dbb magazin 3/2022

dbb magazin Migration und Integration | Vielfalt als Chance Interview | Reem Alabali-Radovan, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration Sozial- und Erziehungsdienst | Start der Tarifverhandlungen 3 | 2022 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

Heimatsuche in einem anderen Land Schon die Römer kannten sich damit aus und nannten den dauerhaften Wohnortwechsel durch (Ab-)Wanderung „migratio“. Heute haben 27 Prozent unserer Bevölkerung eine familiäre Einwanderungsgeschichte, wie wir dem Interview mit Staatsministerin Reem Alabali-Radovan entnehmen. Sie weiß auch, dass nur zwölf Prozent von ihnen im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, obwohl gerade sie sich, im Vergleich zu ihren Kolleginnen und Kollegen, durch eine höhere Arbeitszufriedenheit, mehr Engagement und Verbundenheit mit dem Arbeitgeber auszeichnen. (Nicht nur am Rande sei erwähnt, dass überwiegend junge Migrantinnen in eher niedrigen Laufbahngruppen beschäftigt sind.) Weitere Zahlen und Fakten zur Situation von Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst des Bundes und der Länder sind im Dossier zusammengestellt. Dort informieren wir auch, welche Maßnahmen zur Verbesserung der Integrationsbilanz auf dem Prüfstand stehen. Dem Schwerpunktthema widmet sich auch die Reportage. Diesmal über das neu aufgestellte Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten. Besonders spannend wird es, wenn wir junge Diplomatinnen und Diplomaten zu Wort kommen lassen, die uns das Diversitätsnetzwerk „Diplomats of Color“ vorstellen, das Menschen mit Migrationsgeschichte und Angehörige religiöser Minderheiten im Auswärtigen Amt zusammenbringt. Es vereint Unterschiede und Gemeinsamkeiten und soll auf alle Bundesministerien ausgeweitet werden. red 16 14 25 TOPTHEMA Migration und Integration 32 AKTUELL NACHRICHTEN 4 SOZIALE ARBEIT Start der Tarifverhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst 8 MEINUNG Sozial- und Erziehungsdienste: Gesellschaft- liche Nützlichkeit als neuer Maßstab 9 MITBESTIMMUNG Betriebsratswahlen 2022 10 Umfrage: Digitalreport 2022 12 FOKUS INTERVIEW Reem Alabali-Radovan, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 14 DOSSIER Migration und Integration im öffentlichen Dienst 16 REPORTAGE Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten: Eine Struktur für gutes Ankommen 20 BUNDESVERWALTUNG Diversitätsnetzwerk „Diplomats of Color“ 25 INTERN EUROPA Das Programm des französischen Ratsvorsitzes 28 Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2022 30 STANDPUNKT Altersarmut ist weiblich 31 FRAUEN Gespräch mit Uta Zech, Präsidentin des BPW Germany und Initiatorin des Equal Pay Day 32 QUERSCHNITTORGANISATIONEN Tag der sozialen Gerechtigkeit: Solidarität stärken und Altersarmut bekämpfen 34 JUGEND Deine Stimme für die JAV 35 SERVICE dbb akademie 38 dbb vorsorgewerk 40 Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 Foto: icon0/Colourbox.de STARTER AKTUELL 3 dbb magazin | März 2022

Digitalisierung der Verwaltung Lange To-do-Liste Bei der Modernisierung des öffentlichen Dienstes müsse die Bundesregierung aufs Tempo drücken, sagt Friedhelm Schäfer, Zweiter Vorsitzender und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb. Breitbandausbau, digitale Identitäten, künstliche Intelligenz, die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes: Das sind nur einige Beispiele für die lange To-do-Liste der Bundesregierung bei der Digitalisierung der Verwaltung und des gesamten Landes“, sagte Schäfer am 16. Februar 2022 nach einem Gespräch mit der Bundestagsabgeordneten Dunja Kreiser. Die Politikerin ist Mitglied des Innenausschusses und dort als Berichterstatterin der SPD-Fraktion für die Digitalisierung der Verwaltung zuständig. „Die Erwartungen sowohl der Bevölkerung als auch der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind enorm groß, schließlich wurde dem Thema im Koalitionsvertrag – vollkommen gerechtfertigt – ein enormer Stellenwert beigemessen. Nun müssen zügig konkrete Taten folgen“, so Schäfer weiter. Der dbb Vize wies erneut darauf hin, dass die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes während der Coronapandemie neben großem Einsatzwillen auch viel Pragmatismus gezeigt hätten: „Die technische Ausstattung war in vielen Teilen des öffentlichen Dienstes einer großen Volkswirtschaft wie Deutschland unwürdig, und es wird zu langsam besser. Die Kolleginnen und Kollegen haben das mit Leidenschaft und Hands-onMentalität ausgeglichen, so gut es eben ging. Langfristig müssen hier aber vernünftige und insbesondere rechtssichere Lösungen gefunden werden, etwa mit Blick auf das ‚Homeoffice‘ beziehungsweise ‚Mobiles Arbeiten‘.“ ■ Foto: robuart/Colourbox.de Krieg in Europa Solidarität mit Ukrainerinnen und Ukrainern Zutiefst schockiert zeigte sich dbb Chef Ulrich Silberbach am 24. Februar 2022 angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Wir sind in Gedanken bei den Ukrainerinnen und Ukrainern – unschuldige Menschen, die aufgrund der unfassbaren Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine durch russische Truppen unter dem Befehl von Wladimir Putin jetzt gerade ihre Heimat verlieren, ihr Hab und Gut, ihre Gesundheit und auch ihr Leben. Der Krieg ist zurück in Europa, und ich hoffe, dass der Wahnsinn, der unendliches Leid bringen wird, zu stoppen ist“, sagte der dbb Bundesvorsitzende am 24. Februar 2022 in Berlin. Es müsse alles dafür getan werden, die Lage nicht weiter eskalieren zu lassen und eine friedliche Beendigung des Konflikts herbeizuführen. „Jetzt gilt es zusammenzustehen. Der Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf die gesamte freie Welt, und dies dürfen wir unter keinen Umständen hinnehmen“, so Silberbach. ■ Foto: Colourbox.de NACHRICHTEN 4 AKTUELL dbb magazin | März 2022

