerkschaftliche Informationen in den Intranets der Dienststellen hinterlegen zu können ebenso wie digitale Wahlwerbung im Umfeld von Personalratswahlen über E-Mail-Verteiler. Denn wo der persönliche Kontakt zu den Beschäftigten aufgrund neuer Arbeitsformen eingeschränkt ist, muss digitaler Ersatz geschaffen werden. Die dbb Forderungen wurden zunächst nicht in dem Entwurf der Novelle des Bundespersonalvertretungsgesetzes (BPersVG) berücksichtigt. In vielen Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der Bundestagsfraktionen und vor dem Innenausschuss setzten sich dbb Vize und Fachvorstand Beamtenpolitik, Friedhelm Schäfer, und die Vorsitzende der dbb jugend, Karoline Herrmann, dafür ein, dass diese notwendigen Neuerungen zumindest teilweise umgesetzt werden. Mit § 9 Abs. 3 Satz 2 BPersVG haben Dienststellen in ihrem Intranet auf Verlangen der Gewerkschaft nunmehr auf deren Internetauftritt zu verlinken. Damit war die Tür zu einem digitalen Zugangsrecht zwar einen Spalt breit geöffnet; ein aktives Zugangsrecht war damit aber noch nicht geschaffen. Alle Ebenen der Kommunikation einbeziehen „Die Möglichkeit, Gewerkschaftsinformationen im Intranet der Dienststelle nur abzuholen, reicht natürlich genauso wenig, wie einen Stapel Flugblätter neben andere zu legen“, sagt Friedhelm Schäfer. „Genauso, wie Gewerkschaftsvertreter in der Dienststelle Beschäftigte ,analog‘ ansprechen, müssen sie ,digital‘ auf die einzelnen Beschäftigten zugehen können.“ Karoline Herrmann ergänzt: „Junge Leute nutzen für private und dienstliche Kommunikation vorwiegend Messengerdienste und suchen Informationen nur noch im Internet. Flugblätter und Magazine im Printformat werden von ihnen nicht mehr wahrgenommen.“ Das digitale AKTUELL 9 dbb magazin | Mai 2022

Zugangsrecht müsse sich daher über die Nutzung des E-Mail-Verteilers der Dienststelle hinaus zum Beispiel auch auf neue digitale Kommunikationsmöglichkeiten wie Teamoberflächen erstrecken und permanent an die technischen Entwicklungen angepasst werden. „Nur so können Gewerkschaften ihr Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG tatsächlich ausüben“, ist Schäfer überzeugt und fordert, das dem Koalitionsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG entspringende analoge Zugangsrecht der Gewerkschaften zur Dienststelle und zu den Beschäftigten zu einem dynamischen digitalen Zugangsrecht auszubauen. Rückenwind für das Vorhaben bekam der dbb durch die Folgen der Coronakrise für die Arbeitswelt und erarbeitete ein konkretisierendes Positionspapier „Zugangsrecht der Gewerkschaften zu den Beschäftigten digitalisieren“. Im Januar 2022 kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil an, die „Erfahrungen des digitalen Arbeitens aus der Coronazeit für eine dauerhafte Weiterentwicklung der betrieblichen Mitbestimmung nutzen“ zu wollen und ein „zeitgemäßes Recht für Gewerkschaften auf digitalen Zugang in die Betriebe, das den analogen Rechten der Gewerkschaft entspricht“, zu schaffen. Das Vorhaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) begrüßt der dbb ausdrücklich. Der dbb stellte dazu aber auch klar, dass es diesbezüglich nur einen Gleichklang geben könne, weil die Rechte der Gewerkschaften in der Privatwirtschaft nicht anders ausgestaltet werden können als in der öffentlichen Verwaltung. „Sie sind in beiden Fällen Ausfluss ihres Grundrechts auf koalitionsmäßige Betätigung“, unterstreicht Schäfer und stellt klar, dass der Transfer eines den Gewerkschaften in den Betrieben eingeräumten Rechts in die öffentliche Verwaltung nicht der Rechtsprechung der Gerichte und damit einem jahrelangen Prozess überlassen werden darf: „Vielmehr ist eine inhaltsgleiche Regelung, beziehungsweise eine allgemeine Transformation des analogen Zugangsrechts der Gewerkschaften zu den Beschäftigten in ein digitales, unverzichtbar. Es stünde der öffentlichen Verwaltung im Übrigen gut an, hier nicht erst auf eine Regelung im Betriebsverfassungsrecht zu warten und diese dann nachzuahmen, sondern selbst initiativ zu werden.