dbb magazin 1-2/2022

dbb magazin Öffentlicher Dienst | nachhaltig und digital Interview | Nancy Faeser, Bundesministerin des Innern und für Heimat Sozial- und Erziehungsdienst | Zwischensprint für bessere Arbeitsbedingungen 1-2 | 2022 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

Zukunft ist mehr als nur ein Jahr Die 63. Jahrestagung des dbb, coronabedingt im digitalen Format, war auch eine Art Schaulaufen der neuen Bundesregierung. Kernaussage der hochkarätigen Zusammenkunft: Nur mit einer zuverlässigen und modernen Verwaltung können die großen Herausforderungen der Zukunft bewältigt werden. Dies bekräftigte auch die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die kaum im Amt, nicht nur zur Livediskussion mit dem dbb Bundesvorsitzenden ins Jahrestagungsstudio gekommen war, sondern auch für ein Interview im dbb magazin gewonnen werden konnte. Bundesfinanzminister Christian Lindner würdigte – zum Tagungsauftakt ebenfalls im Studio präsent – in seiner frei gehaltenen Rede die „stabilisierende Wirkung“ des öffentlichen Dienstes. Für die neuen Länderchefs Franziska Giffey (Berlin) und Hendrik Wüst (NRW) standen in ihren Grußworten die Verwaltungsmodernisierung und attraktivere Arbeitsplätze im Vordergrund. In Diskussionsrunden ging es danach unter anderem um die europäische Migrationspolitik und die sattsam bekannten Probleme der Verwaltungsdigitalisierung. Letzterem widmete auch Christine Dankbar, Politikchefin der „Berliner Zeitung“, ihren wie immer sehr lesenswerten Kommentar. Fazit der Jahrestagung: Zukunft ist nicht einjährig. Im öffentlichen Dienst schon gar nicht. Das muss die neue Bundesregierung nicht nur zur Kenntnis nehmen und verbal wertschätzen, sondern vor allem auch fördern, unterstützen und stärken. Das ist sie dem Gemeinwohl schuldig. red 22 10 25 TOPTHEMA dbb Jahrestagung 2022 – Investition und Innovation für unser Land 34 AKTUELL NACHRICHTEN 4 DBB BROSCHÜRE Monitor öffentlicher Dienst 2022 5 SOZIALE ARBEIT Tarifverhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst: Zwischensprint für bessere Arbeitsbedingungen 6 FOKUS DBB JAHRESTAGUNG 2022 Politischer Auftakt: Einfach machen – Investition und Innovation für unser Land 10 Reguläre und irreguläre Migration: Wie gut sind Deutschland und Europa vorbereitet? 14 Deutschland nach der Wahl: Kommt jetzt die Verwaltungsdigitalisierung? 17 Politik und moderner Staat: Bürgernah, leistungsstark, klimaneutral? 19 INTERVIEW Nancy Faeser, Bundesministerin des Innern und für Heimat 22 MEINUNG Verwaltungsdigitalisierung: Rettende Inseln gesucht 24 DBB DIALOG Studie „Verwaltung in Krisenzeiten #2“ 25 BESCHÄFTIGTEN-BEFRAGUNG Bleibebarometer öffentlicher Dienst 28 INTERN EUROPA Gespräch mit Sabine Thillaye, Vorsitzende des Ausschusses der französischen Nationalversammlung für EU-Angelegenheiten 30 Nachgefragt bei den europapolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen 32 FRAUEN Politikwissenschaftlerin Emilia Roig über intersektionale Gerechtigkeit: Keine Gesellschaft ohne Ungleichheiten 34 SERVICE dbb akademie 38 dbb vorsorgewerk 40 Fall des Monats 41 Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 © Marco Urban AKTUELL 3 dbb magazin | Januar/Februar 2022 STARTER

Digitalisierung der Verwaltung Zu viel „Kleinklein“ Coronapandemie Impfpflicht ohne Kontrolle wird zum Papiertiger Eine Impfpflicht könne nur mit ausreichend Personal und entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten umgesetzt werden, mahnt dbb Chef Ulrich Silberbach in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (online am 16. Januar 2022). Wenn die Politik eine Impfpflicht beschließt, muss sie dafür sorgen, dass es ausreichend Personal für Kontrollen und Sanktionen gibt. Andernfalls wird der Riss in unserer Gesellschaft noch tiefer“, schreibt Silberbach. „Aus Sicht der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, mindestens von Polizei, Justiz, Ordnungsämtern und allgemeiner Verwaltung, stellt sich die Frage, wie eine allgemeine Impfpflicht denn überhaupt umgesetzt werden soll. Deutschland ist weder personell noch bezüglich seines Digitalisierungsstandes auf eine solche Aufgabe vorbereitet“, warnt der dbb Chef. „Eine Pflicht ohne Kontrollen und Sanktionen wird ein Papiertiger bleiben.“ Seit Jahren seien eine immer stärkere Verrohung der Gesellschaft sowie zunehmende verbale und physische Übergriffe gegen die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zu beobachten. „Wer schützt die Kolleginnen und Kollegen des öffentlichen Dienstes, wenn sie Mitmenschen gegenübertreten, die den Staat für eine dunkle Macht halten, gegen die es sich in ihrem völlig verzerrten Weltbild mit allen Mitteln zu verteidigen gilt? Auf diese Fragen muss die Bundesregierung, müssen alle Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht klare und verbindliche Antworten liefern“, forderte Silberbach. ImMärz soll der Deutsche Bundestag über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht entscheiden. Bundeskanzler Olaf Scholz will sie, gibt die Entscheidung aber frei, weil es in der FDP starke Zweifel gibt. Die Ampelkoalition hat also keine sichere eigene Mehrheit. Da CDU und CSU die Impfpflicht aber vehement fordern, gilt die Zustimmung des Parlaments als sehr wahrscheinlich. ■ Der Staat muss mehr Geld und Eifer in die Digitalisierung stecken“, sagte der dbb Bundesvorsitzende. „Mit dem Onlinezugangsgesetz sollen Bürger künftig 575 Leistungen online abrufen können. Eine gute Sache. Ich sehe aber nicht, dass das wie geplant bis Jahresende gelingt. Digitalisierung heißt ja mehr, als ein PDF herunterladen zu können, das man dann von Hand ausfül- len muss.“ Bei diesem Zukunftsthema herrsche in Deutschland generell zu viel „Kleinklein“ und zu wenig Koordinierung. Silberbach: „Wir brauchen zentrale Zuständigkeiten statt eines IT-Stabs in jedemMinisterium. Die Fitko, die Föderale IT-Kommission, braucht eigenes Personal und eigene Mittel, um Digitalisierung zentral durchzusetzen.“ Mit Blick auf den besonderen Fachkräftemangel im IT-Bereich wies der dbb Chef das Argument zurück, die Bezahlstrukturen des öffentlichen Dienstes böten zu wenig Spielräume für die Personalgewinnung. Silberbach: „Die Tarifverträge sind flexibel. Bayern etwa zahlt IT-Experten eine monatliche Zusatzprämie von 1000 Euro und bietet vergünstigten Wohnraum. Davon können andere Länder lernen.“ Dem Ansinnen, durch die Digitalisierung kurzfristig Personal in der Verwaltung einzusparen, erteilte der dbb Bundesvorsitzende eine klare Absage: „Wenn Computer Routineaufgaben übernehmen, hat der Beamte mehr Zeit für anspruchsvolle Arbeit und Beratung. Beispiel: Wenn der Steuerbescheid automatisch erstellt wird, können mehr Beamte als Betriebsprüfer arbeiten und so die Steuergerechtigkeit erhöhen.“ Aktuell würden dem öffentlichen Dienst ohnehin bereits über 330000 Leute fehlen. ■ Im Interviewmit der „Rheinischen Post“ (Aus- gabe vom 8. Januar 2022) hat dbb Chef Ulrich Silber- bach eine konsequentere Modernisierung des öffentlichen Dienstes gefordert. Foto: Colourbox.de 4 AKTUELL dbb magazin | Januar/Februar 2022 NACHRICHTEN