Gespräche im Bundestag Alimentation und Arbeitszeit im Fokus Bei Gesprächen im Deutschen Bundestag hat dbb Vize Friedhelm Schäfer Mitte Februar 2022 auf die Dringlichkeit von Reformen für die Bundesbeamtinnen und -beamten hingewiesen. Besonders zwei Themen müssen unverzüglich angegangen werden: erstens die Umsetzung der einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Alimentation, damit Besoldung und Versorgung endlich wieder den Vorgaben des Grundgesetzes entsprechen. Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Zweitens muss so schnell wie möglich mindestens ein Einstieg in die Reduzierung der Wochenarbeitszeit geschafft werden“, erklärte Schäfer nach Gesprächen mit den Bundestagsabgeordneten Ingo Schäfer (SPD) und Petra Nicolaisen (CDU), die beide Mitglieder im Innenausschuss des Bundestages sind. „Es ist für den Bund offen gesagt ein Armutszeugnis, dass die Alimentation der eigenen Beamtinnen und Beamten immer noch nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht“, machte der Zweite Vorsitzende und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb deutlich. „Dabei waren wir bereits Anfang 2021 auf einem guten Weg zu einer Lösung, bis der entsprechende Gesetzentwurf in der Ressortabstimmung unverständlicherweise gescheitert ist. Die möglichen Lösungswege liegen aber immer noch auf dem Tisch: Stellschrauben sind unter anderem eine Anhebung der Grundbesoldung, eine Stärkung der Kinderkomponenten, die Einführung eines Regionalen Ergänzungszuschlages oder Verbesserungen bei der Beihilfe.“ Mit Blick auf die schon seit Jahren geführte Diskussion um die Arbeitszeit der Bundesbeamtinnen und -beamten erklärte Schäfer: „Die 41-Stunden-Woche ist durch nichts mehr zu rechtfertigen und wird von den Kolleginnen und Kollegen als große Ungerechtigkeit empfunden, da die ursprüngliche Begründung für die Erhöhung der Wochenarbeitszeit schon lange entfallen ist. Bedenken sollte der Bund auch, dass die Ist-Situation nicht gerade ein Werbemittel bei der Nachwuchskräftegewinnung ist.“ Weitere Themen waren die von Bundesinnenministerin Nancy Faeser auf der dbb Jahrestagung im Januar angekündigte Ruhegehaltsfähigkeit der Polizeizulage, die zugesicherte Fortsetzung der Novellierung des Bundespersonalvertretungsgesetzes sowie notwendige Rahmenregelungen für den Bereich „Homeoffice/ Mobiles Arbeiten“. ■ Beitragssprünge in der PKV – muss das sein? Die Ausgaben aller Krankenversicherungen sind in den letzten Jahren überproportional angestiegen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Beiträge. In der privaten Krankenversicherung sind die Beiträge im Gegensatz zur gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Kapitaldeckungsprinzip gedeckt. Wie funktioniert das aber genau und was bedeutet das für die Leistungen und Beiträge in den nächsten Jahren oder auch im Alter? Wie wirken sich die demografische Entwicklung, das aktuelle Zinsumfeld, der medizinische Fortschritt aus und wie sind die Beiträge unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit zu beurteilen? Diese und weitere Fragen wird Friedhelm Schäfer, der Zweite dbb Vorsitzende und Fachvorstand für Beamtenpolitik, am 22. März 2022 unter anderemmit dem Vorstand der debeka und stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Aktuarvereinigung, Roland Weber, sowie dem Direktor des PKV-Verbandes, Dr. Florian Reuther, diskutieren. Die Veranstaltung findet ab 15 Uhr im Livestream statt. Eine Voranmeldung ist nicht erforderlich. dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST Dienstag, 22. März 2022, 15 Uhr im Livestream Foto: Colourbox.de AKTUELL 5 dbb magazin | März 2022

Jahreswirtschaftsbericht 2022 Wirtschaftliche Erholung in Sicht Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat am 26. Januar 2022 den vom Bundeskabinett verabschiedeten Jahreswirtschaftsbericht 2022 vorgestellt. Vor der Veröffentlichung des Berichts waren Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung und des dbb am 19. Januar per Videokonferenz zusammengetroffen. Die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregie- rung waren sich im Vorgespräch mit dem Zweiten Vorsitzenden und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb, Friedhelm Schäfer, sowie der stellvertretenden dbb Bundesvorsitzenden Astrid Hollmann darüber einig, dass Deutschland bis dato – zumindest wirtschaftlich gesehen – glimpflich durch die Krise gekommen sei. Dies sei unter anderem Maßnahmen wie den Coronahilfen und dem Kurzarbeitergeld zu verdanken. Friedhelm Schäfer betonte darüber hinaus die Rolle des öffentlichen Dienstes, der diese unterstützenden Maßnahmen zügig und kompetent umgesetzt hat. Die Pandemie habe gezeigt, dass ein funktionierender öffentlicher Dienst für Deutschland unverzichtbar sei. Durchwachsene Rahmendaten Nach einem pandemiebedingten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 4,6 Prozent in 2020 und einem Anstieg um 2,8 Prozent in 2021 erwartet die Bundesregierung eine weitere wirtschaftliche Erholung. Allerdings rechnet sie für das Jahr 2022 nur noch mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 3,6 Prozent. In der Herbstprojektion 2021 war man noch von 4,1 Prozent ausgegangen. Weiterhin spiele die erhöhte Inflation eine Rolle: Im Jahr 2022 rechnet das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) mit einer Preissteigerungsrate von 3,3 Prozent. In 2021 lag diese bei 3,1 Prozent, in 2020 waren die Preise lediglich um 0,5 Prozent gestiegen. Die deutschen Exporte werden nach Angaben des Jahreswirtschaftsberichts im Jahresdurchschnitt um 6,3 Prozent steigen, die Einfuhren um 7,1 Prozent. Der private Konsum erhöhe sich um 6 Prozent, die Arbeitslosenquote falle von 5,7 Prozent in 2021 auf 5,1 Prozent im Jahr 2022. Neue Indikatoren Im Vorabgespräch mit dem dbb hatten die Vertreter der Bundesregierung bereits darauf hingewiesen, dass es Veränderungen bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung des Jahreswirtschaftsberichts geben werde. Unter dem Stichwort „Dimensionen der Wohlfahrt“ würden fortan weitere Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitsindikatoren „jenseits des Bruttoinlandsprodukts“ betrachtet. Dazu zählen unter anderem Indikatoren aus den Bereichen Soziales, Umwelt, Klimaschutz, Bildung und Forschung sowie Demografie. Hinzu kommt ein Indikator zur Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen. Aber auch Indikatoren wie „Anteil der Frauen in Führungspositionen“ als auch der Durchlässigkeit des Bildungssystems werden hinzugefügt. Zusätzlich werden auch die Geburtenrate und ein Indikator zur Messung des Grades der Ganztagesbetreuung im „neuen“ Bericht zu finden sein. An diesen Indikatoren soll sich künftig die „erweiterte“ Wohlstandsentwicklung im Zeitablauf in Deutschland genau ablesen lassen. Nicht nur ökonomisch interessant ist auch die Einführung der Messung der Gleichverteilung beziehungsweise der Ungleichverteilung der Einkommen in Deutschland. Diese Betrachtung erfolgt mit einer statistischen Größe – dem sogenannten GiniKoeffizienten – als Maß von Gleichheit oder Ungleichheit. Insgesamt werden künftig 31 alternative Indikatoren für ein besseres Abbild der Wohlstandsentwicklung in Deutschland herangezogen. ■ Seit 1967 verpflichtet das Gesetz zur Förderung der Stabilität des Wachstums der Wirtschaft (StWG), umgangssprachlich auch als Stabilitäts- und Wachstumsgesetz bezeichnet, die Bundesregierung, bis Ende Januar eines jeden Jahres einen Jahreswirtschaftsbericht über die von ihr verfolgte Wirtschafts- und Finanzpolitik und die erwartete gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland vorzulegen. Der Jahreswirtschaftsbericht enthält überdies eine Stellungnahme der Bundesregierung zum Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der sogenannten „Wirtschaftsweisen“. Der Bericht wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie erstellt und mit allen betroffenen Ministerien abgestimmt. Jahreswirtschaftsbericht Modelfoto: Sergej Nivens/Colourbox.de 6 AKTUELL dbb magazin | März 2022

Tarifverhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst gestartet Arbeitgebende müssen liefern Am 25. Februar 2022 haben die Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst begonnen. Kurz vor dem Start sah dbb Chef Ulrich Silberbach die kommunalen Arbeitgebenden unter Zugzwang. Die dbb Verhandlungskommission für den Sozial- und Erziehungsdienst um dbb Chef und Verhandlungsführer Ulrich Silberbach Der dbb gibt den Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst bei den Tarifverhandlungen eine Stimme. Auf der dbb Internetseite und den dbb SocialMedia-Kanälen kommen sie zudem in Bild und Ton selbst zu Wort. Alle Infos: www.dbb.de/sue Unsere Forderungen liegen seit Dezember auf dem Tisch. Außer ein paar Allgemeinplätzen wie ‚Es ist kein Geld da!‘ haben wir von den Arbeitgebenden aber noch keine Reaktionen darauf bekommen“, sagte der dbb Bundesvorsitzende am 25. Februar 2022 kurz vor dem offiziellen Beginn der Verhandlungen in Potsdam. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) müsse nun konkrete Antworten darauf liefern, wie sie die zwingend notwendige Aufwertung des Berufsfeldes angehen wolle. „Es reicht nicht, den Beschäftigten nur aufmunternd auf die Schulter zu klopfen. Sonst müssen wir damit rechnen, dass wir nicht nur Probleme bei der Gewinnung von Nachwuchs- und Fachkräften haben, sondern sich auch mehr und mehr Kolleginnen und Kollegen beruflich umorientieren oder langfristig ausfallen. Dauerhafte Überlastung macht krank, das sollte inzwischen wirklich auch in allen Chefetagen angekommen sein.“ Im Fokus der Verhandlung steht die finanzielle Aufwertung des Berufsfeldes. Auch um dem bereits jetzt eklatanten Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen und mehr Menschen für die Arbeit im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE) zu gewinnen. „Wollte man beispielsweise die wissenschaftlich empfohlenen Betreuungsschlüssel im Kitabereich bundesweit umsetzen, würden schon heute weit über 100000 Fachkräfte fehlen – von der schon chronisch unterbesetzten Sozialen Arbeit ganz zu schweigen“, mahnte der dbb Chef. „Ein weiteres wichtiges Thema ist etwa ‚Zeit‘, und das gleich unter mehreren Gesichtspunkten: So sollen beispielsweise Leitungsfunktionen nicht nur entsprechend bezahlt werden, sondern auch durch die verpflichtende Einführung von Stellvertretungspositionen entlastet werden – die dann natürlich ebenfalls entsprechend der Verantwortung entlohnt werden müssen. Aber auch ganz grundsätzlich soll die Arbeit ‚amMenschen‘ qualitativ besser werden, indemmehr Vorbereitungszeit für Inhalte und auch Organisatorisches eingeplant wird. Denn als Streetworker lässt sich der Papierkram eben schwerlich unterwegs nebenbei erledigen, um nur ein Beispiel zu nennen“, erklärte Silberbach. Nicht zuletzt werde es bei den Verhandlungen auch um das Thema „Qualifikation“ gehen. Hier fordert der dbb nicht weniger als einen Rechtsanspruch der Beschäftigten auf regelmäßige Fortbildungen, ganz im Sinne einer qualitativ hochwertigen frühkindlichen Bildung und Sozialen Arbeit. Fort- undWeiterbildungen sollten dann selbstverständlich auch bei der Bezahlung honoriert werden. ef © FriedhelmWindmüller SOZIALE ARBEIT 8 AKTUELL dbb magazin | März 2022

Sozial- und Erziehungsdienste Gesellschaftliche Nützlichkeit als neuer Maßstab Zwei Jahre dauert dieser Ausnahmezustand. Doch im Bewusstsein vieler Menschen hat die nervige Coronazeit auch Helden gezeugt. Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ganze Impfindustrien wie BioNTech. Auch die gehören dazu, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten. War es das? Lange nicht. Übersehene Retter arbeiten an der nächsten Ecke. Sie betreuen die Kinder. Sie betreuen die Kinder, während Eltern im Homeoffice ihre Arbeit tun können, und polstern beim Nachwuchs manche Nervenbelastung ab, die Pandemie und Lockdown mit sich gebracht haben. Dabei, zugegeben, waren Kitajobs nie besonders geachtet. Die Kids trösten, mit ihnen ein wenig durch den Sandkasten hoppeln, was mit Kuscheltieren machen, ihnen vorlesen und aufpassen, dass die Kleinen und Kleinsten nicht von der Rutsche kippen oder sich beim Basteln wehtun? Könnte auch der größere Bruder erledigen, so sitzt es in manchen Köpfen, in die sich die damals schon falschen Berufsvorstellungen der 1980erJahre festgefressen haben. Mit der Wirklichkeit, in der das Wort Kindertagesstätte besser durch Frühschule ersetzt werden sollte, hat das nichts zu tun und mit den pädagogischen Anforderungen schon gar nicht, die an die Viertelmillion Staatsbeschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten und die noch mehr bei freien und gemeinnützigen Anbietern gestellt werden. Dazu: Wer mit Erzieherinnen und Erziehern, Sozialarbeitern und Sozialpädagogen redet, erhält einen Eindruck von ihren, sagen wir, ungewöhnlichen Arbeitsbedingungen. Dass wir in Geschäften Masken tragen? Dass Reparaturkolonnen auf der Autobahn mit Lärmschutz arbeiten? Dass Büromöbel arbeitsmedizinischen Vorgaben entsprechen? Alles selbstverständlich. Dass aber Kitabelegschaften oft auf für ihre Knochen ruinösen Ministühlchen hocken, schon in Nicht-COVID-Zeiten einem gewaltigen Virengepuste der maskenlosen Kundschaft ausgesetzt waren und das bei anhaltendem Kinderlärm im Höchstdezibel-Format? Scheint irgendwie kein öffentliches Thema zu sein. In den letzten Jahrzehnten hat sich im gesamten Vorschulbereich Gewaltiges getan. Er wurde – das ist vor allem für den Westen Deutschlands bemerkenswert – als unverzichtbarer Bestandteil des öffentlichen Lebens akzeptiert. In der Folge haben sich die Ausgaben der Bundesländer für die Kinderbetreuung zwischen 2009 und 2019 fast verdoppelt. Und Eltern wurden in vielen Regionen von hohen Gebührenzahlungen ganz oder teilweise entlastet. Ein großer sozialpolitischer Effekt, der sich freilich hauptsächlich auf die Zahl der angebotenen Plätze auswirkt. Vielleicht bietet ausgerechnet Corona die nächste Chance. Die Werteskala der Berufe könnte verschoben werden. Der Maßstab: ihre Nützlichkeit für die Gesellschaft. Die anstehenden Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst müssen eine Kehrtwende ermöglichen, die sich für die Beschäftigten nicht auf mehr Euro und Cent beschränkt, sondern mehr Aus- und Fortbildung bedeutet, einen anderen Kitaalltag, bessere Personalstrukturen und Aufstiegschancen. Die Arbeitgeber ahnen selbst, was auf sie zurollt: 2030 werden im Bereich der frühkindlichen Bildung 280000 Nachwuchskräfte fehlen. Die angehende Erzieherin, die plötzlich feststellt, dass sie in der IT-Branche das Doppelte bei angenehmeren Arbeitsbedingungen verdienen könnte, die wird nicht kommen. Dietmar Seher ... Dietmar Seher ist freier Journalist. Er hat als Korrespondent in Bonn und Brüssel gearbeitet, war Politikchef der Sächsischen Zeitung und Mitglied der Chefredaktion der Westfälischen Rundschau. Der Autor ... Die anstehenden Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst müssen eine Kehrtwende ermöglichen, die sich für die Beschäftigten nicht auf mehr Euro und Cent beschränkt. © Mulyadi/Unsplash.com MEINUNG AKTUELL 9 dbb magazin | März 2022