“ Personalratsarbeit muss moderner werden Aber nicht nur die Kommunikation der Gewerkschaften mit den Beschäftigten muss in die Zeit gestellt werden, sondern ebenso die Grundlagen für die Personalratsarbeit. So hat sich der dbb im Zuge der Gesetzesnovelle dafür eingesetzt, dauerhafte Optionen zur Durchführung von Personalratssitzungen und Sprechstunden im Video- oder Audioformat zu schaffen. Der Forderung wurde auf Empfehlung des Innenausschusses ebenso entsprochen wie der nach Nutzung audiovisueller Technik bei Personalversammlungen, sprich die Übertragung der Versammlung per Video in Nebenstellen oder Dienststellenteile. Einen weiteren Fortschritt stellt die Zulassung elektronischen Schriftverkehrs zwischen Dienststelle und Personalvertretung sowie einer Beschlussfassung im elektronischen Umlaufverfahren dar. Dasselbe gilt für die Aufnahme des Beteiligungstatbestands Einführung, Änderung und Aufhebung von Arbeitsformen außerhalb der Dienststelle, womit Telearbeit und mobile Arbeit erfasst werden. Auch das damalige Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hatte die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung des BPersVG betont, die bereits in der laufenden Legislaturperiode erfolgen solle. Die Novelle 2021 war dazu nur der erste Schritt. Im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP werden BPersVG oder Personalräte allerdings nicht erwähnt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat im Interviewmit dem dbb magazin (Ausgabe 1-2/2022) lediglich festgestellt, die im Koalitionsvertrag angesprochenen Online-Betriebsratswahlen seien auch für die Personalratswahlen ein „spannendes Digitalisierungskonzept“. Der dbb wird die Modernisierung des BPersVG weiter kritisch begleiten und fordert unter anderem, Beteiligungslücken im Zusammenhang mit ressortübergreifenden Digitalisierungsprojekten durch Vereinbarungen mit den Spitzenorganisationen der Gewerkschaften zu schließen sowie die Einführung der Mitbestimmung bei der Ablehnung eines Antrags auf mobile oder Telearbeit sowie die Aufnahme eines Mitbestimmungstatbestands bei Einführung von künstlicher Intelligenz. Weitere Forderungen des dbb betreffen beispielsweise die Einrichtung von Online-Foren, die Einbindung der Personalvertretungen in Pilotprojekte sowie die Beteiligung bei Entwicklung, Einführung und Einsatz digitaler Lernmethoden. Mit Blick auf die im Frühjahr 2024 anstehenden turnusmäßigen Personalratswahlen und die hierfür erforderlichen Vorbereitungszeiten mahnt Schäfer nun auch dringend eine Überarbeitung der Wahlordnung an. „Nach dem BPersVG muss auch die Wahlordnung ‚digitalisiert‘ werden. Der Vorschlag der Innenministerin zu Online-Wahlen geht in die richtige Richtung. Zudemwürden an vielen Stellen der Wahlordnung Vereinfachungen dazu beitragen, die Wahlvorstände zu entlasten und Anfechtungen vorzubeugen. Der dbb hält hierzu Vorschläge bereit.“ ■ 10 AKTUELL dbb magazin | Mai 2022

MEINUNG ... Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. Der Autor ... Systemische Risiken Mehr Markt braucht mehr Staat Marktversagen war immer schon ein Grund, nach dem Staat zu rufen – auch für Neoliberale. Damit nämlich eine freie Marktwirtschaft wirklich zu jenen positiven Ergebnissen führt, die von ihr zu Recht erwartet werden, müssen ein paar Voraussetzungen erfüllt sein. Um frei entscheiden zu können, muss man frei sein. In vielen Fällen jedoch gilt es, individuelle Freiheitsrechte gegen Übergriffe und Missbrauch zu schützen. Das können nur Staat, Recht und Gesetz leisten. Nur der Staat kann Macht brechen und Unabhängigkeit sichern. Das gilt nicht nur für politische Grundrechte. Es trifft auch für soziale und ökonomische Teilhabe zu. Genau da ist in den letzten Jahren vieles aus dem Gleichgewicht geraten. Erst die Finanzmarktkrise, dann das Griechenland- und Eurodilemma und jüngst die Pandemie(bekämpfung), der Ukraine-Krieg und nun die dramatische Verteuerung der Lebenshaltungskosten. All diesen so unterschiedlichen Ursachen ist eines gemeinsam: Ihren Folgen sind die meisten Menschen relativ hilf- und wehrlos ausgeliefert. Das ist das typische Merkmal für sogenannte systemische Risiken. ZumWesen systemischer Risiken gehört, dass sie für Einzelpersonen schwer vorhersehbar und kaum beeinflussbar sind. Tritt der Schadensfall ein, trifft er viele Menschen oder sogar ganze Gesellschaften gleichzeitig existenziell. Und zwar weitgehend unabhängig davon, was Einzelne zur eigenen Schadensvermeidung oder -verhinderung getan oder gelassen haben. Systemische Risiken lassen sich mit herkömmlichen Vorgehensweisen nicht versichern. Denn bei systemischen Risiken versagt die unsichtbare Hand des Marktes. Da bedarf es des rettenden Arms des Staates. Nur er kann die riesigen ökonomischen Folgeschäden von (Natur-)Katastrophen, Vulkanausbrüchen und Erdbeben, Terroranschlägen und Finanzmarktkrisen oder eben auch Pandemien und hochschlagenden Inflationswellen wirklich stemmen. Was normalerweise bei Versicherungsverträgen im Kleingedruckten als „Ausschlussklausel“ kaum wirklich interessiert, ist deshalb im Schadensfall ganz bewusst in die Hände des Staates übertragen. Nur er kann bei systemischen Risiken Unterstützung für Notleidende und Entschädigungen für alle Betroffenen garantieren. Er ist somit in der Pflicht – auch in Marktwirtschaften. Natürlich gab es immer schon existenzbedrohende Großrisiken wie Naturkatastrophen, Hungersnöte, Seuchen oder Kriege. Der entscheidende Punkt aber war und ist, dass das heutige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell sich zunehmend und in viel zu starkem Maß auf kurzfristige Erfolge ausrichtet. Es tendiert dazu, langfristige Kosten auszublenden oder auf künftige Generationen abzuwälzen, so wie es bei Klimawandel, Artensterben, Umweltzerstörung leicht erkennbar der Fall ist. Gleiches trifft bei der demografischen Alterung und ihren Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme zu oder eben den Verteilungswirkungen hoher Inflationsraten. Zu oft werden kurzfristige Gewinne privatisiert und langfristige Kosten sozialisiert. Als Folge der Kurzsichtigkeit bleibt in Marktwirtschaften der Schutz vor systemischen Risiken vernachlässigt. Viele setzen grundsätzlich auf den Staat als Notretter. Manche wollen Trittbrett fahren, also kostenlos davon profitieren, dass andere die Kosten tragen und für Problemlösungen sorgen. In der Coronapandemie mangelte es anfangs an Intensivbetreuungsplätzen für Schwer(st)erkrankte und der Staat musste auf den Weltmärkten Beatmungsgeräte und Schutzausrüstungen beschaffen. Mit dem Krieg in der Ukraine offenbarte sich schlagartig, dass man viel zu lange viel zu wenig für die Einsatz- und Leistungsfähigkeit der Bundeswehr getan hatte. Und genauso außer Acht bleiben systemische Risiken von kriminellen oder gar terroristischen Cyberattacken und Hackerangriffe, flächendeckenden Energie-Blackouts, aber auch von einer Inflation, die das Leben für alle und ganz besonders für die Ärmeren so sehr verteuert, oder von Massenarmut, die Massenmigration verursachen kann. Der russische Überfall auf die Ukraine sollte nicht nur zum Augenöffner werden, was immilitärischen Bereich zu tun ist, um liberale Gesellschaften vor äußeren Angriffen zu schützen. Er muss genauso als Warnschuss nachhallen, der die Bevölkerung aufweckt, sich ganz grundsätzlich weit intensiver als bisher um einen effizienten und effektiven Umgang mit systemischen Risiken zu kümmern. So schwer Liberalen das Eingeständnis fällt, dürfte sich dabei zeigen, dass künftig nur über mehr „Staat“ mehr „Freiheit“ und „Sicherheit“ und damit auch mehr „Markt“ zu haben sein wird. Thomas Straubhaar Bei systemischen Risiken versagt die unsichtbare Hand des Marktes. Da bedarf es des rettenden Arms des Staates. Foto: Colourbox.de 12 AKTUELL dbb magazin | Mai 2022

