dbb magazin 3/2024

dbb magazin Eingriffsverwaltung | Wie Behörden öffentliche Interessen schützen Interview | Michael Stübgen, Vorsitzender der Innenministerkonferenz Reportage | Zoll-Warenabfertigung: Im Angesicht der Braunschlange 3 | 2024 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

STARTER 8 7 TOPTHEMA Eingriffsverwaltung AKTUELL MEINUNG Öffentlicher Dienst: Extremismus hat bei uns keinen Platz 4 NACHRICHTEN Krankenhausreform: dbb fordert mehr Tempo 5 Lehrkräfte: Großes Engagement trotz hoher Belastung 6 TARIFPOLITIK Einkommensrunde TV-H gestartet: Öffentlicher Dienst braucht Einkommensplus 7 INTERVIEW Michael Stübgen, Vorsitzender der Innenministerkonferenz: Populisten liefern Parolen statt Antworten 8 ARBEITSMARKT Fachkräftegewinnung: Auswanderer tun sich schwer mit Deutschland 10 FOKUS REPORTAGE Zoll-Warenabfertigung am Flughafen Berlin Brandenburg: Im Angesicht der Braunschlange 12 INNERE SICHERHEIT Organisierte Kriminalität: Aufrüsten gegen kriminelle Netzwerke 18 MEINUNG Aufgabenfülle und Regelungswut: Wie man das Bürokratiemonster bändigt 21 ONLINE Künstliche Intelligenz in der Verwaltung: Die Amtssprachenentwirrungsmaschine 22 INTERN FACHKRÄFTE Führungsfokus: Führungsrollen im Wandel 26 BEAMTE Bundesdisziplinargesetz: Novelle mit Hindernissen 28 EUROPA EU-Bedienstete: Deutschland ist in Brüssel unterrepräsentiert 32 JUGEND Demos gegen rechts: Extremismus konsequent bekämpfen 34 SERVICE Impressum 42 KOMPAKT Gewerkschaften 44 12 Gesetzesfolgenabschätzungsmodernisierungsgesetz? Der öffentliche Dienst in Deutschland hat alle Hände voll zu tun und seine Aufgaben wachsen stetig. Ausgebremst wird er nicht nur durch Fachkräftemangel und Nachwuchssorgen. Auch die mit den Aufgaben wachsende Bürokratie lastet schwer auf den Beschäftigten. Dabei muss der Bürokratiebegriff gar nicht per se negativ besetzt sein. Immerhin setzt Bürokratie wichtige Informations-, Melde- und Dokumentationspflichten durch und garantiert die Gleichbehandlung aller Bürger. Ärgerlich wird es, wenn Bürokratie unnötig und unverständlich ist. Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Michael Stübken, beklagt im Interview dieser Ausgabe, dass der Staatssekretärsausschuss der Bundesregierung Ende 2022 zwar Vorschläge zum Abbau von Bürokratiebelastungen eingesammelt habe. Allerdings soll von den mehr als 440 Positionen im derzeitigen Gesetzesentwurf zum Vierten Bürokratieentlastungsgesetz des Bundesjustizministeriums nur ein Bruchteil umgesetzt werden. Der öffentliche Dienst muss in allen Bereichen smarter werden, wenn er leistungsfähig bleiben will – und smart sein fängt bei der Rechtssetzung an, denn selbst die kreativsten Beschäftigten des öffentlichen Dienstes können nur innerhalb des geltenden Rechtsrahmens handeln. Dazu braucht es sicher kein neues „Gesetzesfolgenabschätzungsmodernisierungsgesetz“. Der Gesetzgeber muss lediglich die in der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerin festgeschriebene Gesetzesfolgenabschätzung konstant im Blick haben. br 22 Model Foto: Colourbox.de AKTUELL 3 dbb magazin | März 2024

MEINUNG Öffentlicher Dienst Extremismus hat bei uns keinen Platz Radikale und menschenfeindliche Positionen haben weder im Staatsdienst noch im dbb etwas zu suchen. Hunderttausende Menschen nehmen in diesen Tagen und Wochen an Demonstrationen für den Erhalt der Demokratie teil. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Jetzt stellt sich die Frage: Was folgt daraus? Der Trend geht seit Jahren nur in eine Richtung: Populismus und Extremismus sind in Deutschland auf dem Vormarsch. Deshalb müssen wir wachsam bleiben. Und es braucht Taten. Zwei Dinge erscheinen mir dabei politisch besonders wichtig. Erstens: Der dbb warnt schon lange davor, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Staat und Politik erodiert. Die von uns beauftragte „Bürgerbefragung Öffentlicher Dienst“ hat dazu im vergangenen Herbst erneut eindeutige Zahlen geliefert. Im Januar haben wir uns deshalb auf der dbb Jahrestagung in Köln unter dem Motto „Starker Staat – wehrhafte Demokratie“ einmal mehr intensiv mit der Frage beschäftigt, wie das geändert werden kann. Für uns ist klar: Wir brauchen wieder eine verlässliche Daseinsfürsorge, einen leistungsstarken öffentlichen Dienst und eine Politik, die in der Lage ist, drängende Reformen voranzubringen und die Bevölkerung auf dem Weg mitzunehmen. Das alles vermissen die Menschen heute in diesem Land – und nicht erst seit gestern. Das ist Wasser auf die Mühlen der Scharfmacher. Zweitens: Demokratie ist ein Wettbewerb der Ideen. Sie lebt vom Streit um den richtigen Weg. Dabei galten in der Bundesrepublik – ungeachtet aller inhaltlichen Differenzen – lange Zeit ein paar ungeschriebene Gesetze. Anstand und Ehrlichkeit waren in der politischen Kultur deutlich fester verankert, als das heute der Fall ist. Das muss sich wieder ändern. Natürlich muss in einer öffentlichen Debatte auch mal zugespitzt werden. Aber nicht jeder, der auf die praktischen Probleme bei der Unterbringung von Geflüchteten hinweist, ist gleich ein Nazi. Und nicht jeder, der mit Blick auf den Klimawandel auch Windräder bauen will, hat gleich den Untergang der deutschen Wirtschaft im Sinn. Auch wenn die Verlockung groß ist, mit solchen Sprüchen billige Punkte im eigenen Lager zu machen: Von verantwortungsbewussten Politikerinnen und Politikern demokratischer Parteien erwarte ich mehr. Hetze und Spaltung dienen immer nur den Extremen. Für mich ist klar: Radikale und menschenfeindliche Positionen haben weder im Staatsdienst noch im dbb etwas zu suchen. Die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften unter unserem Dach verstehen sich immer als im besten Sinne staatstragend. Dazu gehört natürlich ohne Wenn und Aber das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Traurig genug, dass das in diesen Zeiten wieder betont werden muss. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das Grundgesetz auch nach 75 Jahren rein gar nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt hat. Es muss uns allen gemeinsam allerdings wieder besser gelingen, die darin enthaltenen Ideen im Alltag zu leben. Meine dahin gehenden Erwartungen an die Politik habe ich oben skizziert. Gefordert sind wir aber natürlich alle. Bei der Familienfeier. Beim Dorffest. Im Sportverein. Und wer könnte Demokratie und Rechtsstaat besser verteidigen als die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die diese Errungenschaften jeden Tag zur Geltung bringen? Wir sind bereit. Ulrich Silberbach Ulrich Silberbach, Bundesvorsitzender des dbb. © Andreas Pein 4 AKTUELL dbb magazin | März 2024