Betriebsratswahlen 2022 An die Urnen, wählen, Einfluss nehmen, los! Die dbb Homepage bietet Informationen rund um die Arbeit des Betriebsrates und die Betriebsratswahl sowie zu wichtigen Neuerungen, zum Beispiel durch die Änderungen der Wahlordnung oder des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes. Außerdem stehen Muster zum Download und praktische Übersichten sowie einige relevante Urteile für die Vorbereitung und Durchführung der Betriebsratswahlen zur Verfügung. Weitere Informationen auf www.dbb.de Alle Mitglieder des Wahlvorstands müssen an der Stimmauszählung teilnehmen. Bekanntmachung der Wahlergebnisse: Ist die Wahl abgeschlossen, müssen die Wahlergebnisse für alle Beschäftigten einsehbar für einen zweiwöchigen Zeitraum aushängen. Wahlniederschrift: Nachdem die Wahl abgeschlossen ist und die Ergebnisse bekannt gemacht wurden, muss der Wahlvorstand eine Wahlniederschrift anfertigen, in der alle wichtigen Eckdaten festgehalten werden. Einladung: Der Wahlvorstand lädt zur konstituierenden Sitzung des neuen Betriebsrates ein. Sitzungen per Videokonferenz sind möglich Mit dem Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden unter anderem die Sonderregelungen für virtuelle Betriebsversammlungen und Gremiensitzungen als Telefon- und Videokonferenzen, die bereits Ende Juni 2021 ausgelaufen waren, wiedereingeführt. Betriebsversammlungen, Betriebsräteversammlungen und Jugend- und Auszubildendenversammlung können somit übergangsweise wieder digital abgehalten werden. Auch die Teilnahme an einer Einigungsstelle kann demnach wieder virtuell erfolgen. Die Regelung ist bis zum 19. März 2022 befristet und kann einmalig durch Beschluss des Deutschen Bundestags umweitere drei Monate verlängert werden. ■ Vom 1. März bis 31. Mai 2022 finden die regulären Betriebsratswahlen statt. Der Betriebsrat ist ein wichtiges demokratisches Gremium, das die Belange und Interessen der Mitarbeitenden im Betrieb vertritt. Wählen zu dürfen ist ein großes Privileg und sollte daher von jeder und jedemwahrgenommen werden. Was bei Vorbereitung und Durchführung der Wahl auf keinen Fall vergessen werden darf Wahlleiter bestimmen: Ist der Wahlvorstand vom Betriebsrat oder einem anderen Gremium (Konzernbetriebsrat, Gewerkschaft, Arbeitsgericht, Betriebsversammlung) bestellt worden, ist ein Wahlleiter zu bestimmen. Sitzung des Wahlvorstands: Es folgt eine Beschlussfassung unter anderem zu Tag, Uhrzeit, Ort der Wahl und Wahlhelfern. Wählerverzeichnis/Wählerliste erstellen: In der Wählerliste sind alle wahlberechtigten Mitarbeitenden des Unternehmens verzeichnet. Diese müssen nach Geschlecht getrennt und mit Name, Vorname und Geburtsdatum in der Liste vermerkt sein. Aushang des Wahlausschreibens mit Bekanntgabe der Wählerliste: Dies hat spätestens sechs Wochen vor demWahltag zu erfolgen. Stimmzettel erstellen: Alle Stimmzettel und Wahlumschläge müssen identisch aussehen (Papier, Schrift). Unterlagen für die Briefwahl sind vorzubereiten und zu versenden. Einrichtung des Wahllokals: Arbeitgebende müssen sicherstellen, dass ein entsprechender Raum amWahltag ungestört genutzt werden kann. Es müssen immer zwei Mitglieder des Wahlvorstands während der Wahl imWahllokal anwesend sein. Die Wahlkabine muss so aufgebaut sein, dass die Stimmabgabe unbeobachtet stattfinden kann, damit das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt. Wahlurne: Die Wahlurne muss so ausgestattet sein, dass es nicht möglich ist, Stimmzettel daraus zu entnehmen, ohne die Wahlurne zu öffnen. Muss die Wahl unterbrochen werden, so ist die Wahlurne zu versiegeln. Stimmauszählung: Die Stimmauszählung sollte in einem Raum erfolgen, der öffentlich für alle Mitarbeitenden zugänglich ist. Wer wählt, nimmt Einfluss auf die Arbeitsbedingungen im Betrieb. Arbeitnehmende, die auf ihr Wahlrecht verzichten, vergeben wichtige Einflussmöglichkeiten. © Foto-Ruhrgebiet/Fotolia/dbb MITBESTIMMUNG 10 AKTUELL dbb magazin | März 2022

Equal Care Day Einzelmaßnahmen nicht länger schönreden Familiäre Sorgearbeit wird noch immer vorwiegend von Frauen übernommen. Um die einseitige Zusatzbelastung aufzulösen, bedarf es einer Zeitpolitik, die Arbeit und Familie zusammendenkt. Die Coronapandemie hat gezeigt, wie stark der Druck der familiären Sorgearbeit auf den Müttern lastet. Vor allem Frauen, die zwischen Homeoffice, Haushalt und Coronaquarantäne pendeln, machen die organisatorischen Tätigkeiten rund um die eigentliche Care-Arbeit – die sogenannte Mental Load – zunehmend zu schaffen“, warnte die Vorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung, Milanie Kreutz, anlässlich des Equal Care Day am 1. März 2022. Kreutz appelliert an die Politik, das Thema der ungleich verteilten familiären Sorgearbeit vorrangig in den Blick zu nehmen. Mit klassischen familienpolitischen Maßnahmen wie der Weiterentwicklung des Elterngeldes oder die geplante Einführung einer gesetzlichen Freistellung für Väter nach der Geburt eines Kindes analog zumMutterschutz sei es längst nicht getan, kritisierte Kreutz. „Es reicht nicht aus, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf je nach parteipolitischem Gusto mit populären Einzelmaßnahmen schönzufärben. Auch das Steuerrecht und arbeitszeitpolitische Vorgaben müssen kritisch hinterfragt werden: Alle Regelungen, die auf das Konto des männlichen Alleinernährers einzahlen, gehören ausnahmslos auf den Prüfstand“, bekräftigte die Chefin der dbb Frauen. ■ Jetzt mitmachen beim Online-Quiz! Mit einem Online-Quiz wollen die dbb Frauen das Thema „Mental Load“ stärker in den gesellschaftspolitischen Fokus rücken und auf die damit verbundene Schieflage bei der Verteilung familiärer Sorgelasten aufmerksammachen. Hier geht’s zumMental-Load-Test der dbb Frauen: www.dbb-frauen/mentalloadquiz Das Online-Quiz ist eine Kooperation mit dem australischen Mental Load Project, das von Dr. Robyn Miller ins Leben gerufen wurde: https://mentalloadproject.com/. Wie groß ist Ihr Mental Load? Modelfoto: Konstantin Yuganov/Colourbox.de FAMILIENPOLITIK