Monitor öffentlicher Dienst 2022 Es scheiden in den nächsten 20 Jahren aus: Alter Bund Länder Kommunen Sozialver­ sicherung insgesamt über 45 Jahre 196560 1226585 905570 209815 2538530 in % ca. 58,2 ca. 49,2 ca. 56,7 ca. 57,0 ca. 52,9 Es scheiden in den nächsten 10 Jahren aus: Alter Bund Länder Kommunen Sozialver­ sicherung insgesamt über 55 Jahre 106600 619765 473890 98985 1299240 in % ca. 31,6 ca. 24,9 ca. 29,7 ca. 25,9 ca. 27,1 Monitor öffentlicher Dienst 2022 Der öffentliche Dienst braucht eine Einstellungsoffensive Erstmals seit 1999 arbeiten wieder fast fünf Millionen Menschen im öffentlichen Dienst. Angesichts der anstehenden Altersabgänge seien das aber immer noch zu wenige, warnt der dbb. Knapp 4,97 Millionen Beschäftigte arbeiteten zur Jahresmitte 2020 für Bund, Länder und Gemeinden. So viele waren es zuletzt Ende der 90er-Jahre. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) waren das rund 83200 Beschäftigte oder 1,7 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Damit arbeiteten rund elf Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland im Staatsdienst. Hohe Zuwächse waren 2020, wie schon im Jahr davor, bei der Polizei und in Kitas zu verzeichnen: Am 30. Juni 2020 waren in den Kitas 10 400 oder 4,4 Prozent mehr Personen beschäftigt als ein Jahr zuvor. Von 2010 bis 2020 ist die Zahl der Erzieherinnen und Erzieher um 61 Prozent auf 243600 Personen gestiegen (plus 91900). Bei der Polizei kam es innerhalb eines Jahres zu einem Beschäftigungszuwachs um 7100 Personen oder 2,1 Prozent auf insgesamt 341400 – der zweitgrößte Zuwachs seit Mitte der 1990er-Jahre. Damit waren 2020 rund elf Prozent oder 33300 mehr Personen im Polizeidienst beschäftigt als 2010. Auch an den Hochschulen war ein Personalzuwachs zu beobachten. Dieser war mit 10000 Personen oder 1,7 Prozent auf insgesamt 585900 Personen jedoch schwächer als in den Vorjahren. Der übrige Zuwachs verteilt sich auf die anderen Bereiche des öffentlichen Dienstes. „Die Trendwende war bitter nötig. Denn trotz der Zuwächse fehlen uns immer noch deutlich über 300000 Leute“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach bei der Veröffentlichung der Broschüre „Monitor öffentlicher Dienst“ am 3. Januar 2022 in Berlin. „Die Zahl umfasst sowohl unbesetzte Stellen als auch Schätzungen zu notwendigen Neueinstellung für eine adäquate Aufgabenerledigung. Wenn man sich alleine die erweiterten Betreuungsansprüche für Kleinkinder und die wissenschaftlich empfohlenen Betreuungsschlüssel anschaut, erkennt man die Notwendigkeit einer Einstellungsoffensive sofort. Und das ist nur ein Beispiel unter vielen.“ Das Problemwerde sich in den kommenden Jahren noch mal enorm verschärfen. „Fast 1,3 Millionen Beschäftigte sind bereits heute über 55 Jahre und werden damit in absehbarer Zeit altersbedingt ausscheiden. Angesichts der demografischen Entwicklung wird es eine riesige Herausforderung, entsprechend Nachwuchskräfte zu gewinnen – zumal die Privatwirtschaft ja vor ähnlichen Problemen steht und der Wettbewerb dadurch noch deutlich härter wird“, erklärte der dbb Chef. „Wer meint, die drohende Lücke durch die Digitalisierung von Arbeitsabläufen schließen zu können, ist auf dem Holzweg. Denn erstens erfordert die Modernisierung kurzfristig eher mehr Personal und zweitens wächst die Zahl der Aufgaben durch politische Entscheidungen ständig weiter.“ Der internationale Vergleich zeige zudem, dass Deutschland für seinen öffentlichen Dienst eher bescheidene Mittel aufwende. Silberbach: „Im OECD-Vergleich liegen wir imMittelfeld bei den Ausgaben für die allgemeine öffentliche Verwaltung. Und gemessen an der Gesamtbeschäftigtenzahl arbeitet bei uns sogar ein sehr geringer Teil im Staatsdienst. Auch das zeigt: Die immer wieder erzählte Geschichte über den aufgeblähten öffentlichen Dienst ist nur ein längst widerlegtes Vorurteil.“ ■ Altersverteilung insgesamt 35–44 25–34 unter 25 45–54 55–59 ab 60 Personal in Ausbildung ca. 20,6 ca. 25,8 ca. 15,3 ca. 11,8 ca. 5,5 ca. 17,9 ca. 3,1 in % Stand: 30. Juni 2020, ohne Soldaten „Trotz der Zuwächse fehlen uns immer noch deutlich über 300 000 Leute.“ Der Monitor öffentlicher Dienst 2022 kann über www.dbb.de/mediathek als PDF heruntergeladen werden. AKTUELL 5 dbb magazin | Januar/Februar 2022 DBB BROSCHÜRE

Tarifverhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst Zwischensprint für bessere Arbeitsbedingungen Die Berufe im Sozial- und Erziehungsdienst müssen aufgewertet werden, das streiten mittlerweile auch die Arbeitgeber nicht mehr ab. Doch der Weg dahin ist lang. Deshalb zieht der dbb mit den im Februar beginnenden Tarifverhandlungen erneut das Tempo an. Corona hat die essenzielle Bedeutung der Fachkräfte im Sozial- und Erziehungsdienst einmal mehr aller Welt vor Augen geführt. Von den allgemeinen Tarifverhandlungen mit Bund und Kommunen für den Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD), die zuletzt im Herbst 2020 stattfanden, profitieren zwar auch die überwiegend im kommunalen Bereich beschäftigten Fachkräfte im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE). Allerdings lassen sich die Besonderheiten der Jobs und die langfristige Aufwertung im Rahmen der „großen“ Tarifrunde nur schwerlich so berücksichtigen und umsetzen wie es notwendig wäre. Daher haben die Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände (VKA) und die beteiligten Gewerkschaften schon vor langer Zeit vereinbart, sich darüber hinaus alle fünf Jahre intensiv nur mit den Arbeitsbedingungen in der sozialen Arbeit und der frühkindlichen Bildung zu beschäftigen. So konnten zuletzt im Jahr 2015 wichtige Verbesserungen erreicht werden, etwa eine grundsätzlich höhere Eingruppierung. Nicht zu unterschätzen sind auch die Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte, denn die Wertschätzung der Öffentlichkeit für soziale Berufe ist in der Auseinandersetzung in den letzten Jahren enorm gestiegen. Denn obwohl viele Betroffene natürlich unter den Folgen eines Arbeitskampfes im SuE-Bereich leiden, ist die Solidarität mit den Streikenden überwiegend enorm – gerade Kitaeltern wissen beispielsweise um die fantastische Leistung der Erzieherinnen und Erzieher. Auf dem langen Weg zu einer Aufwertung sollte dann bereits Mitte 2020 ein neuer Meilenstein erreicht werden, doch die Coronapandemie erwies sich als zu hohe Hürde. Sie erschwerte nicht nur konstruktive Verhandlungen der komplexen Materie, sondern schränkte auch die Aktions- und Streikfähigkeit der Beschäftigten ein, insbesondere mit Blick auf die ohnehin hohe Belastung aller Betroffenen während der Pandemie. Am 25. Februar 2022 werden der dbb und die Arbeitgeber die vertagten Verhandlungen nun wieder aufnehmen. Doch natürlich ist in den letzten Monaten viel geschehen. Gerade die Situation in Model Fotos: Sergey Novikov/Colourbox.de (2) 6 AKTUELL dbb magazin | Januar/Februar 2022 SOZIALE ARBEIT

den Kitas und Schulen ist auch heute noch einerseits sehr angespannt, andererseits hat Corona die essenzielle Bedeutung der SuE-Fachkräfte einmal mehr aller Welt vor Augen geführt. Mit immer größer werdenden Sorgen blicken die Fachleute etwa auf die möglichen langfristigen Folgen der verlorenen haltgebenden pädagogischen und sozialen Arbeit für Zehntausende Kinder. Deshalb haben die Gewerkschaften ihren Forderungskatalog an die neue Situation angepasst. Im Fokus steht dabei selbstverständlich nach wie vor die finanzielle Aufwertung des Berufsfeldes. Auch um dem bereits jetzt eklatanten Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen und mehr Menschen für die Arbeit im SuE-Bereich zu gewinnen. Denn wollte man beispielsweise die wissenschaftlich empfohlenen Betreuungsschlüssel im Kitabereich bundesweit umsetzen, würden schon heute weit über 100000 Fachkräfte fehlen. Neben der finanziellen Attraktivität gibt es aber noch viele weitere Aspekte, die ab Februar diskutiert werden sollen. Ein wichtiges Thema ist etwa „Zeit“, und das 1 Verbesserung der Eingruppierungsmerkmale, insbesondere durch ▪ Anhebung der Grundeingruppierung der Kinderpflegerinnen und Kinderpfleger, Sozialassistentinnen und Sozialassistenten sowie Erzieherinnen und Erzieher ▪ Darstellung der pädagogischen Tätigkeiten im offenen Ganztag ▪ Honorierung von Qualifizierungen, beziehungs- weise Fort- und Weiterbildungen, Aufstiegsmöglichkeiten oder gegebenenfalls Zulagen für alle Beschäftigten 2 Überarbeitung der Eingruppierungsmerkmale für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen durch Gleichstellung mit vergleichbaren Studienniveaus sowie Schaffen neuer Merkmale für die Schulsozialarbeit mit dem Ziel einer verbesserten Zuordnung zu den jeweiligen Entgeltgruppen 3 Anpassung und Öffnung der Stufenlaufzeiten 4 Anpassung der Eingruppierung der Kitaleitungen an die gestiegenen Anforderungen, unter anderem Faktorisierung von Plätzen, zum Beispiel für Kinder unter drei Jahren und für behinderte Kinder im Sinne des § 2 SGB IX 5 Verbesserung der Qualität der Arbeit sowie Entlastung der Beschäftigten erzielen unter anderem durch: ▪ Ausdehnung der Vorbereitungszeit, ummehr Zeit für die mittelbare pädagogische Arbeit zu haben ▪ Einführung von Entlastungstagen durch ein Konsequenzen-Management 6 Rechtsanspruch auf Qualifizierung für alle Beschäftigten, zum Beispiel von ▪ Kinderpflegerinnen und Kinderpflegern ▪ Sozialassistentinnen und Sozialassistenten zu Erzieherinnen und Erziehern 7 Verbindliche Einführung der Position der stellvertretenden Leitung, zum Beispiel stellvertretende Kitaleitung 8 Erweiterung der S-Tabelle mittels weiterer Entgeltgruppen nach oben 9 Qualifizierung und angemessene Vergütung für Praxisanleitung sowie die Ausstattung mit Zeitkontingenten 10 Anerkennung der Berufstätigkeit und der bei anderen Trägern erworbenen Berufserfahrung 11 Anpassung der Eingruppierung an die gestiegenen Anforderungen im Bereich der Behindertenhilfe aufgrund der gesetzlichen Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz Die dbb Forderungen Die Gewerkschaften haben ihren Forderungskatalog an die neue Situation angepasst. Im Fokus steht dabei selbstverständlich nach wie vor die finanzielle Aufwertung des Berufsfeldes. 8 AKTUELL dbb magazin | Januar/Februar 2022