NACHRICHTEN Krankenhausreform dbb fordert mehr Tempo Die CDU-Fraktion im Landtag des Saarlandes hat den dbb Bundesvorsitzenden Ulrich Silberbach für sein gewerkschaftliches Engagement gewürdigt. Bei seiner Laudatio sagte der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Marc Speicher, am 29. Januar 2024 auf dem Empfang für Betriebs- und Personalräte der CDU-Landtagsfraktion in Saarbrücken: „Eine Arbeitnehmervertretung zu haben, bedeutet mehr Gerechtigkeit, mehr Information und mehr Klarheit für alle Kolleginnen und Kollegen. Das gilt von der Industrie bis zum öffentlichen Dienst. Ulrich Silberbach setzt sich seit Jahrzehnten mit Herz und Verstand für die Beamten und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ein, seit 2017 als dbb Bundesvorsitzender. Die Auszeichnung setzt auch ein klares Zeichen: Ein starker Staat braucht eine starke Verwaltung und einen starken öffentlichen Dienst.“ „Es waren Persönlichkeiten wie Nikolaus Warken, die unserer heutigen modernen Gewerkschaftsarbeit den Weg geebnet haben“, sagte Silberbach bei der Verleihung des Preises, der nach dem Streikführer im Saarrevier benannt ist. Warken lebte von 1851 bis 1920. „Der Preis ist nicht nur eine große Ehre, sondern auch ein wichtiges Signal des Dankes und der Wertschätzung. Ich nehme ihn stellvertretend für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes entgegen.“ Gewerkschaftliches Engagement sei gefragter denn je: Der Personalmangel im öffentlichen Dienst sei eklatant, mehr als 550 000 Beschäftigte fehlten. Parallel dazu verlören viele Menschen das Vertrauen in staatliche Institutionen. Der dbb fordert ein umfassendes Maßnahmenpaket. Im Interview mit der Saarbrücker Zeitung sagte Silberbach: „Wir benötigen bessere Arbeitsbedingungen. Das betrifft harte Faktoren wie die Einkommen, aber auch das allgemeine Arbeitsumfeld.“ Es sei jungen Menschen nicht zu vermitteln, dass viele Behörden noch mit dem Faxgerät arbeiten. „Wir müssen bei der Digitalisierung das Schneckentempo abstellen und endlich den Turbo einlegen!“ Nikolaus-Warken-Preis verliehen Reformen sind nicht nur im Hinblick auf Patientenwohl und Finanzierung von Bedeutung – Bund und Länder müssen auch die Beschäftigten der Kliniken im Blick haben. Eigentlich wollte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach den Bundesländern bis Mitte Januar 2024 einen überarbeiteten Gesetzesentwurf zur Krankenhausreform vorlegen. „Der Gesundheitsminister verbreitet Optimismus, aber ich fürchte, dass wir in Zeitnot kommen“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach nach der Gesundheitsministerkonferenz am 30. Januar 2024. Es sei fraglich, ob das Vorhaben, das Gesetz am 24. April 2024 im Bundeskabinett zu beraten, noch zu halten sei. „Es sind einfach noch zu viele Fragen offen.“ Kern der Krankenhausreform bilden die Umstellung des Finanzierungssystems und der Umbau der Krankenhauslandschaft. Sobald Klinikzusammenlegungen und Spezialisierungen im Raum stehen, hat das zwangsläufig auch Folgen für die Beschäftigten. „Das führt zu großen Unsicherheiten, was in Zeiten des Fachkräftemangels fatal ist. Ich erwarte, dass der Gesundheitsminister diese Unsicherheiten ausräumt, die Beschäftigten auf dem Reformweg mitnimmt und nicht vor vollendete Tatsachen stellt“, so Silberbach und appellierte an die Beteiligten: „Rauft euch zusammen! Wir brauchen diese Reform. Je schneller, desto besser. Die Menschen und die Beschäftigten wollen endlich Gewissheit, wie es weitergeht.“ _ Model Foto: Colourbox.de AKTUELL 5 dbb magazin | März 2024

Lehrkräfte Großes Engagement trotz hoher Belastung Die jüngste PISA-Studie hat den immensen Handlungsbedarf im Bildungsbereich offenbart. Damit verbundene pauschale Lehrerschelte weist der dbb zurück. In einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung hatte der internationale PISA-Koordinator Andreas Schleicher unter anderem kritisiert, dass der Lehrerberuf intellektuell nicht anspruchsvoll sei und Lehrkräfte „Befehlsempfänger“ seien, die sich ein Beispiel an China nehmen sollten. Weiterhin hatte er die enormen Belastungen, die der Lehrerberuf mit sich bringt, bestritten. „Schleicher wird seiner Verantwortung als internationaler Koordinator der PISA-Studie nicht gerecht“, konterte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 8. Februar 2024 in Berlin. „Diese realitätsferne Sichtweise wird uns nicht aus der Bildungsmisere helfen. Sie verkennt die erstklassige Arbeit, die die Kolleginnen und Kollegen Tag für Tag in den ihnen vorgegebenen Strukturen leisten. Wir laden Herrn Schleicher herzlich zu einem Schulbesuch ein, damit er sich persönlich ein Bild von der alltäglichen Belastung unserer Lehrkräfte machen kann.“ Zudem belegten unzählige Studien das hohe Maß an Belastung der Lehrkräfte. „Um die Bildungsqualität in unserem Land nachhaltig zu verbessern, müssen entschiedene Maßnahmen gegen den Lehrkräftemangel ergriffen und angemessene Rahmenbedingungen für die Beschäftigten gewährleistet werden. Pauschale Kritik an einer gesamten Berufsgruppe bringt uns da nicht weiter“, appellierte Silberbach. Die internationale Schulleistungsstudie PISA, die im Auftrag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt wird, erfasst die Kompetenzen von 15-jährigen Jugendlichen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. In der aktuellen Studie, die im Frühjahr 2022 durchgeführt wurde, haben die deutschen Schülerinnen und Schüler das bisher schlechteste Ergebnis erzielt. Der große Handlungsbedarf im Bildungsbereich wurde bereits zuvor von zahlreichen weiteren Studien belegt. _ Verkehrspolitik im Zeichen der Zeitenwende In den vergangenen Jahrzehnten wurde zu wenig in die Verkehrsinfrastruktur der Bundesrepublik investiert. Jetzt ist es an der Zeit, den Investitionsstau aufzulösen und dringende Modernisierungen anzugehen. Expertinnen und Experten aus Politik, Verwaltung und Gewerkschaften diskutieren am 11. April 2024 im dbb forum berlin auf dem 1. Verkehrstag des dbb unter dem Motto „Verkehrspolitik im Zeichen der Zeitenwende“ über die Zukunft der Mobilität in Deutschland. Erfüllt der Verkehrswege- und Mobilitätsplan 2040, der zurzeit im Bundesministerium für Digitales und Verkehr aufgestellt wird, alle Anforderungen an eine zukunftsfeste Verkehrsinfrastruktur? In vier Fachforen darf über Teilaspekte der Verkehrsinfrastruktur diskutiert werden. Forum 1 geht der Frage nach, ob der Standort Deutschland in Gefahr ist, wenn eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur nicht mehr gegeben ist. Logistik und Luftverkehr sorgen nicht nur für Mobilität, sie sind hochmobile Dienstleistungsbranchen. Ist keine leistungsfähige Infrastruktur vorhanden, drohen Schlüsselbranchen abzuwandern. Die Konsequenzen für die Wirtschaft wären fatal. Forum 2 beschäftigt sich mit dem Klimawandel. Die Verkehrsinfrastruktur der Zukunft besteht nicht nur aus Schienen, Straßen und Wasserstraßen. Eine adäquate Lade- und Tankstelleninfrastruktur für neue Fahrzeuge ist notwendig. Werden die richtigen Weichen für einen klimafreundlicheren Verkehr gestellt? Forum 3 beleuchtet die bürokratische Seite der Verkehrswende. Wo und warum klemmt es, wenn es darauf ankommt, eine aufgabengerechte Infrastruktur zu planen und zu bauen? Wie gelingt es, Verkehr und Infrastruktur ganzheitlich zu denken? Forum 4 behandelt den Faktor Mensch: Der Fachkräftemangel trifft Deutschland mit Wucht. Der demografische Wandel sorgt für massive Rentenabgänge. Viele Branchen sind durch Schichtarbeit belastet und dennoch sind längere Lebensarbeitszeiten oft keine Option. Was bedeutet das für die Zukunft derjenigen Beschäftigten, die die Verkehrswende stemmen sollen? dbb Verkehrstag Interessierte können sich bis zum 28. März 2024 unter beamte@dbb.de für den Besuch der Veranstaltung anmelden. Die Teilnahme ist kostenfrei. Mehr Infos zum Programm: dbb.de/verkehrstag Anmeldung Model Foto: Colourbox.de Foto: badahos/Colourbox.de 6 AKTUELL dbb magazin | März 2024