TARIFPOLITIK Sozial- und Erziehungsdienst Warnstreiks und Aktionen für ein Angebot Der Tarifkonflikt im Sozial- und Erziehungsdienst geht weiter: Nach Warnstreiks und Aktionen in Niedersachsen, Bayern, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz sowie der zentralen Kundgebung in Fulda am 31. März haben die Proteste Sachsen erreicht. Dort kamen am 14. April 2022 Hunderte Beschäftigte zusammen. Sie demonstrierten gegen die Blockadehaltung der Arbeitgeber. Zu den Warnstreiks aufgerufen hatte der Sächsische Erzieherverband (SEV). Theresa Fruß vom SEV forderte bei der Protestkundgebung in Dresden am 14. April 2022 „langfristig attraktive Arbeitsbedingungen und Entlastungsmöglichkeiten, um einerseits in Zukunft genug Menschen für den Erzieherberuf zu gewinnen und andererseits das vorhandene Personal weiter zu halten.“ Fruß machte zudem deutlich, dass mit der Integration der geflüchteten Kinder aus der Ukraine für die strukturell ohnehin chronisch unterbesetzten Einrichtungen eine weitere Herausforderung hinzukomme. Bundesweite Aktionen Unmittelbar nach der zweiten Verhandlungsrunde mit der VKA am 22. März 2022 hatten Beschäftigte des Sozial- und Erziehungsdienstes bereits in Niedersachsen, Bayern, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz mit Warnstreiks und dezentralen Protestaktionen für ein konkretes Angebot der Arbeitgeber demonstriert. Nur Tage später waren Hessen und Nordrhein-Westfalen von Arbeitskampfmaßnahmen betroffen, die am 31. März 2022 in einer zentralen Kundgebung im hessischen Fulda gipfelten. „Die VKA hat offensichtlich das Ausmaß der Personalnot immer noch nicht verstanden“, sagte dbb Tarifchef Volker Geyer bei der Kundgebung auf dem Universitätsplatz in Fulda. „Sie blockiert nicht nur die Aufwertung des Berufsfeldes und verhindert damit die Nachwuchs- und Fachkräftegewinnung. Mehr noch: Durch die Verweigerung konkreter Entlastung sorgt sie auch noch dafür, dass immer mehr Kolleginnen und Kollegen sich andere Jobs suchen – unter anderem, weil sie sonst schlicht nicht bis zur Rente durchhalten.“ Der Landeschef der komba gewerkschaft hessen, Richard Thonius, unterstrich bei der Demonstration die gesellschaftliche Bedeutung des Sozial- und Erziehungsdienstes: „Gerade die Verwerfungen durch die Coronapandemie und jetzt ganz aktuell die herausfordernde Betreuung der geflüchteten Familien aus der Ukraine haben gezeigt, dass unser Land mehr in Zusammenhalt investieren muss – das gilt für die frühkindliche Bildung und die soziale Arbeit gleichermaßen. Dass die VKA vor diesemHintergrund an ihrer eiskalten Sparpolitik festhält, ist erschütternd.“ Bereits amMorgen des 31. März 2022 hatte der komba Bundesvorsitzende und stellvertretende Vorsitzende der dbb Bundestarifkommission, Andreas Hemsing, klargestellt: „Wir halten fest an den berechtigten Forderungen nach Aufwertung, Attraktivität und der ganz konkreten Entlastung im Arbeitsalltag für die Kolleginnen und Kollegen der sozialen Berufe. Die Arbeitgeberseite muss endlich aufwachen und handeln, bevor es zu spät ist.“ Hintergrund Von den laufenden Tarifverhandlungen im kommunalen Sozialund Erziehungsdienst sind etwa 330000 Beschäftigte direkt betroffen, die zu mehr als 80 Prozent in vier Berufsgruppen (Erzieher:in, Kinderpfleger:in, Sozialassistent:in und Sozialarbeiter:in) tätig sind, darunter zu 90 Prozent Frauen. 