Nachgefragt beim dbb Bundesvorsitzenden und Verhandlungsführer SuE, Ulrich Silberbach In diesem Jahr sind verantwortungsbewusste Tarifverhandlungen möglich Herr Silberbach, 2020 wurden die SuE-Verhandlungen wegen der Coronapandemie vertagt. Was ist denn heute anders? Niemand kennt sich mit „Verantwortung“ besser aus als die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst. Und es erschien uns unverantwortlich, in der gerade Fahrt aufnehmenden Pandemie mit allen ihren Unwägbarkeiten und schlimmen Folgen über die wichtigen Themen im Berufsfeld auf Teufel komm raus zu verhandeln. Zeitgleich haben wir mit den kommunalen Arbeitgebern ja beispielsweise einen Tarifvertrag über Kurzarbeit abgeschlossen – ein absolutes Novum im öffentlichen Dienst! Heute stellt sich die Situation deutlich anders dar: Die Pandemie ist natürlich nicht vorbei, aber dank des Impffortschritts und der gesammelten Erfahrungen der letzten Monate sind wir der Meinung, verantwortungsbewusste Tarifverhandlungen führen zu können. Unsere Themen werden ja auch nicht weniger drängend. Also müssen sich Eltern, von denen viele in den letzten Monaten ohnehin enorm belastet waren, imMärz und April auf Kitastreiks einstellen? Das haben in erster Linie die Arbeitgeber in der Hand. Leider sieht es nicht so aus, als wären sie derzeit bereit, die notwendigen Schritte zu gehen. Aber das ist ja auch nicht unüblich, und Streiks sind nun mal ein wesentlicher Bestandteil von Tarifkonflikten beziehungsweise Arbeitskämpfen. Und seien wir ehrlich: Irgendeinen Grund werden Gegner der Wertschätzung für die Beschäftigten immer finden, warum ein Streik in einem bestimmten Moment total unpassend ist. Aber ich kann versprechen, dass wir verantwortungsvoll mit dem Streikrecht umgehen. Das haben wir immer getan. Deshalb ist etwa im Kitabereich eine deutliche Mehrheit der Eltern auf unserer Seite. Statt wütend auf die Erzieherinnen und Erzieher zu sein, stellen die sich mittlerweile mit einem Plakat zusammen mit uns zum Protestieren vor das Rathaus. Das ist wunderbar. Haben Sie keine Sorge, dass die Pandemie Ihre Aktionsfähigkeit als Gewerkschaft einschränkt? Nein. Als wir mit den Verhandlungen zur dauerhaften Aufwertung des SuE-Bereichs angefangen haben, war bei den Beschäftigten eine große Zurückhaltung zu spüren. Da musste man die Leute gefühlt noch zum Jagen tragen. Das Phänomen ist ja aus vielen sozialen Berufen bekannt. Aber das ist lange vorbei, wie man ja auch etwa an den Pflegestreiks letztes Jahr in Berlin gesehen hat. Es gibt ein ganz neues Selbstbewusstsein bei den Beschäftigten, und das freut mich sehr! Daher bin ich mir sicher, dass wir auch unter Berücksichtigung der Coronaregeln den notwendigen Rückenwind erzeugen können. Und den brauchen wir als Gewerkschafter, die am Verhandlungstisch die Gespräche führen, auch. Ob mit Streiks oder neuen, kreativen Protestformen: Wir werden gemeinsam für ein starkes Ergebnis kämpfen! Die Fragen stellte Michael Eufinger. © Marco Urban ? Arbeitgeber und Gewerkschaften haben zunächst drei Verhandlungsrunden vereinbart: Auftakt ist am 25. Februar 2022 in Potsdam, das zweite Treffen findet am 21./22. März ebenfalls in Potsdam statt. Der dritte Termin war zum Redaktionsschluss noch in Abstimmung. Alle Informationen zur Tarifrunde werden unter www.dbb.de/sue zur Verfügung gestellt. Termine gleich unter mehreren Gesichtspunkten: So sollen beispielsweise Leitungsfunktionen nicht nur entsprechend bezahlt, sondern auch durch die verpflichtende Einführung von Stellvertretungspositionen entlastet werden – die dann natürlich ebenfalls entsprechend der Verantwortung entlohnt werden müssen. Aber auch ganz grundsätzlich soll die Arbeit „amMenschen“ qualitativ besser werden, in demmehr Vorbereitungszeit für Inhalte und auch Organisatorisches eingeplant wird. Nicht zuletzt wird es bei den Verhandlungen, die für den dbb der Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach (siehe Interview) führen wird, auch um das Thema „Qualifikation“ gehen. Hier fordern die Gewerkschaften nicht weniger als einen Rechtsanspruch der Beschäftigten auf regelmäßige Fortbildungen, ganz im Sinne einer qualitativ hochwertigen frühkindlichen Bildung und Sozialen Arbeit. Fort- und Weiterbildungen sollten dann selbstverständlich auch bei der Bezahlung honoriert werden. Mehr Qualität soll nicht zuletzt auch durch eine bessere Vergütung und größere Zeitkontingente für jene Beschäftigten erreicht werden, die die Praxisanleitung von Nachwuchskräften übernehmen. ef AKTUELL 9 dbb magazin | Januar/Februar 2022

Politischer Auftakt Einfach machen – Investition und Innovation für unser Land Coronapandemie, digitaler Wandel, Klimaschutz, Zuwanderung – die neue Bundesregierung steht vor großen Herausforderungen. Ohne eine zuverlässige und moderne Verwaltung werden diese Aufgaben nicht zu bewältigen sein. Auf der 63. dbb Jahrestagung, die am 10. Januar 2022 als digitales Format in Berlin stattfand, wurden die drängenden Zukunftsfragen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Gesellschaft diskutiert. Digitalisierung, Klimaschutz, auch durch ökologische Transformation der Wirtschaft, Bildung, sozialer Wandel, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Zuwanderung – ohne einen personell und technisch aufgabengerecht ausgestatteten, leistungsfähigen und motivierten öffentlichen Dienst werden diese Zukunftsaufgaben nicht zu bewältigen sein“, stellte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach zum Auftakt der Jahrestagung klar. Der öffentliche Dienst, personell auf Kante genäht und technisch oft im Vorgestern stecken geblieben, befinde sich seit Jahren „quasi im Dauerstresstest“. Die Beschäftigten warteten vergeblich auf spürbare Wertschätzung und die Erkenntnis von Arbeitgebern und Dienstherrn, „dass es allerhöchste Zeit ist, nachhaltig in Personal zu investieren und es mit attraktiven Arbeitsbedingungen auch zum Bleiben zu motivieren“, kritisierte der dbb Chef. Zudem betonte er, dass es nicht an den Beschäftigten liege, wenn der Staat in vielen Belangen nicht mehr so funktioniere, wie die Bürgerinnen und Bürger es zu Recht erwarteten. „Wenn man es aus politischer Saumseligkeit und Begeisterung für schwarze Nullen über Jahre versäumt, die Behörden und Verwaltungen krisenfest aufzustellen, darf man sich im Katastrophenfall nicht verwundert den Schlaf aus den Augen reiben“, sagte Silberbach. Er warnte: „So darf es nicht weitergehen. Ein Staat, dem die Menschen immer weniger vertrauen und der ihnen nicht so dient, wie sie es von ihm erwarten – solch ein Staat hat umgekehrt auch immer weniger von den Menschen zu erwarten. Wenn mit dem öffentlichen Dienst der Kitt unseres Staatsgefüges bröckelt, wenn „Ohne Investitionen wird Deutschland existenzielle Zukunftsaufgaben nicht bewältigen.“ dbb Chef Ulrich Silberbach © Marco Urban (7) 10 FOKUS dbb magazin | Januar/Februar 2022 DBB JAHRESTAGUNG