Digitalreport 2022 In der Digitalisierungswüste Die Erwartungen an die Koalition aus SPD, Grünen und FDP sind hoch. 82 Prozent der Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik erwarten, dass die neue Regierung die Digi- talisierung in Zukunft stärker in den Mittelpunkt stellt. Dies wäre auch dringend nötig: 94 Prozent der Bevölkerung sehen Deutschland bei der Digitalisierung weiter im Rückstand. Das ist das Ergebnis des Digitalreports 2022 des European Center for Digital Competitiveness der ESCP Business School Berlin und des Instituts für Demoskopie Allensbach. Der Digitalreport basiert auf einer aktuellen repräsentativen Bevölkerungsumfrage so- wie auf Ergebnissen einer Umfrage von rund 500 Topführungskräften aus Wirtschaft und Politik. Die aktuelle Lage Deutschlands im Bereich digitaler Zukunftstechnologien ist demnach weiterhin prekär. 94 Prozent der Führungsspitzen aus Wirtschaft und Politik sehen Deutschland bei der Digitalisierung unverändert im Rückstand. Besonders im staatlichen Bereich wird die Digitalisierung unverändert kritisch bewertet. Lediglich zwei Prozent der Führungsspitzen halten Ämter, Behörden und den öffentlichen Dienst für gut aufgestellt. Am ehesten wird der Wirtschaft der digitale Wandel zugetraut. Noch vor einem Jahr hielten lediglich 35 Prozent der Spitzenkräfte aus Wirtschaft und Politik die Wirtschaft im Bereich Digitalisierung für gut aufgestellt, aktuell sind es 44 Prozent. „Der Regierungswechsel befeuert Hoffnungen, dass die Digitalisierung künftig entschiedener vorangetrieben wird als in den letzten Jahren“, sagt Professor Dr. Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach. Die Spitzenkräfte aus Wirtschaft und Politik seien hier in bemerkenswertem Umfang optimistisch: 82 Prozent sind davon überzeugt, dass das Thema in Zukunft entschiedener vorangetrieben wird. In der Bevölkerung haben jedoch bisher lediglich 37 Prozent Zutrauen, dass die neue Regierung Digitalisierung in Zukunft entschiedener vorantreiben wird, während sich 32 Prozent skeptisch äußern. Als Motor eines politisch initiierten Digitalisierungsschubs sehen die Bürgerinnen und Bürger vor allem die FDP. 29 Prozent haben den Eindruck, dass sich vor allem die FDP dafür einsetzt, dass die Digitalisierung in Deutschland vorangetrieben wird. Mit großem Abstand folgen die SPD (neun Prozent) und die Unionsparteien (sieben Prozent). Von den Grünen erwarten auf diesem Gebiet ebenfalls nur sieben Prozent wirksame Impulse. Verwaltung und Bildung mit Nachholbedarf Die politische Agenda der Bevölkerung verändert sich zurzeit dynamisch. Besonders auffallend ist die veränderte Bewertung der Ziele, die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung zu stärken und guten Schulen und Hochschulen große Bedeutung beizumessen: Vor einem Jahr hielten es 34 Prozent für wichtig, dass die öffentliche Verwaltung leistungsfähiger wird, aktuell sind es 47 Prozent. Gute Schulen und Hochschulen zählten Ende 2020 52 Prozent der Bevölkerung zu den wichtigsten politischen Anliegen, aktuell 64 Prozent. Für beide Anliegen spielt die Entwicklung der Digitalisierung und der Digitalisierungskompetenz eine erhebliche Rolle. © Louis Maniquet/Unsplash.com (2) UMFRAGE 12 AKTUELL dbb magazin | März 2022