TARIFPOLITIK Einkommensrunde TV-H gestartet Öffentlicher Dienst braucht Einkommensplus Der dbb fordert für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Hessen 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro mehr. Die Verhandlungen haben am 14. Februar 2024 begonnen. Der dbb Verhandlungsführer Volker Geyer sagte bei der Auftaktkundgebung vor dem hessischen Innenministerium am 14. Februar 2024 in Wiesbaden: „‚Hessen weiterführen – Das hatte die regierende CDU sich in ihrem Wahlprogramm auf die Fahne geschrieben. In Anlehnung an diesen Slogan wollen wir in den Verhandlungen den TV-H weiterführen.“ Ein leistungsstarker öffentlicher Dienst sei essenziell, um das Land voranzubringen. „Unsere Forderungen sind angemessen und notwendig“, erklärte Geyer. „Die Inflationsrate betrug 2023 noch immer fast sechs Prozent, wobei die ohnehin schon hohe Infla- tionsrate von 2022 hinzukommt.“ Der öffentliche Dienst müsse viele Herausforderungen wie Aufgabenzuwachs, den demografischen Wandel und die Digitalisierung stemmen. Zugleich biete der Arbeitsmarkt auch in Hessen immer weniger geeignetes Personal. Bei der Suche nach Fachkräften sei die Konkurrenz mit der Privatwirtschaft größer denn je. „Es geht mittlerweile nicht nur darum, neue Leute zu gewinnen, sondern auch darum, die vorhandenen Kolleginnen und Kollegen zu halten.“ Für Heini Schmitt, Chef des dbb Landesbundes Hessen, ist klar: „Es muss nicht nur ein kraftvoller Tarifabschluss her. Das Ergebnis muss zeitgleich und systemkonform auf den Beamtenbereich übertragen werden, um auch auf diese Weise einer verfassungskonformen Alimentation einen wichtigen Schritt näherzukommen.“ Es dürfe sich keine Lohnlücke zwischen Hessen und den anderen Bundesländern auftun. Nach dem Auftakt war die Stimmung gemischt. „Wir wissen jetzt im Groben, was möglich ist und dass das Land Hessen unsere Forderungen nicht vollständig blockiert“, fasste Geyer die ersten Gespräche zusammen. Diese Bereitschaft sei löblich, aber bei Wei- tem nicht ausreichend. „Innenminister Roman Poseck sagt zwar, er habe die schwierige Lage des öffentlichen Dienstes erkannt. Leider sind die bisherigen Zugeständnisse unzureichend und werden die Lage nicht maßgeblich verbessern. Die Landesregierung muss zeigen, dass sie es mit den Verbesserungen für die hessischen Beschäftigten ernst meint.“ Mehr: dbb.de/einkommensrunde _ Konstruktive zweite Verhandlungsrunde Die zweite Verhandlungsrunde für den Rettungsdienst zwischen dem dbb und der Vereinigung kommunaler Arbeitgeber (VKA) ist kontrovers, aber konstruktiv abgelaufen. Ein zentrales Thema der Verhandlungen am 2. Februar 2024 war die Arbeitszeitverkürzung. Für den dbb steht fest, dass die Arbeitszeit verringert werden muss. Nicht nur, um dauerhaft für Entlastung zu sorgen und den Gesundheitsschutz zu fördern, sondern auch um den Rettungsdienst attraktiver zu gestalten und langfristig Personal zu gewinnen. „Trotz konstruktiver Verhandlungen wurde heute noch kein Durchbruch erzielt“, erklärte Andreas Hemsing, Verhandlungsführer und dbb Vize. „Wir halten an unserer Kernforderung fest, die Wochenarbeitszeit für die Beschäftigten im kommunalen Rettungsdienst zu reduzieren. Sonst kann es keine dringend benötigte Entlastung für die Rettungskräfte geben. In der nächsten Runde erwarten wir, dass die Arbeitgeberseite nachlegt.“ Neben der Arbeitszeitverkürzung lehnt die VKA derzeit auch die Aufwertung der Praxisanleitenden durch eine Funktionszulage ab. Sie argumentiert, dass sich die Verhandlungszusage aus dem TVöD-Abschluss lediglich auf die Arbeitszeit beschränke. Für den dbb hingegen ist es selbstverständlich, dass betriebliche Regelungen zur Arbeitszeit tarifvertragliche Leitplanken benötigen. Es müssen Parameter entwickelt und festgelegt werden, die unter anderem den Gesundheitsschutz aufgreifen. Rettungsdienste Einkommensrunden gestartet Am 23. Januar 2024 haben beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) die Tarifverhandlungen 2024 begonnen. Zeitnah werden Südwestrundfunk (SWR) und Westdeutscher Rundfunk (WDR) folgen, die ihre Tarifverträge ebenfalls gekündigt haben. Weitere Rundfunkanstalten folgen in den kommenden Monaten. Angelehnt an die dbb Forderungen im öffentlichen Dienst fordert VRFF – Die Mediengewerkschaft Betriebsgruppe Norddeutscher Rundfunk, die Tabellenentgelte der Beschäftigten um 10,5 Prozent, mindestens aber um 500 Euro monatlich zu erhöhen. Die Entgelte der Auszubildenden, Studierenden sowie Praktikantinnen und Praktikanten sollen um 200 Euro monatlich erhöht werden. Die Laufzeit soll zwölf Monate betragen. Da der 24/7-Sendebetrieb beim NDR ausgebaut werden soll, ist zudem für viele Mitglieder der VRFF eine Verbesserung der Zuschläge und Regelungen von besonderem Interesse. Die Belastungen durch Nachtarbeit müssen angemessen berücksichtigt werden. Außerdem haben beim NDR im Jahr 2022 nicht alle Mitarbeitenden die Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 3 000 Euro erhalten. Mitarbeitende in Elternzeit oder Langzeiterkrankte gingen am Stichtag für die Auszahlung leer aus. Auch diese Ungerechtigkeit möchte die VRFF auflösen. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk dbb Vize und Fachvorstand Tarifpolitik Volker Geyer bei der Auftaktkundgebung in Wiesbaden. © Friedhelm Windmüller AKTUELL 7 dbb magazin | März 2024