sich das System langsam, aber sicher in seine Einzelteile zerlegt, dann kommen uns der gesellschaftliche Zusammenhalt, die Achtung von Recht und Gesetz, Solidarität und Respekt abhanden.“ Auch bei den Beschäftigten sei die Frustration groß über „Personalmangel, ständig mehr Aufgaben, uralte Technik und ein Wust an Bürokratie, der jede Innovation und Agilität im Keim erstickt“. Silberbach skizzierte einen klaren Fahrplan für eine nachhaltige Modernisierung des öffentlichen Dienstes und mahnte zur Eile: „Wir müssen jetzt einfach ins Machen kommen“, forderte er. Neben einer aufgabengerechten Personalausstattung und attraktiven Arbeitsbedingungen gelte es, die Digitalisierung der Verwaltung endlich tatsächlich umzusetzen. „Aktuell fehlen uns im öffentlichen Dienst insgesamt mehr als 330 000 Beschäftigte für die Erledigung der Aufgaben. Damit nicht genug: Fast 1,3 Millionen Kolleginnen und Kollegen sind über 55 Jahre und werden in den kommenden Jahren ausscheiden. 1,3 Millionen. Wie Bund, Länder und Kommunen diesen Verlust an Know-how und Arbeitskraft kompensieren wollen, ist bis heute schleierhaft“, unterstrich Silberbach. Die ohnehin nur schleppend anlaufende Digitalisierung alleine werde das Problem nicht lösen. Ohne Menschen sei auch in Zukunft kein Staat zu machen, und die Politik solle endlich aufhören, „das Personal immer nur als Kostenfaktor mit zwei Ohren zu betrachten. Investitionen in den öffentlichen Dienst sind Investitionen in Stabilität, Konjunktur, Bildung, Sicherheit und Wohlstand.“ Der dbb Chef forderte zudem allgemein mehr Respekt und Wertschätzung für den öffentlichen Dienst. „Die Kolleginnen und Kollegen im Staatsdienst sind nicht Blitzableiter von Amts wegen für eine Politik, die in der Kritik steht. Das müssen die, die politische Verantwortung tragen, immer wieder unmissverständlich klarmachen. Wer Menschen angreift, die unseren Staat und die Werte, für die er steht, repräsentieren und verteidigen, greift uns alle an. Deswegen erwarten wir von Politik und Gesellschaft mehr Schutz, mehr Respekt und mehr Rückhalt.“ Nancy Faeser, seit Dezember Bundesministerin des Innern und für Heimat, betonte die zahlreichen Gemeinsamkeiten, die sie bei der künftigen Ausgestaltung des öffentlichen Dienstes mit den Positionen des dbb sieht. „Die Zusammenarbeit mit Ihnen liegt mir sehr am Herzen. Wir wollen unser Land moderner und digitaler machen. Das geht nur mit einem starken öffentlichen Dienst. Wir wollen Vorbild und Antreiber sein: für Vielfalt, Gleichstellung und gute Arbeitsbedingungen“, sagte Faeser in ihrem Statement. Die neue Ressortchefin würdigte zudem den Einsatz der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im bisherigen Verlauf der Coronakrise: „In dieser Pandemie leistet der öffentliche Dienst herausragende Arbeit. Er hält unser Land am Laufen, jeden Tag. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wachsen tagtäglich über sich hinaus. Viele halten tagtäglich den Kopf hin – trotz Anfeindungen, trotz eigener Infektionsgefahren, trotz Sorgen um Kinder oder Ältere in der eigenen Familie, trotz des Frusts und der Erschöpfung, die wir alle erleben. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken!“ Die Bundesinnenministerin kündigte an, dass die neue Regierung ein verlässlicher Partner für alle Beschäftigten und Versorgungsempfänger des öffentlichen Dienstes sein werde. Grundsätzlich gehe es nicht immer darum, bei der monatlichen Gehaltshöhe jedes Rennen mit der Wirtschaft zu gewinnen. „Viel wichtiger ist, das Gesamtpaket aus Einkommen, sozialer Absicherung und attraktiven Arbeitsbedingungen zu sichern und herauszustellen. Der Schleifstein wäre dafür das völlig falsche Instrument“, betonte Faeser. Mit Blick auf die Zukunft des öffentlichen Dienstes gehe es ihr darum, konkret zu analysieren, was verbessert werden könne. „Wir wollen den Wettbewerb um die besten Köpfe gewinnen. Da gibt es viel zu tun: von den Arbeitsbedingungen über die Ausstattung bis hin zum Respekt. Wir sind uns einig, dass wir es nicht beim Applaus belassen dürfen“, stellte Faeser klar. Zwar sei die Bezahlung im öffentlichen Dienst längst nicht alles, „aber eine gute Bezahlung ist Ausdruck von Wertschätzung“. Mit Blick auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem letzten Jahr zur amtsangemessenen Alimentation versicherte die Bundesinnenministerin: „Wir werden für Besoldungs- und Versorgungsempfängerinnen und -empfänger eine zielorientierte und sachgerechte Lösung finden und sicherstellen, dass der Bund auch künftig verfassungsgemäß alimentiert. Wenn das zusätzliches Geld kostet, dann muss es uns dies wert sein.“ Eine klare Ansage gab es von Nancy Faeser in Sachen Gewalt gegen Beschäftigte: „Die Täter müssen konsequent zur Verantwortung gezogen werden. Wir brauchen einen besseren Schutz für Betroffene und wollen für eine wirkungsvolle Prävention sorgen.“ Die Bundesinnenministerin erneuerte auch ihre Warnung vor dem Rechtsextremismus, der „die größte Bedrohung für unsere Demokratie und für unsere offene und vielfältige Gesellschaft“ sei. „Diese Gefahr darf niemand mehr unterschätzen. Auch und erst recht nicht im öffentlichen Dienst.“ Wer nicht fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehe, habe in Behörden nichts zu suchen. Gemessen an der Gesamtzahl der öffentlich Beschäftigten rede man über sehr wenige Fälle, betonte Faeser, aber „jeder Extremismusfall ist einer zu viel. Verfassungsfeinde werden wir schneller aus dem öffentlichen Dienst entfernen als bisher.“ Für das Gelingen der Digitalisierung in Staat und Verwaltung will die Bundesinnenministerin, deren Haus weiterhin für die digitale Transformation zuständig ist, neue Kräfte freisetzen. Ein DigitalCheck soll Gesetze darauf abklopfen, ob sie das Leben einfacher „Eine gute Bezahlung ist Ausdruck von Wertschätzung.“ Bundesinnenministerin Nancy Faeser FOKUS 11 dbb magazin | Januar/Februar 2022