Die Chancen digitaler Zukunftstechnologien werden von der Bevölkerung sehr deutlich wahrgenommen. Aus Sicht der großen Mehrheit werden vor allem Drohnen (59 Prozent), 3D-Drucker (58 Prozent) und KI (56 Prozent) in Zukunft eine große Bedeutung haben, gefolgt von Technologien, die autonomes Fahren (47 Prozent), besseren Umweltschutz (44 Prozent) und eine bessere Unterstützung bei der Pflege (37 Prozent) ermöglichen. Die junge Generation ist generell bei allen Technologien überdurchschnittlich überzeugt, dass sie in Zukunft große Bedeutung haben werden. Das gilt insbesondere für KI und 3D-Drucker, aber auch für Drohnen, Greentech und Virtual-Reality-Brillen. Allerdings schätzt die Bevölkerung ihr Wissen über neue Technologien selbstkritisch als gering ein. 80 Prozent bewerten ihr Wis- sen als (sehr) gering. Koalition unter Zugzwang „Die Ampel muss jetzt den versprochenen Fortschritt auch liefern“, fordert Professor Dr. Philip Meissner vom European Center for Digital Competitiveness der ESCP Business School Berlin. Hierfür müsse die Regierung Zukunftstechnologien stärker in den Fokus der Digitalpolitik stellen, so Meissner: „Die großen Chancen neuer Technologien wie 3D-Druck für das alltägliche Leben jedes Einzelnen, aber auch für den Wohlstand des Landes als Ganzes müssten in Zukunft stärker kommuniziert werden.“ Außerdemmüsse die Förderung von Start-ups und Zukunftstechnologien zur Chefsache werden und direkt von den Spitzen der Regierungsparteien verantwortet werden. Vor allem brauche es deutlich mehr Wachstumskapital und den Abbau von Regulierung. „Wenn Deutschland seinen Wohlstand in den nächsten Jahren erhalten und ausbauen möchte, müssen wir jetzt entschieden handeln und das Land zu einem Standort für digitale Zukunftstechnologien machen“, fasst Meissner zusammen. Trotz der Hoffnung in die neue Bundesregierung hat sich an den grundsätzlichen Zweifeln der großen Mehrheit der Bevölkerung, ob die Politik über ausreichend Kompetenz im Bereich Digitalisierung verfügt, nur wenig geändert. Der Anteil der Bevölkerung, der der Politik große Kompetenz beim Thema Digitalisierung zuschreibt, hat sich sogar weiter vermindert. Vor einem Jahr bewerteten noch 24 Prozent die Kompetenz der Politik auf diesem Gebiet positiv, aktuell nur noch 17 Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung hält die Politik für eingeschränkt kompetent, 14 Prozent für überhaupt nicht kompetent. „Die Politik wird hier nur an Vertrauen gewinnen, wenn die Bürgerinnen und Bürger zunehmend die Erfahrung machen, dass sich der staatlich verantwortete Bereich merklich bewegt“, sagt Professor Dr. Renate Köcher. Dies umfasse die Digitalisierung an Schulen, der Ämter und Behörden sowie des gesamten öffentlichen Dienstes. Der FDP wird nicht nur das größte Engagement auf dem Feld zugeschrieben, sondern auch am ehesten ein überzeugendes Konzept. Größter Verlierer bei der Digitalkompetenz ist die CDU/CSU. Im vergangenen Jahr noch die Partei mit der größten Digitalkompetenz, fällt die Union aus Sicht der Deutschen 2021 deutlich zurück und kommt nur noch auf sieben Prozent. Allerdings trauen 25 Prozent der Bevölkerung weiterhin keiner Partei ein überzeugendes Konzept im Bereich Digitalisierung zu, 33 Prozent sind unentschieden. Was die Rolle von Verwaltung und öffentlichem Dienst bei der Digitalisierung betrifft, kommt auch eine aktuelle Erhebung des Digitalverbandes Bitkom vom Januar 2022 zu einem ähnlichen Ergebnis: Die Menschen in Deutschland sehen in der Digitalisierung insgesamt großes Potenzial, um die Coronapandemie gesamtgesellschaftlich zu bewältigen: So stimmen zwei Drittel (65 Prozent) der Aussage zu, dass digitale Technologien grundsätzlich dabei helfen können, die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen zu meistern. Allerdings stellen sie vielen Bereichen ein eher schlechtes Zeugnis für die digitale Pandemiebewältigung aus. Noch am besten kommt die Wirtschaft weg, mit einer durchschnittlichen Schulnote von 3,1 für ihr digitales Pandemiemanagement. Das Gesundheitswesen erhält eine 3,3. Die Schulen sowie Verwaltung und Behörden bekommen mit einer 4,0 jeweils die schlechteste Bewertung für ihr digitales Pandemiemanagement. Auch Bitkom sieht Verwaltung imHintertreffen Bitkom-Präsident Achim Berg konstatiert: „Auch wenn sich die Schulnote 4 mit ‚ausreichend‘ übersetzt: Ausreichend war das nicht, was viele der Behörden und Bildungseinrichtungen geboten haben. Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie darf man erwarten, dass wirklich jede Verwaltung auf Homeoffice umschalten kann und in der Lage ist, ihre Dienstleistungen digital anzubieten.“ Immerhin jede und jeder Vierte (26 Prozent) ist der Meinung, dass Deutschland gestärkt aus der Pandemie hervorgehen wird. 22 Prozent gehen davon aus, dass sich nichts verändern wird, aber rund die Hälfte (49 Prozent) meint, dass Deutschland durch Corona geschwächt wird. „Deutschland ist dem Ruf einer Hightech-Nation bei der Bewältigung der Pandemie nicht gerecht geworden“, kommentiert Berg. „Ob Gesundheitswesen, Bildung oder Verwaltung: Die Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden müssen das Tempo bei der Digitalisierung im dritten Jahr der Pandemie massiv erhöhen. Niemand weiß, was nach Omikron kommt. Aber alle wissen, dass etwas kommt. Wir müssen einen digitalen Damm bauen gegen eine sechste Welle und Deutschland krisenresilient machen.“ ■ Der Digitalreport erscheint jährlich und wird 2022 zum dritten Mal veröffentlicht. Er wurde vom European Center for Digital Competitiveness an der ESCP Business School Berlin entwickelt. In dessen Auftrag führt das Institut für Demoskopie (IfD) Allensbach eine repräsentative Befragung der Bevölkerung zu dem Stand der Digitalisierung in Deutschland und dem digitalen Kompetenzprofil der Politik durch. Darüber hinaus stützt sich der Report auf Ergebnisse einer Umfrage von rund 500 Spitzen aus Politik und Wirtschaft, darunter Geschäftsführer und Vorstände aus der Wirtschaft sowie führende Politiker wie Minister, Staatssekretäre und Fraktionsspitzen. Die Bevölkerungsumfrage basiert auf insgesamt 1 069 mündlichen persönlichen Interviews mit einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ab 16 Jahre. Die Interviews wurden zwischen dem 1. Dezember 2021 und dem 4. Januar 2022 durchgeführt. Die Leitung der Studie liegt bei Professor Dr. Renate Köcher vom IfD Allensbach sowie Professor Dr. Philip Meissner, Professor Dr. Klaus Schweinsberg und Klára Moozová vom European Center for Digital Competitiveness der ESCP Business School Berlin. Weitere Ergebnisse unter: www.digital-competitiveness.eu/digitalreport. Über den Digitalreport AKTUELL 13 dbb magazin | März 2022

Reem Alabali-Radovan, Staatsministerin beim Bundeskanzler und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Wir müssen mehr tun, und der Staat muss hier zum Vorbild werden Frau Staatsministerin, Sie haben gefordert, dass mehr Menschen mit Einwanderungsgeschichte für den Staat arbeiten sollen. Wie kann das gelingen? Welche Erwartungen verknüpfen Sie mit mehr Vielfalt im öffentlichen Dienst konkret – sowohl gesellschaftlich als auch für die Leistungsfähigkeit der Verwaltung? Jede und jeder Vierte in unserem Land – 27 Prozent – haben heute eine familiäre Einwanderungsgeschichte. Im öffentlichen Dienst, dem größten Arbeitgeber des Landes, sind es jedoch nur zwölf Prozent. Da müssen wir besser werden. Dafür braucht es einen Kulturwandel, bei dem wir die Organisationen unterstützen wollen. Ich will, dass sich die Vielfalt der Bevölkerung auch in der öffentlichen Verwaltung widerspiegelt. Und zwar auf allen Ebenen, von der Kommune bis zur Bundesverwaltung. Davon haben alle etwas, denn Vielfaltskompetenzen und Wissen darüber erleichtern den Alltag und verbessern nachweislich die Ergebnisse der gesamten Organisation. Einige Behörden sind schon wichtige Schritte gegangen, ummehr Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte für sich zu gewinnen. Sie haben die Chancen erkannt. Aber wir müssen mehr tun, und der Staat muss hier zum Vorbild werden. Deshalb werden wir in der Bundesverwaltung eine ganzheitliche Diversity-Strategie einführen, die Behörden als Ganzes in den Blick nimmt. Dazu gehört der Ausbau von Fördermaßnahmen genauso wie eine an Vielfalt orientierte Organisationsentwicklung, die bereits beim Recruiting beginnt. Hinsichtlich einer Quote für Migrantinnen und Migranten im öffentlichen Dienst äußerten Sie sich im „Tagesspiegel“ skeptisch, weil noch nicht alle anderen Mittel ausgeschöpft seien. Sehen Sie hier grundsätzliche Konflikte mit dem Prinzip der Bestenauslese oder bleibt eine Quote für die Zukunft eine Option für Sie? Wir haben unsere Potenziale zur Steuerung bei Weitem nicht ausgeschöpft. Bevor wir darüber nachdenken, eine Quote einzuführen, sollten wir andere Möglichkeiten nutzen. © Fionn Grosse (2) INTERVIEW 14 FOKUS dbb magazin | März 2022

