dbb magazin 9/2022

dbb magazin Lehrkräftemangel | Zu wenig, zu langsam, zu spät? Interview | Christian Piwarz, Sächsischer Staatsminister für Kultus dbb Bürgerbefragung Öffentlicher Dienst 2022 | Vertrauen in den Staat auf dem Tiefstand 9 | 2022 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

STARTER Bildungsauftrag macht nicht Schule Der Lehrkräftemangel vermindert die Bildungsqualität und ist auf jahrelange, unseriöse Bedarfsprognosen zurückzuführen. Darauf hat zuletzt der renommierte Bildungsforscher Prof. i. R. Dr. Klaus Klemm hingewiesen. Wenn es um die Zahl der fehlenden Lehrkräfte bis 2030 geht, übersteigt etwa seine Prognose die der Kultusministerkonferenz (KMK) um 480 Prozent. Auf ein anderes Problemfeld weist im Interview der sächsische Staatsminister für Kultus, Christian Piwarz, hin. Ihm geht es zum Beispiel darum, das schnelle Internet an alle Schulen zu bringen, auch wenn Digitalisierung nicht automatisch zu einer besseren Bildung führe. Die Technik müsse der Pädagogik folgen und nicht umgekehrt. Die zentrale Frage aber bleibt, wie dem bedrohlichen Lehrkräftemangel beizukommen ist, auf den die dbb Lehrerverbände seit Langem hinweisen. Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende der dbb Fachkommission Schule, Bildung, Wissenschaft, fragt unter anderem, warum die KMK so säumig ist, sich um die Nachqualifikation von Akademikern ohne Lehramtsabschluss zu kümmern. Ganz nah an der Praxis war Jörg Meyer mit seiner Reportage über den DigitalPakt Schule am Beispiel eines Gymnasiums in Celle. „Geht doch!“, war sein Fazit. red Foto: Anna Om/Colourbox.de Manuel H. Erzieher dbb: wir. für euch. Wir sind da. Fur das Wertvollste, was ihr habt. .. 14 18 TOPTHEMA Schule und Bildung 28 AKTUELL NACHRICHTEN 4 DBB BÜRGERBEFRAGUNG 2022 Vertrauen in den Staat auf historischem Tiefstand 6 IN EIGENER SACHE Neue dbb Imagekampagne gestartet: „wir. für euch“ 8 FOKUS ZOOM Ausgewählte wissenschaftliche Quellen zum Lehrkräftemangel 12 INTERVIEW Christian Piwarz, Sächsischer Staatsminister für Kultus 14 STANDPUNKT Lehrkräftemangel darf nicht zur Deprofessionalisierung führen 16 REPORTAGE Digitale Schule: Die Fläche des Maschsees 18 MITBESTIMMUNG Wahlen der Schwerbehindertenvertretung 2022: Im Einsatz für die Interessen und Bedürfnisse einer besonderen Beschäftigtengruppe 24 ZUR SACHE Plädoyer für eine vielsprachige Verwaltung 26 GASTBEITRAG Die EU ist auch in Zeiten von Krieg und Corona handlungsfähig 28 INTERN JUNGE BESCHÄFTIGTE 31 FACHGESPRÄCH Pflegenotstand – Wege aus der Krise 32 ONLINE Dauerbaustelle Digitalisierung 34 SERVICE 38 Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 8 AKTUELL 3 dbb magazin | September 2022