und digitaler machen. Die Digitalisierung müsse noch stärker in der Kultur der Verwaltung, in Aus- und Fortbildung verankert werden. Faeser betonte, dass ihr Ministeriummit der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG), dem Registermodernisierungsgesetz, der Digitalisierung des Personalausweises und der IT-Konsolidierung des Bundes große Reformvorhaben stemme, wobei die Föderale IT-Kooperation (FITKO) eine wichtige Rolle spiele und personell sowie finanziell gestärkt werde. „Aber bitte kein aufwendiger Umbau oder eine neue Behörde“, sagte Faeser mit Blick auf die Forderung des dbb, die FITKO zu einer vollwertigen Digitalisierungsagentur mit entsprechenden Umsetzungs- und Durchgriffsrechten auszubauen. In der anschließenden Diskussion mit dbb Chef Ulrich Silberbach betonte die Bundesinnenministerin, dass mit Blick auf die Gewinnung von Fachkräften für den öffentlichen Dienst deutlich mehr Anstrengungen erforderlich seien. Mit den Gehältern in der Privatwirtschaft, beispielsweise im Bereich IT, könne der Staat kaummithalten, aber mit Arbeitsbedingungen und Arbeitsumfeld durchaus punkten. Ohne eine gewisse Flexibilisierung in Fragen des Verdienstes werde es indes nicht gehen, sagte Faeser. Der dbb Bundesvorsitzende verwies darauf, dass Besoldungs- und Tarifrecht in diesen Punkten flexibel genug seien, jedoch keine entsprechenden finanziellen Mittel bereitgestellt würden. Hieran müsse gearbeitet werden. Auch im Gesundheitssektor müssten die Einkommens- und Arbeitsbedingungen dringend verbessert werden, sagte Faeser, „die Pflegekräfte arbeiten weit über ihrem Limit“. Dissens bestand in der Diskussion in puncto allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus. Während sich Bundesinnenministerin Faeser klar dafür aussprach, warnte der dbb Bundesvorsitzende davor, dass der Staat eine Drohkulisse aufbaue, die er am Ende nicht mit Umsetzung hinterlegen könne. „Der Staat ist derzeit nicht in der Lage, das umzusetzen, und dann verlieren wir weiter an Vertrauen in der Bevölkerung.“ Besser sei es, noch stärkere Impfanreize zu setzen und weiter für die Impfung zu werben. Bundesfinanzminister Christian Lindner dankte den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in seinem Impulsvortrag für ihr Engagement bei der Bewältigung der Coronapandemie: „Der öffentliche Dienst hat in dieser Pandemie gezeigt, was unser Land an ihm hat. Er hat gezeigt, welche besondere, unser gesamtes Land stabilisierende Rolle er spielt. Dafür gebührt den Beschäftigten Dank und Anerkennung der Bundesregierung.“ Das gelte auch für die wichtigen Funktionen, die der öffentliche Dienst für ein gesundes Wirtschaftswachstum habe: „Wachstum entsteht im Zentrum der Gesellschaft, durch privatwirtschaftliche Aktivität. Dafür sind gute und verlässliche Rahmenbedingungen unerlässlich, insbesondere auch ein leistungsfähiger öffentlicher Dienst.“ Das gesamte Kabinett und er als Finanzminister, so Lindner, würden sich daher für eine bessere Bezahlung, klare Aufstiegschancen, moderne Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Wertschätzung einsetzen. Lindner betonte in diesem Zusammenhang, dass sich die Bundesregierung ausdrücklich zum Berufsbeamtentum als einer tragenden Säule des öffentlichen Dienst bekenne. Daher habe man auch innerhalb der Koalition vereinbart, die eigenständigen Systeme, insbesondere bei der Krankheits- und Altersvorsorge der Beamtinnen und Beamten, beizubehalten. „Alles andere würde der besonderen Bedeutung des Beamtentums nicht gerecht“, so der Bundesfinanzminister. Bei der Modernisierung des öffentlichen Dienstes hob Linder Digitalisierung und Diversität hervor: „Arbeitsplätze sollen kein Museum sein“, stellte der Finanzminister klar und bekräftigte, dass mithilfe von bestehenden Kreditermächtigungen des Bundes in Höhe von 60 Milliarden Euro unter anderem aufgrund der Pandemie nicht erfolgte Investitionen in die technologische Transformation und Modernisierung des Staates vorgenommen werden sollen. Die geplante Reform der Ampelregierung für qualifizierte Einwanderung nach Deutschland stelle außerdem für den Staatsdienst eine Chance zur besseren Nachwuchsgewinnung bei gleichzeitiger Stärkung der Vielfalt dar. Allgemein warnte Lindner mit Blick auf den Staatshaushalt allerdings auch vor zu hohen Erwartungen bezüglich der geplanten Investitionen: „Am Ende kann nur das an Wohlstand verteilt werden, was zuvor erwirtschaftet worden ist.“ Da die Bundesregie­ „Der öffentliche Dienst hat gezeigt, welche, unser gesamtes Land stabilisierende Rolle er spielt.“ Bundesfinanzminister Christian Lindner Bundesinnenministerin Nancy Faeser und dbb Chef Ulrich Silberbach diskutierten unter der Moderation von Anke Plättner. 12 FOKUS dbb magazin | Januar/Februar 2022

rung ab 2023 die Schuldenbremse wieder einhalten wolle, müssten von der Politik eindeutige Schwerpunkte gesetzt werden. Im Bereich des öffentlichen Dienstes nannte er als „prioritär“ Sicherheitsbehörden wie Polizei, Bundeswehr und Zoll sowie die Digitalisierung der Bildung. Franziska Giffey nahm als neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin die Vorhaben ihrer rot-rot-grünen Senatsverwaltung in den Fokus ihres Grußwortes auf der dbb Jahrestagung, für das sie persönlich ins Berliner Studio gekommen war. „Wir haben uns in Berlin viel vorgenommen. Das gelingt aber nur, wenn wir uns auf einen öffentlichen Dienst stützen können, der es schafft, sowohl die Aufgaben der Daseinsvorsorge umzusetzen als auch die Ideen der neuen Senatsregierung zu verwirklichen. Die Verwaltungsmodernisierung ist Teil der Gesamtstrategie, die wir für Berlin haben“, bekräftigte Giffey. Die Verwaltung der Hauptstadt werde kritisiert, räumte die Regierende Bürgermeisterin ein, „sie ist aber an vielen Stellen weit besser als ihr Ruf. Deshalb setze ich mich dafür ein, unseren Mitarbeitern das Gefühl zu geben, dass wir hinter ihnen stehen, und deshalb werden wir den Prozess der Umwandlung partnerschaftlich angehen und nicht über die Köpfe der Beschäftigten hinweg agieren.“ Um die Verwaltung der 3,5-Millionen-Metropole Berlin zu gewährleisten und zugleich zu modernisieren, werde man das Allgemeine Zuständigkeitsgesetz reformieren, das die Kompetenzen der Bezirke und der Senatsverwaltung neu regelt. Zudem sollen sämtliche Digitalisierungs- und Verwaltungsmodernisierungsverfahren in die Hände des erfahrenen Digitalisierungsfachmanns Dr. Ralf Kleindiek gelegt werden. Der neue „Chief Digital Officer“ werde mit Stabsstellen in den Verwaltungen kooperieren und an den Senatssitzungen teilnehmen, kündigte Giffey an. Eine erste Maßnahme sei die schrittweise Erweiterung bestehender digitaler Dienstleistungen: „Hierbei werden wir uns zunächst auf die wichtigsten Produkte wie zum Beispiel Ausweise, Anträge für Kindergeld oder Elterngeld konzentrieren“, so Giffey. Weitere Ziele der neuen Senatsregierung seien die Verbesserung der Arbeits- und Bezahlbedingungen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, unter anderem eine Aufstockung des Personalbestandes um rund 700 Stellen, sowie die Verbeamtung der Lehrerinnen und Lehrer: „Diese werden wir so schnell wie möglich umsetzen, um zu verhindern, dass noch mehr Lehrkräfte in andere Bundesländer abwandern“, bekräftigte Giffey. Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, der zurzeit auch Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz ist, zeigte sich in seiner digitalen Grußbotschaft überzeugt, dass Politik auch in diesem weiteren Coronajahr mehr sein müsse als Krisenmanagement: „Sie muss neue Chancen schaffen und wagen: Ich denke da zum Beispiel an den Klimawandel. Ich will, dass Industrie und Klimaschutz versöhnt werden. Sorgen wir dafür, dass Deutschland zu einem klimaneutralen Industrieland wird, mit gut bezahlten Industriearbeitsplätzen und ohne finanzielle Überforderung der Verbraucher.“ Auch in vielen anderen Bereichen, etwa bei Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur, müsse Deutschland besser werden, sagte Wüst: „Klar ist aber, dass wir diese und andere Herausforderungen nur mit einem leistungsstarken öffentlichen Dienst meistern können. Und den haben wir: Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass sie sich auf den Staat und eine bürgerfreundliche Verwaltung verlassen können.“ Merkmal einer modernen Verwaltung seien attraktivere Arbeitsplätze: „Dazu gehört aus unserer Sicht auch eine leistungsgerechte Besoldung. Deshalb haben wir in Nordrhein-Westfalen in der vergangenen Woche ein Gesetz auf den Weg gebracht, damit das Ergebnis der Tarifverhandlungen auch auf die Beamtinnen und Beamten des Landes übertragen werden kann. Denn wir wissen, dass gerade von ihnen viel erwartet wird.“ cri/ef/iba „Die Verwaltungsmodernisierung ist Teil der Gesamtstrategie, die wir für Berlin haben.“ Franziska Giffey, Regierende Bürgermeisterin von Berlin „Wir können die Herausforderungen nur mit einem leistungsstarken öffentlichen Dienst meistern.“ Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst FOKUS 13 dbb magazin | Januar/Februar 2022