60 Prozent arbeiten in Teilzeit, weniger als zehn Prozent haben befristete Verträge. Der Tarifabschluss ist bedeutend für die gesamte Branche, weil die öffentlichen Träger etwa ein Drittel aller Beschäftigten in Kindertageseinrichtungen stellen. Die dritte, voraussichtlich letzte und entscheidende Runde der Tarifverhandlungen findet am 16./17. Mai 2022 in Potsdam statt. ■ dbb Tarifchef Volker Geyer bei der Kundgebung auf demUniversitätsplatz in Fulda © Nicole Dietzel AKTUELL 13 dbb magazin | Mai 2022

INTERVIEW Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) Schulen und Lehrkräfte stehen noch immer massiv unter Stress Frau Ministerin, die „Bildungseinrichtungen in unserem Land […] können trotz innovativer Ideen und massiver Anstrengungen des Personals ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag nicht mehr hinlänglich gerecht werden“. So steht es im dbb Positionspapier mit dem Titel „Schuljahr 2022. Konsequenzen aus zwei Jahren Pandemie“. Teilen Sie diese Analyse, und was folgt für Sie daraus – gerade mit Blick auf einen möglichen weiteren „Coronaherbst“? Nein. Dieser Satz ignoriert, was das System Schule seit zwei Jahren und jetzt erneut leistet, insbesondere in welcher Geschwindigkeit und in welchem Umfang die Anpassungen an völlig neue Rahmenbedingungen erfolgt sind. Aber die Schulen und die Lehrkräfte stehen noch immer massiv unter Stress: Die Coronapandemie ist im Übergang zur Endemie, und die Herausforderung, viele junge Menschen aus der Ukraine zu integrieren, kommt auf die bisherigen Aufgaben obendrauf. Das Thema meiner KMK-Präsidentschaft umreißt den Anspruch an unser Bildungssystem: „Lernen aus der Pandemie – welche Veränderungen der letzten 21 Monate wollen wir mit in die Zukunft nehmen und welche Konsequenzen hat das?“ Ich bin zuversichtlich für die Zukunft. Die Maskenpflicht ist aus meiner Sicht eine wirksame Schutzmaßnahme in den Schulen, und ich hätte diese gern länger als Option beibehalten. Leider hat das die Ampelkoalition mit dem neuen Infektionsschutzgesetz verhindert. Wir brauchen sie aber als Instrument des Basisschutzes vorsorglich für das nächste Schuljahr. Das Infektionsschutzgesetz muss daher bis zum Herbst so angepasst werden, dass den Ländern die Anordnung der Maskenpflicht in den Schulen wieder landesweit möglich ist – gegebenenfalls auch regional –, insbesondere für den Fall einer neuen, gefährlicheren Variante. Durch die Pandemie sind grundsätzliche Probleme, die Fachleute schon lange diskutieren, verstärkt in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit geraten. So etwa der eklatante Fachkräftemangel, gerade in der frühkindlichen Bildung und an den Schulen, während ständig neue Aufgaben beschlossen werden oder bereits verabschiedet sind. Wie beurteilen Sie die Lage? Wird es Initiativen zur Lösung des Problems geben? Die demografische Lage wird in allen Bereichen zunehmend ein Problem. Die Länder sind sich der Lage sehr bewusst und stemmen sich gemeinsam dagegen. Nicht erst die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir die zentrale Rolle der Lehrkräfte für den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler noch mehr in den Blick nehmen müssen. Deshalb hat die Kultusministerkonferenz zum Beispiel im vergangenen Jahr Empfehlungen zur Stärkung des Lehramtsstudiums in Mangelfächern verabredet. ImMärz dieses Jahres haben die Länder auf der KMK in Lübeck den neuen Bericht zum Lehrkräftebedarf vorgelegt und unter anderem die Ständige Wissenschaftliche Kommission damit beauftragt, Empfehlungen Karin Prien ist Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein. Im Januar 2022 übernahm sie turnusgemäß die KMK-Präsidentschaft. Wir müssen die multiprofessionellen Teams ausstatten, damit Lehrkräfte sich auf das Unterrichten fokussieren können. © Frank Peter 14 FOKUS dbb magazin | Mai 2022