Ganze Verbindlichkeit und klare Zielvorgaben. Mir ist dabei besonders wichtig, dass wir die Betroffenen eng einbeziehen. Wir brauchen die Expertise von Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte, von Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind. Dazu kann ein Partizipationsrat beitragen. Als ab 2015 die Zahl der Menschen auf der Flucht, die in Deutschland nach Schutz suchten, stark anstieg, kamen die zuständigen Behörden mit den vorhandenen personellen Kapazitäten schnell an ihre Grenzen – und mussten teilweise weit darüber hinausgehen. Wie sehen Sie den öffentlichen Dienst heute in Ihren Themenfeldern „Migration, Flüchtlinge und Integration“ aufgestellt und wo gibt es Verbesserungspotenzial? Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Ausländerbehörden oder Standesämter unterbesetzt sind, können sie ihren vielfältigen Aufgaben nicht gerecht werden – geschweige denn beratend zur Seite stehen. Die aktuelle Pandemie erschwert die Lage zusätzlich. Mir ist wichtig, dass wir die Behörden weiter zu Dienstleistern entwickeln, die unserer vielfältigen Bevölkerung gerecht werden können. Dafür müssen wir sie unterstützen und personell besser aufstellen. Den Beschäftigten müssen wir Fortbildungsprogramme anbieten, die sie auf die neue Situation vorbereiten. Und wir müssen für ein Arbeitsklima sorgen, in demman sich trotz hoher Belastung wohlfühlt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sind so engagiert und motiviert – das müssen wir wertschätzen. Dazu gehört mehr Personal genauso wie gute Arbeitsbedingungen. ■ Ich setze mich für gezielte Maßnahmen ein, damit Menschen mit Einwanderungsgeschichte nicht länger benachteiligt werden. Dazu gehören eine breite Kampagne und Coachingprogramme. Aber auch, dass Sprachkenntnisse und interkulturelle Kompetenzen bei der Eignungsbewertung berücksichtigt werden. Das steht der Bestenauslese nicht imWege, im Gegenteil: Der öffentliche Dienst einer modernen Einwanderungsgesellschaft profitiert davon. Die letzte große Erhebung „Kulturelle Diversität und Chancengleichheit in der Bundesverwaltung“ stammt von 2020. Haben Sie Pläne, die Datenbasis zum Thema zu verstetigen und zu verbessern? Auch mit Blick auf Länder und Kommunen? Durch die Erhebung haben wir erstmals repräsentative Daten zur kulturellen Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung. Um eine Entwicklung zu erkennen, ist es wichtig, die Befragung regelmäßig durchzuführen. Nur dann können wir auch sehen, was sich über die Zeit verändert. Geplant ist es, die Studie alle vier Jahre zu wiederholen. Und natürlich wollen wir sie auch weiterentwickeln. Wir wollen untersuchen, wie sich bestimmte Maßnahmen auswirken oder auch wie kulturelle Vielfalt überhaupt noch statistisch erfasst werden kann. Besonders wichtig ist mir außerdem, mehr darüber zu erfahren, welche persönlichen Diskriminierungserfahrungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erlebt haben. Selbstverständlich tauschen wir uns in diesem Prozess auch mit den Ländern und Kommunen aus und teilen unsere Erfahrungen. Der Ampelkoalitionsvertrag sieht eine Diversity-Strategie für die Bundesverwaltung und Unternehmen mit Bundesbeteiligung vor. Haben Sie dafür schon einen Zeitplan? Und welche Rolle sollten Gewerkschaften sowie Personal- und Betriebsräte Ihrer Meinung nach in dem Prozess spielen? Aktuell befinden wir uns noch in der Vorplanung. Aber mir ist es sehr wichtig, unsere Partnerinnen und Partner aus der Zivilgesellschaft, von Migrantenorganisationen, NGOs, Gewerkschaften und sozialen Organisationen eng in den Prozess einzubinden. Darüber hinaus tausche ich mich natürlich auch grundsätzlich mit den Gewerkschaften dazu aus, wie wir Diversity weiter voranbringen können. Ich schätze ihre Expertise sehr. Für mehr Repräsentanz und Teilhabe der Einwanderungsgesellschaft will die Ampel ein Partizipationsgesetz mit dem Leitbild „Einheit in Vielfalt“ vorlegen. Die Einführung eines „Partizipationsrates“ wird als Option genannt. Was ist damit konkret gemeint? Wird das auch den öffentlichen Dienst betreffen? Mit dem Partizipationsgesetz wollen wir endlich gesetzlich verankern, dass der Bund Vielfalt fördert. Dadurch bekommt das Ich setze mich für gezielte Maßnahmen ein, damit Menschen mit Einwanderungsgeschichte nicht länger benachteiligt werden. Dazu gehören eine breite Kampagne und Coachingprogramme. ... ist seit Dezember 2021 Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Am 23. Februar 2022 wurde die in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsene Tochter aus dem Irak stammender Einwanderer zudem zur Antirassismusbeauftragten berufen. Dieses Amt wurde erstmals auf Bundesebene vergeben. Reem Alabali-Radovan ... FOKUS 15 dbb magazin | März 2022

Migration und Integration im öffentlichen Dienst Für mehr Vielfalt muss härter gekämpft werden Rund 26,7 Prozent der Menschen in Deutschland haben aktuell eine Einwanderungsgeschichte. In der Bundesverwaltung stellen Menschen mit Migrationshintergrund aber nur einen Anteil von zwölf Prozent. Im öffentlichen Dienst der Länder sind es etwa 12,5 Prozent. Um diese Unterrepräsentanz nachhaltig auszugleichen, bedarf es größerer Anstrengungen. © Laura James/Pexels.com © Pavel Danilyuk/Pexels.com DOSSIER 16 FOKUS dbb magazin | März 2022