Reguläre und irreguläre Migration Wie gut sind Deutschland und Europa vorbereitet? Die europäische Migrationspolitik befindet sich in einer anhaltenden Krise. Im Umgang mit der Aufnahme von nach der Genfer Flüchtlingskonvention schutzsuchenden Menschen sind die EUMitgliedstaaten ebenso uneins wie mit der Verhinderung von irregulärer Migration. Unterdessen reißt der Strom Schutzsuchender nach Europa über das Mittelmeer und andere Routen nicht ab. Weitere Krisenherde wie der Ukraine-Konflikt könnten bald noch mehr Menschen dazu veranlassen, vor Krieg und Verfolgung zu fliehen. Wie kann Deutschland gemeinsammit seinen Partnern in der EU Lösungen finden, die eine Krise wie 2015 für die Zukunft verhindern? Wie wahren wir gleichzeitig den humanitären Anspruch, Schutz zu gewähren, wo er gebraucht wird, Rückführungen durchzusetzen, wo sie nötig sind, und reguläre Zugänge zum europäischen und deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen? Darüber hinaus muss die deutsche Verwaltung personell und in Sachen Ausstattung mit einer modernen Migrationspolitik Schritt halten. Denn letztlich müssen die Polizei in Bund und Ländern, der europäische Grenzschutz und die Verwaltungen in der Lage sein, schnell und konstruktiv mit den mitgliedstaatlichen Behörden zusammenzuarbeiten. Aber auch Lehrerinnen und Lehrer, Erziehende, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter für die Integration, Berufsberaterinnen und -berater sowie Beschäftigte in den Verwaltungen sind gefordert, den Menschen, die in der Bundesrepublik als neue Mitbürgerinnen und Mitbürger aufgenommen werden, einen guten Start in ihr neues Leben zu ermöglichen. Über Strategien, die Mammutaufgabe zu meistern, diskutierten: DBB JAHRESTAGUNG Jahrgang 1959, ist seit November 2019 Landesvorsitzender der CDU Brandenburg und seit November 2019 Innenminister des Landes Brandenburg sowie Erster stellvertretender Ministerpräsident. Stübgen absolvierte ein Studium der Evangelischen Theologie in Berlin und in Naumburg. Nach dem Zweiten Theologischen Examen wurde er zum Pfarrer ordiniert und in die Parochie Großthiemig/Brößnitz und Hirschfeld entsandt. Er war von 1990 bis 2019 Mitglied des Deutschen Bundestages. Michael Stübgen Jahrgang 1986, ist seit Mai 2019 Abgeordnete des Europaparlaments. Hier gehört sie der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) an. Düpont ist Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für regionale Entwicklung, im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung und im Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter. Düpont studierte Politikwissenschaften und Publizistik an der Universität Erlangen und war hiernach als wissenschaftliche Mitarbeiterin unter anderem für die Europaparlamentsabgeordnete Renate Sommer tätig. Lena Düpont Jahrgang 1968, ist seit Januar 2015 Direktor der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex. Vor dieser Tätigkeit hat sich Leggeri in den französischen Ministerien für Inneres und Verteidigung sowie in der Europäischen Kommission mit Thematiken im Kontext mit dem Schengenraum, der Grenzkontrolle und der Migration mit europäischem Bezug beschäftigt. Leggeri studierte unter anderem an der École normale supérieure (ENS) und an der École nationale d’administration (ENA). Fabrice Leggeri Jahrgang 1982, ist seit Mai 2019 in den Vorstand der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen gewählt und seit Juni 2021 stellvertretende Vorstandsvorsitzende. Dr. Parvanta hat in Aachen ihr Medizinstudium abgeschlossen und ist an dem UniversitätsklinikumMainz als Gynäkologin tätig. Ihren ersten Einsatz für Ärzte ohne Grenzen hatte sie 2011 als Ärztin in der Zentralafrikanischen Republik. Dr. Parnian Parvanta © privat © Barbara Sigge/MSF © MIK © CC 2.0/photonews.at/ Georges Schneider 14 FOKUS dbb magazin | Januar/Februar 2022

Lena Düpont (CDU), Mitglied des Europäischen Parlaments, betonte die europarechtliche Seite der Migrationspolitik. Obwohl das EU-Recht gemeinsame Zuständigkeiten für Migrations- und Asylpolitik vorsehe, sei die EU bei der Grenzsicherung organisatorisch weiter als bei der gemeinsamen Migrationspolitik. So lägen zum Beispiel die Kompetenzen für die Art und Weise, wie Einsätze laufen, bei den EU-Mitgliedstaaten. „Bisher haben wir auf europäischer Ebene umgesetzt, was möglich war.“ Darunter fielen der Auf- und Ausbau von Frontex, die Verbesserung von IT-Strukturen und Pilotprojekte, zum Beispiel für die Unterbringung geflüchteter Menschen. Der große Block Asyl- und Migrationspolitik müsse innerhalb der Mitgliedstaaten aber noch grundlegend verbessert werden, auch was die Zusammenarbeit betreffe, forderte Düpont. „Auch die EU-Kommission hat sich lange nicht so recht an dieses Thema herangetraut, und wie eine gemeinsame Lösung am Ende aussieht, wissen wir heute noch nicht.“ Für die Europaabgeordnete steht außer Frage, dass sich die EU-Mitgliedstaaten auch weiterhin auf akute Krisen vorbereiten müssen. „Dabei muss Grenzschutz immer im Einklang mit menschenwürdigen Außengrenzen stehen.“ Fabrice Leggeri, Exekutivdirektor der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex), stellte den Grenzschutz in Europa als einen Aspekt der Migrationspolitik dar, der Asylpolitik nicht ersetzen könne, während Migrationspolitik keine Probleme des Grenzschutzes löse. Frontex sei eingerichtet worden, um den Schengenraummit seinen offenen Binnengrenzen zu schützen, indem die EU-Außengrenzen überwacht würden. Das klare Ziel des EU-Grenzmanagements sei, irreguläre Migration zu bewältigen und Kriminalität zu bekämpfen. „Dazu brauchen wir einen politischen Rechtsrahmen, eine EU-weit abgestimmte Politik. Der seit 2015 herrschende Mangel an europäischer Migrationspolitik hat keine guten Auswirkungen auf die Außengrenzen.“ Betrachte man die EU-Außengrenzen als gemeinsame Außengrenzen des Schengenraumes, müsse innerhalb der EU mehr politische Einigkeit herrschen, denn die Entscheidungen eines Landes könnten immer auch Auswirkungen an den Außengrenzen der anderen Länder haben. Dennoch habe die EU zumindest beim Grenzmanagement Fortschritte gemacht, indem europäische Einsatzkräfte seit 2021 über eigene Grenzbeamte verfügten. Vorwürfe, Flüchtende würden an den Außengrenzen zum Teil wie Feinde behandelt, wies Leggeri zurück: „Frontex ist den Grundrechten verpflichtet. Es gibt Beobachter, und wenn Vorfälle wie Menschenrechtsverletzungen angezeigt werden, dann muss Frontex diese Fälle untersuchen.“ Weiter habe die Agentur mit ihren Einsatzkräften bereits viele Menschen imMittelmeer gerettet. „Es ist immer ein Scheitern, wenn Menschen sterben. Unsere Priorität ist es, das zu vermeiden.“ Dr. Parnian Parvanta, stellvertretende Vorstandsvorsitzende von Ärzte ohne Grenzen, sieht in der sogenannten „Migrationskrise“ seit 2015 vor allem eine menschlich-­ solidarische Krise an den EU-Außengrenzen. Sie kritisierte scharf, „dass Menschen imMittelmeer ertrinken oder dass sie zurückModel Foto: Pressmaster/Colourbox.de FOKUS 15 dbb magazin | Januar/Februar 2022