zur Lehrkräftebildung und der Gesamtpersonalsituation an Schulen zu erarbeiten. Wir arbeiten gemeinsam – Schulminister und Wissenschaftsminister – daran, das Studium und den so wichtigen Beruf der Lehrerinnen und Lehrer durch weitere Maßnahmen noch attraktiver zu machen. Wichtigste Punkte sind: mehr Studienplätze, weniger Studienabbrüche, mehr Plätze im Vorbereitungsdienst, regelmäßige Modellrechnungen zum künftigen Angebot und Bedarf an Lehrkräften. Auch müssen wir die multiprofessionellen Teams ausstatten, damit Lehrkräfte sich auf das Unterrichten fokussieren können. Darüber hinaus stehen Fragen der Attraktivität des Lehrerberufs im Fokus – das gilt im Übrigen auch für das Kitapersonal. Ein Dauerbrenner unter den Bildungsthemen ist auch die – gerade im internationalen Vergleich – immer noch unzureichende Digitalisierung. Das betrifft nicht nur die Infrastruktur und Hardware, sondern beispielsweise pädagogische Konzepte sowie Aus- und Fortbildung. Wann wird Deutschland hier endlich besser? Wir sind auf einem guten Weg – die Pandemie hat einen immensen Digitalisierungsschub an unseren Schulen ausgelöst. Aber zur Wahrheit gehört auch dazu, dass wir in Deutschland zu spät begonnen haben. Die Digitalisierung von Schule ist der größte Transformationsprozess seit vielen Jahrzehnten. Das heißt konkret für Schule: Die technische Ausstattung an den Schulen ist die Basis für die Weiterentwicklung der Digitalisierung, es geht aber immer auch um Unterrichtsentwicklung/Unterrichtskonzepte und die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte. Das Angebot hat sich deutlich verbessert. Aber insbesondere schulinterne Fortbildungen sind erforderlich, um dem unterschiedlichen Stand der Entwicklung an den Schulen gerecht zu werden. Viele Lehrkräften haben sich während der Coronapandemie fortgebildet, jetzt ist es unsere Aufgabe, gezielte und nachhaltige Angebote für eine „Kultur der Digitalität“ an den Schulen zu machen. Wir müssen Fortbildungen zur digitalen Professionalisierung anbieten und auch zur Teilnahme verpflichten. Der Bund muss endlich die digitalen Kompetenzzentren auf den Weg bringen, die schon in der vergangenen Legislaturperiode geplant waren. Seit vielen Jahren gibt es in Deutschland eine Debatte um prekäre Arbeitsbedingungen an Hochschulen. Im letzten Sommer berichteten wissenschaftliche Nachwuchskräfte unter dem Hashtag #IchBinHanna im Internet von Zukunftsängsten und enormem Leistungsdruck. Wird die KMK das Thema nochmals grundsätzlich angehen? Gegenwärtige und künftige Beschäftigungsbedingungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stehen fortwährend im Fokus länderseitiger Bemühungen. Dabei wurden im Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern bereits wesentliche Maßnahmen zugunsten einer Verbesserung von Beschäftigungsbedingungen, insbesondere der Befristungspraxis, und zugunsten der Absicherung von Karrierewegen ergriffen. Die Auswirkungen des aktuellen Wissenschaftszeitvertragsgesetzes werden derzeit evaluiert, die Ergebnisse sollen imMai vorliegen. Danach werden wir uns auch als KMK damit befassen. Die duale Ausbildung in Deutschland gilt europaweit als vorbildlich. Wird aus Ihrer Sicht genug getan, um diesen hohen Berufsbildungsstandard zu erhalten und weiterzuentwickeln? Wo gibt es noch Potenzial für Optimierungen? Um den hohen Standard in der dualen Berufsbildung zu erhalten, bedarf es der ständigen Überarbeitung und Weiterentwicklung der mehr als 300 existierenden Ausbildungsberufe. Dies geschieht in einem eingespielten Prozess gemeinsammit den Akteuren von Bund