INTERVIEW Michael Stübgen, Vorsitzender der Innenministerkonferenz und Minister des Innern und für Kommunales des Landes Brandenburg Es entstehen Parallelgesellschaften, wie wir sie sonst nur von arabischen Großfamilien oder der Mafia kennen. Populisten liefern Parolen statt Antworten Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat und seine Institutionen ist auf einem Tiefpunkt. Wie kann es zurückgewonnen werden? Mündige Bürgerinnen und Bürger beobachten sehr genau, wie Staat und Verwaltung handeln. Im vergangenen Jahr mussten sie die verkorkste Kommunikation rund um das Heizungsgesetz, das Chancen-Aufenthaltsrecht und die Nachtund-Nebel-Aktion, mit der die Agrardiesel-Subventionen gestrichen wurden, miterleben. Durch solche Aktionen sinkt das Vertrauen in den Staat. Die Bürgerinnen und Bürger empfinden das Handeln der Institutionen als weniger richtig und ungerecht. Wer also das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen will, muss erstens eine Politik betreiben, welche die Stärken der repräsentativen Demokratie – nämlich einen fairen Interessenausgleich und einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt – positiv herausstellt. Und zweitens muss diese Politik transparent und bürgernah kommuniziert werden. Die Gesellschaft scheint in vielen Fragen so polarisiert wie nie. Populismus hat Hochkonjunktur. Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen für diesen Trend? Wie finden wir zurück zu einer sachlicheren politischen Kultur? Zunächst einmal ist es das Wesen der Demokratie, Interessen und Argumente gegeneinander abzuwiegen. Das Problem besteht darin, dass immer komplexer werdende Fragen in immer kürzeren Zeitspannen von immer mehr Akteuren bearbeitet werden. Populisten rechts und links der Mitte haben das erkannt. Sie liefern unterkomplexe und verkürzte Antworten auf komplizierte Fragen – kurz Parolen. Zusätzlich umgehen sie die klassischen Gatekeeper und spielen ihre Inhalte mittels Social Media direkt in ihre Milieus und darüber hinaus aus. Es entstehen – wenn man so will – Parallelgesellschaften, wie wir sie sonst nur von arabischen Großfamilien oder der Mafia kennen. Entgegenwirken kann man diesem Trend nicht mit Verbotsverfahren, sondern mit transparenter Kommunikation und politischen Inhalten, die die Wählerinnen und Wähler überzeugen. Sie haben verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich die Sicherheitslage durch internationale Konflikte verschärft habe, nicht nur in Brandenburg. Was bedeutet das konkret und sind die Sicherheitsbehörden dieser Entwicklung gewachsen? Wir befinden uns in einer Situation multipler Krisen. So hat uns allen der russische Überfall auf die Ukraine aufs Schrecklichste vor Augen geführt, wie fragil unsere Sicherheitsarchitektur ist. Die damit einhergehenden Folgen, die sich beispielsweise in der Energieversorgung verdeutlicht haben, machen eines klar: Die Anforderungen an den Bevölkerungsschutz sind enorm gestiegen. Gleiches gilt für den Bereich Cybersicherheit. Immer häufiger versuchen Staaten wie Russland, durch Desinformationskampagnen, Verschwörungstheorien und Fake News Menschen vorsätzlich zu täuschen, existierende Konflikte zu verschärfen und das Vertrauen in staatliche Institutionen zu untergraben. Deshalb setzt sich die Innenministerkonferenz dafür ein, in den Ländern feste Strukturen zur Bekämpfung hybrider Bedrohungen einschließlich Desinformation zu etablieren. Michael Stübgen © K. Baumert 8 AKTUELL dbb magazin | März 2024

Auch die Geschehnisse im Nahen Osten wirken sich auf die Sicherheitslage in Deutschland aus. Der brutale Terrorangriff der Hamas auf Israel hat mich fassungslos gemacht. Für mich ist ganz klar: Wer Jüdinnen und Juden bedroht, bedroht ganz Deutschland. Wer das Existenzrecht Israels anzweifelt, stellt sich gegen Deutschland. Und wer den Terror der Hamas bejubelt, hat in Deutschland nichts zu suchen. Um dies zu gewährleisten, stellen sich die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder jeder Form von antisemitischer Hetze, Extremismus und Gewalt entschlossen entgegen – und das mit allen ihnen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln. Egal ob bei Versammlungen, der Aufklärung von Straftaten oder auch im Präventionsbereich. Bürokratieabbau ist über alle Parteigrenzen hinweg eine Dauerforderung. Was muss getan werden, um dabei voranzukommen? Wie bewerten Sie die aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung? Leider ist der Begriff Bürokratie deutlich negativ besetzt. Denn im Grunde stehen dahinter wichtige Dokumentations-, Melde- und Informationspflichten. Darüber hinaus stellen unsere Verwaltungsverfahren sicher, dass Bürgerinnen und Bürger gleichbehandelt werden. Da sich alle gesellschaftlichen Bereiche stetig weiterentwickeln, führt dieser Prozess zu neuen und geänderten Regelungen. Diese werden bereits in ihrer Entstehung auf Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit geprüft. So wird vermieden, dass sich unnötige Bürokratie etabliert. Als unnötige Bürokratie empfinden es Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger, wenn Gesetze und Vorschriften nicht adressatengerecht formuliert sind, von Verwaltungsbehörden umständlich umgesetzt werden oder Hilfestellungen in einfacher Sprache fehlen. Um hier Abhilfe zu schaffen, müssen Betroffene frühzeitig in die Formulierung von Gesetzen und anderen Vorschriften eingebunden werden. Nur durch regelmäßige Überprüfung der Bürokratielasten und stetiger Weiterentwicklung kommen wir beim Bürokratieabbau voran. Grundsätzlich begrüße ich jegliche Bemühungen, um unnötige Bürokratie abzubauen. Der Staatssekretärsausschuss der Bundesregierung „Bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau“ beschloss im November 2022 die Durchführung einer Verbändeabfrage zum Abbau von Bürokratiebelastungen. Insgesamt reichten die Verbände 442 Vorschläge ein. Nur wird im derzeitigen Gesetzesentwurf zum Vierten Bürokratieentlastungsgesetz des Bundesjustizministeriums davon lediglich ein geringer Teil umgesetzt. Auch sind spezifische Entlastungen für die Gruppen, die in den vergangenen Wochen für mehr Bürokratieabbau demonstriert haben, nicht erkennbar. Und selbst die Vorschläge, die jetzt Eingang in den Gesetzesentwurf gefunden haben, werden vielfach nicht vollständig umgesetzt. Kann künstliche Intelligenz in der Verwaltung helfen, Bürokratie abzubauen und perspektivisch die Folgen des Fachkräftemangels abmildern? Ein bekanntes KI-Programm würde Ihnen wie folgt antworten: „In der Tat, künstliche Intelligenz bietet enorme Potenziale zur Reduzierung von Bürokratie in der Verwaltung. Durch Automatisierung können wir Prozesse effizienter gestalten. Perspektivisch können KI-Lösungen auch dazu beitragen, die Auswirkungen des Fachkräftemangels abzumildern, indem sie repetitive Aufgaben übernehmen und menschliche Ressourcen für anspruchsvollere Aufgaben freisetzen.“ Sie sehen, künstliche Intelligenz unterstützt mich an dieser Stelle, eine passende Antwort zu finden. Dennoch ist diese eher oberflächlich und wenig spezifisch. Ähnlich verhält es sich mit dem Einsatz von KI in der Verwaltung. KI kann sich wiederholende, gleichförmige Aufgaben übernehmen, bei analytischen Tätigkeiten kann sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen. Ich denke, KI wird Aufgaben automatisieren, aber keine Jobs. Das heißt, Berufsbilder werden sich verändern. Tätigkeiten werden durch Automatisierung in bestimmten Bereichen weniger anspruchsvoll und können durch Quereinsteiger übernommen werden. Dagegen müssen insbesondere im Bereich der Ermessensausübung und in Abwägungsprozessen auch in Zukunft Menschen die Entscheidungen treffen. Auch die Produktivität höherwertiger Jobs wird steigen, was die Attraktivität des öffentlichen Dienstes erhöht und mehr Raum für kreative Aufgaben ermöglicht. Und eben auch einzigartige und detaillierte Antworten auf Interviewfragen. Aktuell liegt Deutschland bei der Verwaltungsdigitalisierung im europäischen Vergleich nur im hinteren Mittelfeld. Mit dem Onlinezugangsgesetz soll sich das ändern. Wie beurteilen Sie den Umsetzungsstand? Was muss darüber hinaus passieren? Die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen geht etappenweise voran, aber sie geht voran. Gemessen an der hohen Anzahl ist ein schnelleres Voranschreiten jedoch unerlässlich. Das im Gesetzgebungsverfahren befindliche OZG-Nachfolgegesetz („OZG 2.0“) soll hierbei Abhilfe schaffen. Ein wichtiger Punkt für mich ist das angestrebte „Once-Only“-Prinzip. Das bedeutet, dass Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in Zukunft nur noch einmal ihre Daten in der öffentlichen Verwaltung hinterlegen müssen und die Behörden sich über digitale Register miteinander austauschen. Ein Zielbild sollte zudem die Ende-zu-Ende-Digitalisierung, die Zentralisierung von Nutzerkonten und die Stärkung des IT-Planungsrats sein. Auf praktischer Ebene ist die explizite Verpflichtung der Kommunen zur Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes unerlässlich, da ein Hauptteil der Verwaltungsleistungen dort vollzogen wird. Eine Zentralisierung oder ein Aushebeln des demokratisch verankerten Föderalismusprinzips, und damit einhergehend die Eigenständigkeit der Kommunen, darf dabei jedoch nicht in Rede stehen, wenn es beispielsweise um die Vorgabe bestimmter Softwarelösungen oder Systeme geht. Priorisierungen und Anreize sind für mich Schlüsselfaktoren. So wurde beispielsweise jüngst im IT-Planungsrat die priorisierte Umsetzung sogenannter Fokusleistungen und Leistungen in besonderem föderalen Interesse beschlossen. Hierzu gehören mehrere Hundert Einzelleistungen wie der Führerschein, das Wohn- oder Bürgergeld und der Aufenthaltstitel. _ Grundsätzlich begrüße ich jegliche Bemühungen, um unnötige Bürokratie abzubauen. AKTUELL 9 dbb magazin | März 2024