geführt werden in Staaten wie Libyen, dass es Abschiebehaft gibt und dass die europäischen Regierungen das alles finanzieren und unterstützen. Die EU trägt die Verantwortung, wenn Menschenrechte an ihren Außengrenzen mit Füßen getreten werden und die Grenzpolitik einfach in Form von Pushbacks an die Außengrenzen Libyens oder Afghanistans ausgelagert wird. Das ist unwürdig.“ Parvanta forderte, mehr finanzielle Ressourcen in die Integration geflüchteter Menschen und die psychosoziale Betreuung durch Gewalt und Flucht traumatisierter Menschen zu investieren. Persönlich habe sie als Flüchtlingskind aus Afghanistan schlicht „Glück gehabt, an Grenzpolizisten vorbeigefahren zu sein, die unser Auto nicht angehalten haben. Außerdem habe ich das Asylverfahren sehr jung im Schulalter durchlaufen. Auch das war Glück.“ Die EU brauche eine geordnete Migrationspolitik, die auch Menschen, die aus wirtschaftlichen Interessen nach Europa oder nach Deutschland kommen, eine faire Integrationschance biete. Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen betonte, dass das Recht auf Asyl nicht vermischt werden dürfe mit anderen Intentionen für Migration – „das Asylsystem ist kein Migrationssystem“. Bei der Gewährleistung und der Umsetzung des Asylrechts kämen Deutschland und EU ihren verfassungs- und völkerrechtlichen Verpflichtungen nach. „Diesen Schutz gewähren wir auf jeden Fall“, so Stübgen, „aber wenn Menschen den Wunsch haben, in einem Land wie Deutschland zu leben, fällt das nicht in den Bereich Asyl.“ Für diese Menschen müsse man zu einer geordneten Migrationspolitik kommen, die mit der Möglichkeit des sogenannten „kleinen Spurwechsels“ bereits in Ansätzen in sinnhafter Verbindung mit dem Asylrecht über Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung praktiziert werden könne. Brandenburg praktiziert laut Stübgen bereits aktive Fachkräftezuwanderung und konnte so allein im vergangenen Jahr rund 2000 Menschen aus dem Ausland für den heimischen Arbeitsmarkt gewinnen. Der Minister betonte, dass man in Deutschland und Europa, neben eines über das Dublin-II-Abkommen hinausgehenden Verteilungssystems von Geflüchteten, auch zu einer besser geordneten und effektiveren Rückführung von abgelehnten Asylbeantragenden kommen müsse. „Die Rückführung von ausreisepflichtigen Asylbewerbenden funktioniert deshalb nicht, weil die eigentlich rücknahmepflichtigen Herkunftsländer blockieren. In dieser Frage müssen wir mehr Klarheit schaffen.“ dbb Chef Ulrich Silberbach betonte in einem abschließenden Statement, dass irreguläre Migration zu verhindern und reguläre Migration zu ermöglichen, zwei Seiten ein und derselben Medaille seien. „Wir wissen, dass wir vor dem Hintergrund der Alterung unserer Gesellschaft dringend reguläre Migration brauchen – für unseren Arbeitsmarkt, aber auch für die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme. Wir wissen aber auch, dass irreguläre Migration unsere Gesellschaft überfordern kann. Das gilt auch für den Staat und seinen öffentlichen Dienst, die wie viele unserer Kolleginnen und Kollegen bei Fragen der Migration, regulärer wie irregulärer, stark gefordert sind.“ Silberbach hielt fest, dass die personelle und sachliche Ausstattung der Behörden auch in Sachen Migration unvorhergesehenen Lagen standhalten müsse. Dies sei jedoch derzeit nicht der Fall, im europäischen und im internationalen Vergleich etwa der OECD-Länder gebe Deutschland mitunter am wenigsten für seinen öffentlichen Dienst aus und stehe auch beim Anteil der öffentlich Beschäftigten weit hinten. „Wir brauchen genug Polizei und Justiz, aber auch die Ressourcen in unserer allgemeinen Verwaltung, der Sozialverwaltung und an unseren Schulen, um eine gelingende Aufnahme und perspektivisch die Integration der Menschen sicherzustellen, die langfristig oder dauerhaft in Deutschland eine neue Heimat finden.“ Der dbb Bundesvorsitzende sprach sich für eine stärkere europäische Außen- und Sicherheitspolitik und mehr Kooperation in der Flüchtlingspolitik aus. „Um Menschen Schutz vor Flucht und Verfolgung bieten zu können, müssen wir diejenigen, die keinen Bleibegrund haben, auch in ihre Herkunftsländer zurückführen. Der Schutz der europäischen Außengrenzen ist dabei von zentraler Bedeutung. Die unverzichtbare Arbeit, die unsere Bundespolizei, Frontex und unsere europäischen Kolleginnen und Kollegen hier leisten, ist Voraussetzung für Sicherheit und jede Art von regulärer Migration“, betonte Silberbach. Unkontrollierte Zuwanderung gelte es zu verhindern, gleichwohl dürfe Europa nicht zu einer Festung werden oder erlauben, „dass menschenverachtende diktatorische Regime am Rande Europas uns erpressen und die legitimen Hoffnungen von Menschen auf ein besseres Leben ausnutzen, um unsere Gesellschaften in Europa zu destabilisieren“. Wichtig sei insbesondere auch, „dass wir unsere humanitären Anstrengungen in den Herkunftsländern vervielfachen“, so Silberbach. br/iba „Wir brauchen genug Polizei und Justiz, aber auch die Ressourcen in unserer allgemeinen Verwaltung, der Sozialverwaltung und an unseren Schulen, um eine gelingende Aufnahme und perspektivisch die Integration der Menschen sicherzustellen, die langfristig oder dauerhaft in Deutschland eine neue Heimat finden.“ Ulrich Silberbach Die Frage, wie mit dem Zustrom von Flüchtlingen nach Europa umgegangen werden soll, beantworteten 46 Prozent der Teilnehmenden an einer vom dbb in Auftrag gegebenen forsa-Umfrage mit „Sicherung der EU-Grenzen und Kontrollen“. 40 Prozent würden die Flüchtlinge zunächst nach Europa kommen lassen und dann verteilen. Lediglich sechs Prozent der Befragten sprachen sich für eine Sicherung und Kontrolle der deutschen Grenzen aus. Kein Votum für Kontrolle der Binnengrenzen 16 FOKUS dbb magazin | Januar/Februar 2022

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