dbb magazin 5/2022

den können. Gleichzeitig hat der Krieg aber auch dazu geführt, dass die EU in seltener Einigkeit und in hohem Tempo Maßnahmen eingeleitet hat, um Solidarität mit der Ukraine zu zeigen und den Aggressor Russland zu stoppen. Nachdem die Europäer in den Monaten vor Kriegsbeginn vornehmlich Zuschauer waren, während die USA und Russland über die europäische Sicherheitsordnung verhandelt haben, hat die EU in den letzten Wochen gezeigt, wie viel Einfluss sie kollektiv auf internationaler Ebene nehmen kann, wenn sich die Mitgliedstaaten in Zielen und Mitteln einig sind. Beschreitet Deutschland in Europa einen außen- und sicherheitspolitischen Sonderweg? Zu den Leitlinien deutscher Außenpolitik gehört ihre Einbettung in multilaterale Strukturen. Die beiden Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg waren „niemals wieder“ und „niemals allein“. Daher beruht deutsche Außenpolitik traditionell auf zwei Säulen, erstens der engen Einbettung in die Europäische Union und zweitens dem Bekenntnis zu transatlantischer Kooperation im Rahmen der NATO. Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, nie wieder außenpolitische Sonderwege einzuschlagen. Dennoch stand die Bundesregierung in den letzten Jahren oft zu Recht in der Kritik, ihre China- und ihre Russlandpolitik nicht genug zu europäisieren und eigene Interessen auch auf Kosten anderer Europäer durchzusetzen. Ein Symbol dieser Politik war die Nord-Stream-2-Pipeline. Die neue Ampelkoalition in Berlin hatte sich daher in ihrem Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik noch mehr mit den europäischen Partnern abzustimmen. Nachdem die deutsche Außenpolitik in den Wochen vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine immer wieder sehr langsam reagiert hat, zeugt die Ankündigung der Zeitenwende davon, dass die Bundesregierung zukünftig eine Führungsrolle in der europäischen Sicherheitspolitik einnehmen möchte. Welche Perspektiven gibt es für eine wirksamere diplomatische Außenvertretung der EU? Um eine effektivere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen, sind große institutionelle Reformen, die Vertragsänderungen voraussetzen, derzeit nicht zu erwarten. Auch erschien es bis zuletzt unwahrscheinlich, dass die Mitgliedstaaten eine größere Bereitschaft zeigen werden, deutlich mehr Souveränität an Brüssel abzugeben. Es ist noch zu früh, um zu bewerten, ob sich das durch den Krieg in der Ukraine ändern wird. Es gibt jedoch schon jetzt mehrere gute Möglichkeiten, die GASPGovernance-Struktur weiterzuentwickeln, um die EU besser in die Lage zu versetzen, diese Herausforderungen zu bewältigen und das außenpolitische Potenzial der EU freizusetzen. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern stellen verschiedene Optionen dar, die je nach ihren Erfolgsaussichten flexibel verfolgt werden sollten. Letztlich hängt die Handlungsfähigkeit der Union weniger von den institutionellen Reformen ab, nach denen die GASP letztlich weiterentwickelt wird. Vielmehr kommt es darauf an, dass die Mitgliedstaaten und Institutionen mit einer Stimme sprechen und dass die ergriffenen Maßnahmen den Zusammenhalt der EU stärken und nicht untergraben. Der Vertrag von Lissabon bietet mehr Spielraum für die Europäisierung der Außenpolitik als derzeit genutzt wird. Ungenutzte Instrumente des Vertrags könnten den Entscheidungsprozess beschleunigen, doch hängt die Realisierung dieses Potenzials allein vom politischen Willen der Mitgliedstaaten ab. Beschlussfassungen mit qualifizierter Mehrheit (BQM), die Aktivierung von Art. 44 EUV oder die „konstruktive Stimmenthaltung“ sind außerdem keine Patentrezepte, um alle Probleme der GASP auf einen Schlag zu lösen. Die EU sollte den Trend zu Ad-hoc-Koalitionen aktiv aufgreifen und sicherstellen, dass dies den Zusammenhalt und die demokratische Legitimität der EU nicht schwächt. In den kommenden Jahren werden sich die europäischen Staaten möglicherweise noch häufiger entscheiden müssen, was ihnen wichtiger ist: die Einheit der EU oder die europäische Handlungsfähigkeit. Es könnte durchaus sein, dass Letzteres mit allen 27 Mitgliedstaaten nicht zu erreichen ist. Einige europäische Mitgliedstaaten könnten sogar eher bereit sein, mit einer ausgewählten Gruppe gleichgesinnter Partner voranzugehen, die bereit sind, zweckmäßig gemeinsam zu handeln. Es ist wichtig, die Koalitionen so zu gestalten, dass der Zusammenhalt der EU-27 nicht untergraben wird. Die Einbeziehung von EU-Beamten, der Respekt vor den Empfindlichkeiten kleinerer Partner und ein integrativer und transparenter Ansatz sind von wesentlicher Bedeutung. Der Europäische Rat sollte sich viel stärker als bisher auf außenpolitische Fragen konzentrieren, und sein Präsident Charles Michel sollte diese Debatte strategisch lenken. Eine gute Arbeitsmethode wäre es, außenpolitische Ziele und Strategien gemeinsam im Europäischen Rat zu erörtern und dann eine Koalition von willigen und fähigen Mitgliedstaaten mit deren Umset- zung zu beauftragen und Anreize zu bieten. ■ Das vollständige Interview online in den dbb Europathemen 2/2022: https://t1p.de/Europathemen Webtipp Es erschien bis zuletzt unwahrscheinlich, dass die Mitgliedstaaten bereit sind, deutlich mehr Souveränität an Brüssel abzugeben. Es ist noch zu früh, um zu bewerten, ob sich das durch den Krieg in der Ukraine ändern wird. Foto: ifeelstock/Colourbox.de FOKUS 27 dbb magazin | Mai 2022

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