ARBEITSMARKT Fachkräftegewinnung Auswanderer tun sich schwer mit Deutschland Mit der Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes will die Bundesregierung neue Wege erschließen. Fachkräfte sollen schneller und unbürokratischer in Deutschland arbeiten können. Aber fühlen sich Einwanderer überhaupt wohl in der Bundesrepublik? Aktuelle Zahlen der Auswanderer-Community InterNations lassen Zweifel aufkommen. Das neue Gesetz zur Fachkräfteeinwanderung soll vorwiegend Hürden abbauen. Dazu wurde unter anderem die Verdienstgrenze für die sogenannte Blaue Karte gesenkt. Wer zwei Jahre Berufserfahrung und einen Abschluss im Heimatland hat, soll als Fachkraft einfacher nach Deutschland kommen können. Das ist eine Reaktion der Bundesregierung auf die in vielen Regionen und Branchen fehlenden, gut ausgebildeten Fachkräfte, denn die Zahl der offenen Stellen lag 2022 bei rund 1,98 Millionen. Gleichzeitig will die Bundesregierung mit ihrer Fachkräftestrategie inländische Potenziale heben, indem sie die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren erhöhen und die Aus- und Weiterbildung stärken möchte. Zusätzliche qualifizierte Einwanderung sei aber dennoch nötig, wie Bundeskanzler Olaf Scholz am 29. März 2023 im Bundestag klarmachte. Es sei wichtig, dass Deutschland die benötigten Fachkräfte auch tatsächlich bekomme. „Und dazu brauchen wir das modernste Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Europäischen Union, eines, das sich im weltweiten Vergleich sehen lassen kann und ganz vorne steht“, sagte der Bundeskanzler. Es sei ein weiterer Schritt zur Modernisierung Deutschlands, „ein weiterer Schritt, wirtschaftliches Wachstum auch für die Zukunft zu gewährleisteten, und ein weiterer Schritt, jahrzehntelangen Stillstand zu überwinden.“ Bürokratie ist nur eine Seite der Medaille Der Bundestag hat das Gesetz am 23. Juni 2023 beschlossen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte dazu: „Wir wollen, dass Fachkräfte schnell nach Deutschland kommen und durchstarten können. Bürokratische Hürden wollen wir aus dem Weg räumen. Wenn Menschen Berufserfahrung oder persönliches Potenzial mitbringen, werden wir es ihnen ermöglichen, auf unserem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.“ Es fehlten überall Fachkräfte, so die Ministerin. In der Pflege, in Krankenhäusern, in Kindertagesstätten und Schulen, beim Handwerk und auch in der öffentlichen Verwaltung. Die Gesetzesreform setzt insbesondere auf Änderungen in den Bereichen Qualifikation, Erfahrung und Potenzial: Wer einen Abschluss hat, kann künftig jede qualifizierte Beschäftigung ausüben. Wer mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und einen im Herkunftsland staatlich anerkannten Berufsabschluss hat, kann als Arbeitskraft einwandern. Der Berufsabschluss muss künftig nicht mehr in Deutschland anerkannt sein. Neu ist eine sogenannte Chancenkarte zur Arbeitssuche, die auf einem Punktesystem basiert. Zu den Auswahlkriterien gehören Qualifikation, Deutsch- und Englischkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug, Alter und mitziehende Lebens- oder Ehepartner. Der Bundesrat hat das Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung am 7. Juli 2023 beschlossen. Es besteht aus mehreren Teilen, die seit 18. November 2023 sukzessive in Kraft treten, damit die betroffenen Behörden genügend Zeit für die Umsetzung haben. Seit 18. November gelten die Einwanderungsmöglichkeiten mit der neu gestalteten Blauen Karte EU sowie die neuen Regelungen für die Aufenthaltserlaubnisse für Fachkräfte mit Berufsausbildung und Fachkräfte mit akademischer Ausbildung: Demnach haben Einwanderer einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind. Die Beschränkung, dass Einwandernde nur aufgrund der mit dem Berufsabschluss vermittelten Befähigung arbeiten dürfen, entfällt. Wer eine qualifizierte Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss vorweisen kann, ist damit bei der Jobsuche nicht mehr auf Beschäftigungen beschränkt, die in Verbindung mit dieser Ausbildung stehen. Ausnahmen gibt es für reglementierte Berufe. Ferner gilt die vereinfachte Zustimmungserteilung der Bundesagentur für Arbeit für die Beschäftigung von BerufskraftModel Foto: Angel Cortijo Nieto/Colourbox.de 10 AKTUELL dbb magazin | März 2024