und Sozialpartnern. Neben technologischen Veränderungen steht dabei, insbesondere im Berufsschulunterricht, auch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen im Fokus. Wir müssen die duale Berufsausbildung auch in Zukunft als attraktiven Qualifizierungsweg positionieren. Deshalb haben sich alle relevanten Akteure in der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ zusammengeschlossen, um so notwendige Entwicklungsimpulse zu setzen. Entscheidende Bedeutung wird zukünftig dem Thema Weiterbildung zukommen. Stichwort „Europa“: Wie steht es um die Entwicklung des europäischen Bildungsraums? Welche Ideen gibt es hier für die nächsten Jahre? Grundsätzlich basiert die europäische Kooperation im Bildungsbereich auf Freiwilligkeit. Die Länder wirken über die EU-Gremien aktiv an der Gestaltung des europäischen Bildungsraums mit. Bis 2025 haben sich die EU-Mitgliedstaaten zum Ziel gesetzt, den europäischen Bildungsraum zu vollenden. Ein zentrales Instrument hierfür ist der strategische Rahmen für europäische Zusammenarbeit in der allgemeinen und beruflichen Bildung. Für 2021 bis 2027 legt er fünf strategische Prioritäten fest: gleichberechtigter Zugang zu Bildung, lebenslanges Lernen und Mobilität, Kompetenzen und Motivation im Lehrberuf, Stärkung der Hochschulbildung sowie Unterstützung der grünen und digitalen Transformationen in und durch Bildung. In diesem Zusammenhang bietet zum Beispiel auch die Neuauflage des Erasmus+-Programms große Chancen, indem es unter anderem persönliche Begegnungen in über 30 Ländern ermöglicht. ■ Es ist jetzt unsere Aufgabe, gezielte und nachhaltige Angebote für eine „Kultur der Digitalität“ an den Schulen zu machen. Wir müssen die duale Berufsausbildung auch in Zukunft als attraktiven Qualifizierungsweg positionieren. FOKUS 15 dbb magazin | Mai 2022

Foto: Andreas Schröter Manuel Hein arbeitet in einer Kita. Er hat sehr viel Spaß am Beruf. Aber eben nicht immer. Wo Erzieher täglich auf die Knie gehen Die 58 000 deutschen Kindertageseinrichtungen sind eine Boombranche. Das weitere Wachstum fordert sie jedoch heraus. Personal fehlt im Alltag fast überall, auch weil schon Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger wenig Wertschätzung erfahren. In der Nacht zum letzten Februarsamstag stand die Fassade der evangelischen Kindertagesstätte Hohenbuschei in Dortmund in hellen Flammen. Brandstifter hatten gegen 3.30 Uhr Zeitungsstapel angezündet. Mit Beschädigungen an der Außenwand und der Eingangsfassade schien die zeitnahe weitere Nutzung der Kita infrage gestellt. Am nächsten Tag zogen ganze Familien an den Tatort. Die Kinder brachten selbst gemalte Bilder mit, und über einer gelbrötlichen Farbkomposition hatte eine unbekannte kleine KünstlerIn einen Satz formuliert, der die Kindergartenleiterin Jolanta Mlocek-Kupoczak tief bewegte: „Kindergarten, wir haben dich lieb.“ Die Liebeserklärung von Dortmund würde wohl in fast allen der 58 000 Kindertageseinrichtungen in Deutschland unterschrieben. Da ist sich Manuel Hein sicher. Der 27-Jährige arbeitet 200 Kilometer weiter südlich im rheinland-pfälzischen Lahnstein. Hier steht in der Schillerstraße seit 2019 ein nagelneuer, strahlend heller Flachbau aus viel Glas vor der Silhouette des grünen Rheintals. Hein ist als Erzieher in der kommunalen KiTa LahnEggs beschäftigt. Seit 2020 ist er dabei. Er wird uns hier aus seiner täglichen Arbeit erzählen. Über das Schöne. Das Herausfordernde. Aber auch über die Probleme seines Alltags. Kunterbunt ist der Fahrplan der durchschnittlichen deutschen Kita. Angefangen von der „Bringzeit“ nach 7 Uhr früh über das gemeinsame Frühstück, erstes Spielen, ein Angebot samt Basteln, Singen und Erforschen, ein Raus-in-den-Garten, Mittagessen, die Ruhezeiten und ein Programm bis in den Abend, wenn die Kids abgeholt werden. „Es gibt Kinder, die wollen gar nicht heim.“ Wer mit Hein spricht, hört – wirklich – viel Begeisterung heraus. „Wir haben ein tolles Team. Wir haben einen tollen Chef“, REPORTAGE 16 FOKUS dbb magazin | Mai 2022