Im Dezember 2020 haben die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung und das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung ihre erste repräsentative Beschäftigtenbefragung vorgelegt, den Diversität und Chancengleichheit Survey. Angesichts der geringen Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesverwaltung hatte die damalige Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung fur Migration, Fluchtlinge und Integration, Annette Widmann-Mauz, dazu aufgerufen, interkulturelle Perspektiven stärker in das gesamte Verwaltungshandeln einzubinden. „Zwar wird das Diversitätsklima von den rund 230 000 Beschäftigten des Bundes als gut eingeschätzt, aber nur jede und jeder achte Beschäftigte in den Bundesministerien und Bundesbehörden hat eine Einwanderungsgeschichte“, fasste Widmann-Mauz die Ergebnisse zusammen und leitete daraus die Forderung nach einem strategischen Ansatz zur Diversitätsförderung ab, der sich im Nationalen Aktionsplan Integration der Bundesregierung wiederfinden soll. Letztlich arbeiteten gemischte Teams mit interkulturellen Perspektiven innovativer, erzielten bessere Ergebnisse und leisteten einen Beitrag für ein gutes Miteinander und Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft. „Gelebte Vielfalt ist ein Erfolgsfaktor, auch für den öffentlichen Dienst“, so Widmann-Mauz. Das sieht auch Prof. Dr. Norbert F. Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), so: „In der Bevölkerung in Deutschland haben rund 26 Prozent einen Migrationshintergrund. Das heißt, sie selbst oder mindestens einer ihrer beiden Elternteile sind zugewandert. Kulturelle Vielfalt prägt damit mehr denn je die deutsche Gesellschaft“, erläuterte er die Ergebnisse des Surveys. Der öffentliche Dienst spiegele diese gestiegene kulturelle Vielfalt in seinen Beschäftigtenstrukturen bisher jedoch nur bedingt wider. „Zwölf Prozent der Beschäftigten in der Bundesverwaltung haben einen Migrationshintergrund. Insbesondere die Zugewanderten in der ersten Generation sind selten in der öffentlichen Verwaltung beschäftigt. Mit dem ‚Diversität und Chancengleichheit Survey‘ liegen jetzt erstmals umfassende Daten zur kulturellen Vielfalt, zu Karrierechancen und zu den Auswirkungen von Diversität in der Bundesverwaltung vor.“ Ein zentrales Ergebnis: Beschäftigte mit Migrationshintergrund zeichnen sich im Vergleich zu den Beschäftigten ohne Migrationshintergrund durch eine höhere Arbeitszufriedenheit, ein höheres Engagement und eine höhere Verbundenheit mit dem Arbeitgeber Bund aus. Ein Anteil von zwölf Prozent in der Bundesverwaltung ist aber zu gering. Daher enthält die Studie konkrete Empfehlungen in sechs Handlungsfeldern, um Chancengleichheit und Repräsentanz zu stärken. Dazu gehören Maßnahmen zur Personalgewinnung wie die gezielte Ansprache von jungen Menschen, auch mit Migrationshintergrund, in Schule, Ausbildung oder Studium oder die Sensibilisierung für Barrieren im Auswahlprozess von neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Weitere Empfehlungen sind eine gezielte Personalentwicklung, -förderung und -weiterbildung sowie ein maßgeschneidertes Diversitätsmanagement für jede Behörde. Gleichzeitig muss die interkulturelle Kompetenz stärker gefördert werden, um Konflikten, aber auch Diskriminierung vorzubauen. Die Wirkungen und Erfolge des Diversitätsmanagements sollten durch ein Berichtswesen und Monitoring zur kulturellen Vielfalt in der Bundesverwaltung auch zukünftig regelmäßig überprüft werden. Gestartet war die Befragung imMai 2019 als Teil des übergreifenden Forschungsprojekts „Kulturelle Diversität und Chancengleichheit in der Bundesverwaltung“ in 60 Bundesbehörden. Sie sollte unter anderem Erkenntnisse darüber liefern, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die interkulturelle Öffnung wahrnehmen, welche Erfahrungen sie selbst gemacht haben und wie sie die Organisationskultur erleben. Das Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse mittlerweile in einer Broschüre veröffentlicht worden sind, trägt den ständigen Veränderungsprozessen Rechnung, denen die Verwaltung unterliegt. Neben der Einführung neuer Steuerungsmodelle, der Privatisierung öffentlicher Aufgaben sowie der zunehmenden Europäisierung des Verwaltungshandelns verlangen demnach auch der demografische und soziale Wandel mittlerweile weitreichende Anpassungsprozesse der öffentlichen Arbeitgeber. Neben solch funktionalen Begründungen für eine veränderte öffentliche Personalpolitik mit dem Ziel, neue Potenziale zur Fachkräftegewinnung zu erschließen, hat die interkulturelle Öffnung der Verwaltung auch das Potenzial, die Legitimation des Handelns öffentlicher Verwaltungen durch die Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen zu erhöhen. Im Vergleich zu einer ähnlichen, ersten Erhebung im Jahr 2016 ist der Anteil von Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der Bundesverwaltung bis heute sogar gesunken: ImMai 2016 hatten die damalige Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Aydan Özoğuz, und der Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Hans-Georg Engelke, ihre Studie zum Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der Bundesverwaltung vorgestellt, an der 14 Bundesministerien, die Bundeswehr und acht Bundesoberbehörden teilgenommen hatten. Der damals ermittelte Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der Bundesverwaltung lag auf Grundlage einer freiwilligen Teilnahme bei durchschnittlich 14,8 Prozent und damit deutlich über den Werten des Mikrozensus des Jahres 2013 für die allgemeine öffentliche Verwaltung von 6,7 Prozent. Im Vergleich zum Anteil der abhängig Beschäftigten in der Privatwirtschaft von 20,1 Prozent waren Personen mit Migrationshintergrund in der Bundesverwaltung jedoch ebenfalls unterrepräsentiert. Darüber hinaus handelte es sich bei den Beschäftigten mit Migrationshintergrund überwiegend „Nur jede und jeder achte Beschäftigte in den Bundesministerien und Bundesbehörden hat eine Einwanderungsgeschichte.“ Annette Widmann-Mauz Interkulturelle Kompetenz muss stärker gefördert werden, um Konflikten und Diskriminierung vorzubeugen. FOKUS 17 dbb magazin | März 2022

um junge Frauen, die in eher niedrigeren Laufbahngruppen beschäftigt waren, seltener in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis standen und seltener verbeamtet wurden. Ein Befund, der sich auch bis zur aktuellen Studie nicht wesentlich verändert hat. Dazu erklärte Aydan Özoğuz: „Die Studie liefert erstmals einen empirischen Beleg dafür, dass Beschäftigte mit Einwanderungsgeschichten in der Bundesverwaltung noch immer deutlich unterrepräsentiert sind. Es muss uns wachrütteln, dass sie nicht nur schwerer den Weg in die Verwaltung finden, sondern auch überproportional im einfachen und mittleren Dienst vertreten sind und offenbar nicht weiterkommen. Das erinnert uns an die Diskussion mit weiblichen Führungskräften.“ Wirkliche Teilhabe bedeute gleiche Chancenverteilung. Wenn die Politik in der Wirtschaft und in anderen gesellschaftlichen Bereichen eine gleichberechtigte Partizipation von Menschen mit Einwanderungsgeschichten einfordere, müsse das erst recht für die Bundesverwaltung gelten. Im öffentlichen Dienst der Länder sieht die Integrationsbilanz sogar noch schlechter aus. Die Integrationsministerkonferenz (IntMK) hat angesichts der Pandemie im April 2021 von Bund und Ländern gezielte Programme zur Arbeitsmarktförderung benachteiligter Bevölkerungsgruppen sowie spezielle Angebote zur Bildungsförderung von Kindern und Jugendlichen, in deren Familien kein Deutsch gesprochen wird, gefordert. Den entsprechenden Leitantrag hat die turnusgemäß amtierende IntMK-Vorsitzende, Bremens Sozialsenatorin Anja Stahmann, am 30. April 2021 vorgestellt. Anlass für die Forderung war die deutlich erschwerte Lebenssituation vieler Menschen mit Migrationshintergrund: „Ein überproportional hoher Anteil an Menschen mit Zuwanderungsgeschichte arbeitet in den Krisenbranchen der Pandemie“, sagte Stahmann, „und die Kontaktbeschränkungen im Alltag sowie in Kita und Schule erschweren die sprachliche Integration erheblich.“ Anteil von Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der Bundesverwaltung nach Laufbahngruppe Beschäftigungssituation des Personals mit Migrationshintergrund in der Bundesverwaltung Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der Bundesverwaltung insgesamt 20 16 12 8 4 0 Einfacher Dienst Mittlerer Dienst Gehobener Dienst Höherer Dienst 17,6 12,7 10,5 13,3 überqualifiziert beschäftigt befristet beschäftigt verbeamtet wurde befördert in Führungsposition beschäftigt 0 4 8 12 16 20 Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der Bundesverwaltung insgesamt 18,2 19,6 10,1 9,6 10,0 Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind überwiegend junge Frauen in eher niedrigeren Laufbahngruppen. © Pavel Danilyuk/Pexels.com 18 FOKUS dbb magazin | März 2022

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