fahrenden aus Drittstaaten. Weitere Regelungen sollen im März und im Juni 2024 in Kraft treten. Während bürokratische Hürden quasi per Federstrich abgebaut werden können, gibt es hohe gesellschaftliche Hürden, die Fachkräfte daran hindern, nach Deutschland zu kommen. Und die wiegen zum Teil schwer, wie die neuesten Ergebnisse der jährlichen Auswanderungsumfrage von InterNations, der weltweit größten Auswanderer-Community mit mehr als 4,8 Millionen Mitgliedern, nahelegen. Die Studie „Expat Insider“ ist mit mehr als 12 000 Befragten eine der umfassendsten Umfragen über das Leben und Arbeiten im Ausland. Sie bietet Einblicke in das Leben von Ausgewanderten in 53 Zielländern und liefert detaillierte Informationen über die Zufriedenheit der Befragten mit ihren jeweiligen Ländern. Gemessen wird das in den Indizes Lebensqualität, Leichtigkeit der Eingewöhnung, Arbeiten im Ausland, persönliche Finanzen und im „Expat Essentials Index“, der die Bereiche Wohnen, Verwaltung, Sprache und digitales Leben umfasst. Deutschland erreicht dabei lediglich Platz 49 von 53. Deutschland ist unbeliebt Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung zählen zu den größten Knackpunkten für Auswanderer in Deutschland. Die Bundesrepublik schneidet in allen drei Unterkategorien dieses Indexes miserabel ab und belegt zum Beispiel bei der „Freundlichkeit der Einheimischen“ Platz 50, beim „Freunde finden“ Platz 49 und bei „Kultur und Willkommen“ ebenfalls Platz 49. Drei von zehn Auswanderern sagen, dass die Menschen in Deutschland nicht freundlich zu Ausländern sind – im Vergleich sagen das weltweit nur 18 Prozent der Auswanderer in Bezug auf ihre jeweiligen Zielländer. 55 Prozent geben an, Schwierigkeiten zu haben, lokale Freunde zu finden. Das sagen weltweit nur 36 Prozent. Da 32 Prozent auch kein persönliches Unterstützungsnetzwerk in Deutschland haben, überrascht es nicht, dass sich etwa jeder Dritte in Deutschland nicht zu Hause fühlt. Das trifft weltweit nur auf 20 Prozent der Auswanderer in Bezug auf ihr jeweiliges Zielland zu. Auswanderer in Deutschland haben es den Zahlen zufolge auch am schwersten, sich zurechtzufinden. Deutschland rangiert auf dem letzten Platz des „Expat Essentials Index“, der die Themen digitales Leben, öffentliche Verwaltung, Wohnen und Sprache umfasst. Die fehlende digitale Infrastruktur (Platz 51) und die Sprachbarriere (Platz 51) frustrieren Auswanderer immens. Weiterhin haben 58 Prozent Probleme bei der Wohnungssuche, was 27 Prozentpunkte über dem weltweiten Durchschnitt von 31 Prozent liegt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine aktuelle, vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gege- bene Studie der OECD: Dafür wurden 2022 rund 29 000 potenzielle Arbeitskräfte mit Studium aus Drittstaaten wie der Türkei, Indien oder Kolumbien befragt, die sich für eine Arbeitsstelle in Deutschland interessieren. 2023 erhielten die Bewerberinnen und Bewerber erneut Fragen. Von den rund 6 000 Antwortenden sind nur 5 Prozent tatsächlich nach Deutschland gezogen und weniger als 15 Prozent haben konkrete Schritte für eine Auswanderung unternommen. Auch hier kritisierten die in Deutschland Angekommenen eine fehlende Willkommenskultur und einen schwierigen Integrationsprozess. Der Grund dafür liege hauptsächlich im System, erklärte Studienleiter Thomas Liebig von der OECD am 31. Januar 2024 gegenüber tagesschau.de. Zum einen hätten viele Migranten Schwierigkeiten, überhaupt mit deutschen Arbeitgebern in Kontakt zu treten. Zum anderen – und das sei der wesentliche Flaschenhals – seien es die Visastellen im Ausland. Positiv ist, dass Deutschland im „Working Abroad Index“ mit Platz 15 recht gut abschneidet. Dieser Index umfasst die Kategorien Karriereaussichten, Gehalt und Arbeitsplatzsicherheit, Arbeit und Freizeit sowie Arbeitskultur und -zufriedenheit. Der deutsche Arbeitsmarkt liegt auf Platz 4 und die Arbeitsplatzsicherheit auf Platz 5 und somit unter den Top 5 weltweit. Bei den persönlichen Finanzen schneidet das Land mit Platz 28 allerdings nur mittelmäßig ab. In Bezug auf die Lebensqualität (Platz 18) schätzen eingewanderte Fachkräfte sowohl die Infrastruktur für Autos als auch die leichte Verfügbarkeit von umweltfreundlichen Waren und Dienstleistungen (jeweils Platz 7). 64 Prozent sagen, sie seien glücklich mit ihrem Leben in Deutschland. Weltweit sagen das 72 Prozent über ihre Zielländer. br

Zoll-Warenabfertigung am Flughafen Berlin Brandenburg Im Angesicht der Braunschlange Abgaben erheben, Schmuggel aufdecken, Schwarzarbeit bekämpfen – darum kümmert sich der Zoll. Doch es gibt noch weitere Aufgaben, die weniger bekannt sind. Ein Zollbeamter will das ändern und gibt Einblicke in Markenrecht, Produktsicherheit und Artenschutz. © CC BY-NC/fir0002 flagstaffotos REPORTAGE 12 FOKUS dbb magazin | März 2024