sagt er. Und tolle Erlebnisse: „Eines der schönsten Gefühle ist es, mitzubekommen, dass Kinder etwas Neues gelernt haben.“ Wie draußen, wenn es ihnen gelingt, am Klettergerüst hochzukraxeln und auf der Stange herunterzurutschen. „Wenn es das erste Mal klappt, sind die stolz wie Bolle“, sagt Hein. „Die machen das dann noch stundenlang. Einfach aus Spaß.“ Die Kitabelegschaft dokumentiert die Premieren mit Fotos, „um dem Kind eigene Lernerfolge sichtbar zu machen“. Wir sind an einem der Schauplätze einer spektakulären Entwicklung. Kitas wie die in Lahnstein sind überall aus dem Boden geschossen. Sie haben dabei die gesellschaftliche und bildungspolitische Landschaft umgegraben. Dass Zweijährige über viele Stunden am Tag der Fremdbetreuung überlassen werden und sich – außerhalb der Familie – dabei wohlfühlen können? Noch Mitte der 1990erJahre, nach der Einheit, war das zumindest umstritten. Groß war der Widerstand meist älterer Westdeutscher, die eine Debatte über die Vorzüge der mütterlichen Fürsorge anschoben. Gehörte der Nachwuchs nicht in die Obhut der Frauen, die ihn zur Welt gebracht haben? Die Vorbehalte sind lange Vergangenheit. Bundesweit gibt es den gesetzlichen Rechtsanspruch auf Betreuung ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. 3,2 Millionen Kinder besuchen eine Kindertagesstätte, darunter 700 000 unter drei Jahre alt. Über die Hälfte von ihnen verbringt mehr als sieben Stunden täglich in den Einrichtungen, die zu zwei Dritteln von privaten Trägern und zu einem Drittel von staatlichen betrieben werden. Ein gewaltiger Fortschritt für Familien und Wirtschaft: Nur mit dieser Infrastruktur ist eine zeitlich parallele Berufstätigkeit beider Elternteile möglich. Doch ist die Kinderbetreuung, ein Kern der Sozialen und Erziehungsdienste in der Bundesrepublik und eine extrem boomende Branche, damit schon perfekt? In der Lahnsteiner KiTa LahnEggs sitzt Frido schluchzend auf dem Schoß von Manuel Hein. Das Kind ist hingefallen. Nichts Schlimmes. Eine Beule könnte das noch werden. Der 27-jährige Erzieher will Frido trösten, ihm „Ruhe und Geborgenheit“ nach dem kleinen Sturz vermitteln. Doch diese Absicht, vielfaches Tagesgeschäft in jeder Kita, scheitert wieder mal. Eine Kollegin fehlt heute. Die andere ist imWaschraum dabei, zwei der Kleinsten zu wickeln. Parallel schlägt bei Hein die Meldung eines älteren Kindes auf, der jüngere Kumpel habe gerade ins Höschen gemacht. In der Ecke streiten zwei laut. Die Ereignisse überschlagen sich wie immer und lassen wenig Zeit für Bedürfnisse Einzelner. Dabei wollte der Erzieher doch nur den Kleinen mit der Beule trösten. Geht nicht. „Es gibt Tage, da hätte ich es gerne anders, da bin ich ehrlich.“ Die kleine Szene steht für das zentrale Problem. Es gibt zu wenig Personal. Hein arbeitet in einem Umfeld von sechs Gruppen. Drei für Ein- bis Dreijährige. Drei weitere für Drei- bis Sechsjährige. Das sind 110 zu betreuende Kinder. 20 Frauen und Männer beaufsichtigen, wickeln, reden, bilden sie und spielen mit ihnen. Das liegt zwar gut im bundesdeutschen Schnitt. „Aber schon wenn nur zwei Fachkräfte da sind pro Gruppe, dann steht man auch 3,2 Millionen Kinder besuchen eine Kindertagesstätte, darunter 700 000 unter drei Jahre alt. Über die Hälfte von ihnen verbringt mehr als sieben Stunden täglich in den Einrichtungen. Erzieher werden gesucht. Händeringend. Aber zu wenige bewerben sich. Deshalb: Was schreckt sie ab? FOKUS 17 dbb magazin | Mai 2022

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