Das Telefon klingelt, Christian Böhm nimmt ab: „Chef, komm mal runter, wir haben hier was Lebendiges im Koffer“, sagt der Kollege. Am Kontrollpunkt angekommen, wirft Böhm einen Blick aufs Röntgenbild. Schnell steht fest: Schlange – kleineres Exemplar, wahrscheinlich Python. Wird verhältnismäßig oft geschmuggelt. Routiniert, aber vorsichtig, öffnet er den Koffer. Sofort geht das Reptil in den Angriffsmodus, bäumt sich auf. Prompt schlägt der Zollbeamte den Deckel wieder zu. Schrecksekunde. So verhält sich kein Python. Professioneller Rat muss her. Christian Böhm, gebürtiger West-Berliner, leitet das Zollamt am Flughafen Berlin Brandenburg (BER). Heute steht er in dem Zimmer, das „seine Sammlung“ beherbergt, wie er sie nennt. Hier schlummern Anekdoten aus 43 Dienstjahren, auf die der 63-Jährige inzwischen zurückblicken kann. Verstaut in Regalen, ausgebreitet auf Tischplatten, drapiert in Vitrinen. Es gibt einen Pokal, der dem FIFA-WM-Pokal auffällig ähnelt, ein Löwenfell an der Wand, mitsamt ausgestopftem Kopf. Metallfiguren von Iron Man, Alien und Predator, bekannt aus Comic und Film. Eine Garderobe mit vermeintlicher Markenkleidung – Sweatshirts, Hoodies, Schuhe – und vieles mehr. Beschlagnahmtes, was nicht hier landet, lagert zunächst in der Asservatenkammer und wird mittelfristig bei extrem hohen Temperaturen verbrannt. „Die Sammlung haben wir angelegt, um der Presse, Schulklassen und anderen Besuchergruppen zu zeigen, was wir so machen und erleben“, erklärt Böhm. Und dann fährt er fort mit der Geschichte über die Begegnung mit der Schlange im Koffer, die sich noch am Flughafen in Berlin Tegel zugetragen hat. Dort war er bis zur Schließung im Jahr 2020 ebenfalls Zollamtsleiter. Kein Gegengift auf Lager Inzwischen ist der Schlangenexperte des Berliner Tierparks eingetroffen. Auch er öffnet den Koffer vorsichtig, wieder schnellt die Schlange hervor, wieder wird der Deckel in Windeseile geschlossen. „Wir machen hier gar nichts mehr“, sagt der Experte. Später, auf der Schlangenfarm, die damals noch zum Tierpark gehörte, öffnen Reptilienpfleger den Koffer, ausgestattet mit Masken, Schutzanzügen und einer speziellen Schlangenzange. „Ach du Scheiße“, rutscht es dem Schlangenexperten heraus. „Herr Böhm, wissen Sie eigentlich, was Sie da haben?“ „Ne, sonst hätte ich Sie ja nicht angerufen“, erwidert der Zollbeamte. An der Zange windet sich eine australische Braunschlange, eine der weltweit giftigsten Schlangen. Die Ausfuhr von Down Under ist verboten, die Einfuhr nach Europa ebenfalls. Offiziell gibt es die Tiere in Deutschland nicht, entsprechend ist auch nirgends ein Gegengift vorrätig. „Wenn sie uns erwischt hätte, wäre es das gewesen. Da haben wir richtig Glück gehabt.“ Auch wenn der Fall schon einige Jahre in der Vergangenheit liegt, er veranschaulicht ein Problem, das bis in die Gegenwart besteht: Der Schmuggel von Tieren, die unter das Washingtoner Artenschutzabkommen fallen, floriert. Dasselbe gilt für Objekte, die aus ihnen hergestellt werden, und geschützte Pflanzen. Laut aktueller Zollstatistik – diese bezieht sich auf das Jahr 2022 – wurden die Zöllnerinnen und Zöllner in der Bundesrepublik knapp 1 100-mal fündig. Sie beschlagnahmten etwa 64 000 Tiere und Pflanzen. Den Großteil mit 57 Prozent im Postverkehr, 38 Prozent an Flughäfen. „Manchmal handelt es sich auch um Touristen, die unwissentlich etwas mitbringen“, sagt Böhm. „Aber oft genug eben auch um skrupellose Schmuggler.“ Der erfahrene Zöllner hatte schon mit kleinen Rhesusaffen zu tun, die in einen Vogelbauer eingesperrt auf dem Gepäckband ihre Runden drehten, bis sie jemand entdeckte. Und mit acht mongolischen Sakerfalken, die mit Drähten in einem Rollkoffer fixiert und mit Medikamenten ruhiggestellt waren. Zwei Vögel haben die Tortur nicht überlebt, einer wurde schwer verletzt. „Das war mit das Grausamste, was ich je gesehen habe.“ Was mit den Tieren passiert? Der Zoll pflegt einen engen Austausch mit Tierparks und Zoos in ganz Deutschland. Trotzdem ist die Unterbringung nicht immer einfach. Die Rhesusäffchen wollte zunächst niemand aufnehmen, weil es sich um Herdentiere handelt, die sich nicht ohne Weiteres in die bestehenden Gruppen Christian Böhm leitet das Zollamt am Flughafen Berlin Brandenburg (BER). Chinesische Medikamente mit Mehl aus Tigerknochen sind in Deutschland verboten. © Jan Brenner (7) FOKUS 13 dbb magazin | März 2024

integrieren lassen. „Da musste ich den ganzen Tag telefonieren“, erinnert sich Böhm. Schließlich hätte sich ein Tierpark erbarmt. „Ich habe mir Bananen und ein Auto mit Hundezwinger geschnappt, dann ging’s los.“ Zweimal habe er unterwegs an Raststätten angehalten, um im Hundezwinger nach dem Rechten zu schauen und die Äffchen zu füttern. Auch die Unterbringung der Sakerfalken gestaltete sich schwierig. Denn der Fund erfolgte ausgerechnet an einem 24. Dezember. „Versuchen Sie mal, da jemanden zu erreichen.“ Aber es gelang nach mehreren Anläufen. Ein Falkner aus Spandau hat die Vögel wieder gesund gepflegt, fünf von ihnen leben inzwischen wieder in Freiheit in der Mongolei. Das verletzte Tier ist zwar durchgekommen, bleibt aber beim Falkner, da die Folgen der Verletzungen eine Auswilderung unmöglich machen. Und die australische Braunschlange? „Die ist auf der Schlangenfarm geblieben.“ Naturkundemuseum leistet Amtshilfe Böhm gehört zu den Menschen, denen deutlich anzumerken ist, dass der Beruf auch ihre Berufung ist. Er erzählt leidenschaftlich, ganz offenbar ist ihm auch nach so vielen Dienstjahren die Freude am Job nicht abhandengekommen. Darauf angesprochen, entgegnet der Zöllner: „Das Schöne ist die Vielfalt.“ Diese ergebe sich zum einen aus den verschiedenen Zuständigkeiten des Zolls. Und zum anderen aus Begegnungen – Böhm ist unter anderem eng mit dem Berliner Naturkundemuseum vernetzt: „Ohne deren Hilfe hätte ich zum Beispiel kaum herausgefunden, was das hier ist“, sagt er, geht zielstrebig auf eine Vitrine zu und greift eine Figur, auf welcher der Schädel eines Tieres befestigt ist. Sie gehörte mutmaßlich dem Anhänger einer afrikanischen Naturreligion, womöglich einem Voodoo-Priester. „Ich musste herausfinden, ob der Schädel von einem geschützten Tier stammt“ – es habe eine Weile gedauert, aber nach zahlreichen Vergleichen mit Schädeln aus der Sammlung des Naturkundemuseums bestand kein Zweifel mehr: Es handelt sich um den Schädel eines geschützten Stachelschweins. Deshalb hat der Zoll die Figur beschlagnahmt. „Vielleicht bin ich jetzt verflucht“, sagt Böhm mit einem Augenzwinkern. „Aber das Recht müssen wir durchsetzen.“ In einem anderen Fall – damals gab es weder Google noch Wikipedia – unterstützte ihn die chinesische Botschaft in Berlin bei einer Recherche. An die hatte sich der Zollamtsleiter gewandt, um herauszufinden, ob in einem sichergestellten Medizinprodukt Tigerknochen enthalten sind. Diesen wird eine lindernde Wirkung Nachwuchskräfte bei der Arbeit: Anwärterinnen und Anwärter im Zollamt Flughafen BER. Verstöße gegen den Artenschutz und Produktfälschungen bilden den Kern der Sammlung. 14 FOKUS dbb magazin | März 2024

Basteln für den Markenschutz: Um die Markenrechte klären zu können, mussten die Zöllner den Lötkolben schwingen und die Bausätze zusammenbauen. bei Rheuma- und Gelenkerkrankungen zugeschrieben. Auf das Hilfsgesuch hin meldete sich der chinesische Botschafter persönlich: Böhm bekam einen Exkurs in die Welt der chinesischen Schriftzeichen, seitdem kann er verbotene Inhaltsstoffe über die Verpackungen identifizieren. Den Handel mit Tigerknochen und weiteren Produkten, die Bestandteile von geschützten Tieren enthalten, hatte die chinesische Regierung 1993 zunächst verboten, 2018 allerdings unter besonderen Bedingungen wieder erlaubt. „Legal ist die Einfuhr solcher Medikamente nach Deutschland natürlich trotzdem nicht“, betont der 63-Jährige. Dazu gehören Tücher, die in speziellen Tinkturen getränkt sind und auf schmerzende Stellen gelegt werden; die Tigerknochen sind zermahlen und Bestandteil der Tinktur. Ein solches Tuch, noch original gefaltet und verpackt, verwahrt der Zöllner in der Sammlung. Im Visier: Coronaschutzmasken Erlebnisse, die fordernd waren – davon gibt es nach 43 Jahre eine ganze Reihe, etwa die Coronapandemie. „Sie glauben gar nicht, was hier los war“, erzählt Böhm. „Hier haben permanent Bürgermeister von Städten angerufen, von denen ich noch nie etwas gehört habe.“ Auch die Politik machte Druck, es hagelte Beschwerden. Grund: Dringend benötigte Lieferungen von Schutzmasken, die es nicht immer durch die Zollkontrolle geschafft hatten. „Wir waren sehr streng, damit es in Pflegeheimen oder Krankenhäusern nicht zu Ausbrüchen kommt, weil die Masken nichts taugen.“ Und das sei auch gut gewesen: „Es gab Masken, in denen chinesische Zeitungen als Filterschicht verarbeitet waren. So etwas ist bei uns nicht durchgekommen.“ Die Produktsicherheit zu gewährleisten, das ist eine vergleichsweise unbekannte Aufgabe des Zolls. Es besteht eine enge Zusammenarbeit mit den Behörden für Marktüberwachung. Was sicher ist und was nicht, definieren Grenzwerte und Gesetze. „Je mehr Billiganbieter den Markt fluten und Schrott verkaufen, desto wichtiger werden die Kontrollen“, unterstreicht Böhm. Beispiele aus der Praxis? Herrenuhren, deren Armbänder so stark mit Kadmium belastet waren, dass sich der Träger allmählich mit © Günther Wicker/Flughafen Berlin Brandenburg GmbH FOKUS 15 dbb magazin | März 2024

dem Schwermetall vergiftet hätte. Extrem auch: Weihnachtsbeleuchtung, die eine große deutsche Supermarktkette im vergangenen Jahr verkaufen wollte. Beim Anschließen hätte es unmittelbar einen Stromschlag gegeben. „Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn wir das nicht entdeckt hätten.“ Nicht gefährlich, aber ärgerlich ist für Unternehmen der Handel mit gefälschten Markenprodukten, da er immensen wirtschaftlichen Schaden verursacht. Laut Statistik beschlagnahmte der Zoll im Jahr 2022 Waren im Wert von knapp 435 Millionen Euro. Auch für dieses Phänomen beherbergt die Sammlung des Zollamts zahlreiche Beispiele. Böhm deutet auf die Kleiderständer in der Ecke des Raumes: „Grundsätzlich gibt es geschützte Namen und geschützte Bildzeichen“, erklärt er. Geschützt sind also nicht bloß die Namen „Adidas“ und „Nike“, sondern auch die zugehörigen drei Streifen und der Haken. Die Verletzung des Markenrechts ist vor allem ein Problem im Internethandel. Am BER stellt der Zoll jährlich 40 bis 50 Tonnen gefälschte Kleidung sicher. Wer online kauft, sollte nur bei seriösen Anbietern bestellen. Sonst drohe Post von Anwälten, die eine Unterlassungserklärung einfordern, berichtet der Zöllner. Die fällige Gebühr könne durchaus 4 000 Euro betragen. Anders verhält es sich, wenn jemand ein gefälschtes Markenprodukt aus dem Urlaub mitbringt. In diesem Fall sind keine Konsequenzen zu befürchten. „Aber nur, wenn kein gewerblicher Zweck dahintersteckt.“ Markenpiraterie betrifft jedoch nicht nur Kleidung: Einmal werden die Berliner Zöllner bei Bausätzen von Comicfiguren misstrauisch. Auf der Verpackung sind Iron Man, Optimus Prime, Alien und Predator abgedruckt. Eine Nachfrage beim Markeninhaber ergibt: Die Bilder von der Verpackung reichen nicht, um zu entscheiden, ob eine Urheberrechtsverletzung vorliegt. „Da blieb uns nichts anderes übrig, als die Figuren zusammenzubauen“, erzählt Böhm, der selbst Comicfan ist, und lacht. Die Kollegen seien sehr motiviert bei der Sache gewesen. Ergebnis: Es handelte sich tatsächlich um eine Urheberrechtsverletzung. Der Anbieter der Bausätze hatte keine Genehmigung der Markeninhaber eingeholt. Wenn der DFB anruft Ganz oben auf einem Regal thront eine Nachbildung des FIFAWM-Pokals. Böhm greift die Trophäe, Erinnerungen werden wach. Ob es sich dabei ebenfalls um eine Markenfälschung handelt? Nein, dahinter verbirgt sich eine ganz andere Geschichte: Juli 2014, die deutsche Fußballnationalmannschaft hat gerade die Weltmeisterschaft in Brasilien gewonnen. Beim Zoll in Tegel klingelt das Telefon. Dran ist jemand vom Deutschen Fußballbund, der die Ankunft des Siegerfliegers organisiert. Es geht um die Zollanmeldung für die Siegertrophäe – also um die Nachbildung, denn das Original ist so wertvoll, dass die Mannschaft es nach der Siegesfeier wieder abgeben muss. Die Sache ist schnell geregelt. Doch später klingelt das Telefon erneut: „Herr Böhm, wir kommen mit dem Original“, heißt es. „Ne, ihr könnt doch nicht mit dem Original kommen!“, antwortet Böhm. „Wieso überhaupt?“ Die Erklärung: Ein Fußballer – den Namen verrät der Zöllner nicht – habe die Trophäe mit aufs Hotelzimmer genommen und sei damit eingeschlafen. Was nun? Zollrechtlich lässt sich die Situation mit einem sogenannten Verwendungsschein lösen. Aber dann klingelt das Telefon wieder: „Herr Böhm, wir kommen doch mit der Kopie. Wir sind ins Zimmer geschlichen und haben das Original geholt.“ Als Dankeschön für die Organisation – und das damit verbundene Wirrwarr – hat der DFB dem Zoll die Kunststoffnachbildung der Trophäe geschenkt. Mutmaßlich der einzig legale Gegenstand, der es in die Sammlung des Zollamts am Flughafen geschafft hat. cdi Das Warenaufkommen steigt kontinuierlich Die Schwerpunkte der Arbeit richten sich nach den Flugverbindungen – weil die meiste Luftfracht aus Fernost kommt, fokussiert sich der Zoll am Flughafen Berlin Brandenburg vor allem auf Produktsicherheit und die Wahrung von Markenrechten. Der Artenschutz hingegen spielt nur eine geringe Rolle, weil es kaum Flugverbindungen von Afrika und Südamerika nach Berlin gibt. Aktuell sehen sich die 45 Mitarbeitenden mit einem erhöhten Warenaufkommen konfrontiert: Bis zum Sommer 2023 mussten sie 300 bis 350 Pakete am Tag abfertigen, inzwischen sind es etwa 2 500. Um die Aufgaben zu bewältigen, erfolgen Neueinstellungen. „Wenn das neue Personal da ist, sehe ich uns in der Lage, die Paketmenge zu bewältigen“, sagt Zollamtsleiter Christian Böhm. Bestimmte Risikoparameter, etwa Herkunftsländer und Empfänger, ermöglichen zielgerichtete Kontrollen. Mithilfe eines modernen Röntgengeräts lassen sich Sendungen zeiteffizient prüfen. „Natürlich ist auch immer das Bauchgefühl der Beamtinnen und Beamten von Bedeutung.“ Das Zollamt am Flughafen BER Eine legendäre Trophäe mit nicht minder legendärer Zollgeschichte. 16 FOKUS dbb magazin | März 2024

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