NACHRICHTEN Öffentlicher Dienst Es fehlen 360 000 Beschäftigte Die Zahl der Aufgaben des öffentlichen Dienstes wächst schneller als die der Beschäftigten. Damit der Staat handlungsfähig bleibt, fordert der dbb Chef einen Zukunftsfonds. Nach Einschätzung unserer 40 Mitgliedsgewerkschaften fehlen 360000 Beschäftigte. Dabei berücksichtigen wir nicht nur offene Stellen, sondern auch den Personalbedarf, der sich durch neue Aufgaben ergibt“, erklärte der dbb Chef Ulrich Silberbach im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Ausgabe vom 18. August 2022). Trotz Personal- beziehungsweise Stellenzuwachs in einigen Verwaltungsbereichen ist der Fehlbestand demnach zuletzt erneut um etwa 30000 Fachkräfte gestiegen. Wenn in den kommenden Jahren die geburtenstarken Jahrgänge altersbedingt ausscheiden, werde der Personalmangel sogar noch deutlich größer, betonte Silberbach. Von Bund, Ländern und Kommunen forderte der dbb Bundesvorsitzende deshalb konkrete Maßnahmen: „Zwei Dinge sind sehr wichtig: Zum einen brauchen wir endlich eine langfristige Personalplanung in der Verwaltung, die den demografischen Wandel berücksichtigt. Wir müssen schon jetzt Stellen schaffen, um kommende Generationen auf die anstehenden Aufgaben vorzubereiten. Zum anderen müssen wir den öffentlichen Dienst durch Anreizsysteme attraktiver machen.“ Der dbb wolle schon lange eine echte Qualifizierungsoffensive und eine leistungsgerechte Bezahlung. „Wer sich weiterbildet, soll mehr bekommen“, so Silberbach. Im europäischen Vergleich habe Deutschland heute, gemessen an der Wirtschaftsleistung, geringe Ausgaben für den öffentlichen Dienst und beschäftige im Verhältnis zur Bevölkerungszahl weniger Menschen beim Staat als viele Nachbarländer. Eine Folge dieser Sparpolitik sei, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten viele Staatsaufgaben nicht erledigt worden seien. „Wir bekennen uns zur Schuldenbremse. Wir sehen aber auch, dass Deutschland einen enormen Investitionsstau in der Infrastruktur hat. Deshalb sollte der Bund dafür ein Sondervermögen bilden, das nicht in die Schuldenbremse eingerechnet wird“, forderte der dbb Chef. Diese Aufgaben dürften nicht einfach den folgenden Generationen überlassen werden. „Deshalb ist ein solcher Zukunftsfonds nötig.“ Darüber hinaus mahnte Silberbach die Politik, bei ihren Vorhaben die Umsetzung durch die Verwaltung stärker in den Blick zu nehmen: „Wer Gesetze verabschiedet, die nicht vollzogen werden können, fördert letztlich Staatsverdrossenheit und Querdenkertum.“ Dem öffentlichen Dienst drohe bereits heute permanent die Überforderung, weshalb der dbb auch die jüngst diskutierte Übertragung immer neuer Aufgaben – wie etwa die Kontrolle einer Impfpflicht oder der Einführung von Englisch als zweite Amtssprache – ohne entsprechende Personalausstattung abgelehnt habe. ■ Die folgenden Angaben gründen auf Einschätzungen der 40 dbb Fachgewerkschaften. Die im Juli 2022 zusammengestellten Zahlen zeigen, wie sich der seit Jahren anwachsende Personalmangel in den einzelnen Sparten des öffentlichen Dienstes auswirkt. Die Politik muss endlich Prioritäten setzen und für eine aufgabengerechte Personalausstattung sorgen. Personalbedarf nach Sparten Sparte Bedarf Bundespolizei 27000 Landespolizei 28000 Steuerverwaltung 30000 Zoll 5600 Schulen* 42000 Kommunalverwaltungen (allg. Verwaltung, Ausländerbehörden, Bauämter, Jugendämter, Ordnungsämter, Sozialämter/Soziale Arbeit, Feuerwehren, Kitas**) 165400 Öffentlicher Gesundheitsdienst 8500 Kranken- und Altenpflege 47000 Arbeitsagenturen/Jobcenter 1700 Justiz (Justizvollzug, Verwaltung) 3700 358 900 * Ohne Berücksichtigung des zusätzlichen Bedarfs durch weitergehende Konzepte zur Ganztagsbetreuung ** Allein bei den Kitas fehlen aktuell über 70000 Beschäftigte. Foto: Colourbox.de 4 AKTUELL dbb magazin | September 2022

dbb Stellungnahme zum Bürgergeld Arbeitsverwaltung mitnehmen Das geplante Bürgergeld begrüßt der dbb grundsätzlich. Beschäftigte der Arbeitsagenturen und Jobcenter müssten aber gut in den Reformprozess eingebunden werden. Unsere Zeit ist nicht von großer Arbeitslosigkeit geprägt, sondern von demografischemWandel und Fachkräftemangel. Die Aus- und Weiterbildung muss daher bei der Arbeitsmarktpolitik mehr in den Fokus rücken, gerade mit Blick auf Langzeitarbeitslose, die von der aktuellen Lage kaum profitieren. Für die Kolleginnen und Kollegen in der Praxis ist dieser Ansatz allerdings nicht wirklich neu, weil hier der Trend schon länger weg vom Fordern und hin zum Fördern geht“, erklärte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 24. August 2022. Von diesen Erfahrungen könne der Gesetzgeber profitieren, wenn er die Beschäftigten in den Reformprozess gut einbindet und für die spätere Umsetzung des Vorhabens dann wiederum entsprechend fortbildet. Mit Blick auf die geplante Abschaffung einiger Sanktionen und der Fokussierung auf Anreize sagte der dbb Chef: „Selbstverständlich müssen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden, das den Sanktionen klare Grenzen gesetzt hat. Der Abbau von Überprüfungspflichten wäre zudem auch für die chronisch überlasteten Kolleginnen und Kollegen hilfreich. Klar ist aber auch: Die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen muss stärker kontrolliert werden. Solche Fälle haben auch eine andere Qualität als etwa die fehlende Mitwirkung eines Leistungsberechtigten. Werden Leistungen ohne Bedürftigkeit bezogen, wird auf Dauer die Funktionalität und Akzeptanz des gesamten Sozialstaates gefährdet.“ Mehr Informationen und die vollständige dbb Stellungnahme unter www.dbb.de ■ 14. September 2022 von 15 bis 18 Uhr, online Cybersicherheit, Fachkräftegewinnung und Katastrophenschutz durch digitale Tools – wie krisenfest ist der Staat? Zum Start seines neuen Veranstaltungsformats „Geh, hör!“ möchte der dbb mit Ihnen und verschiedenen Expertinnen und Experten online diskutieren und gemeinsam Antworten entwickeln. > Wie gut sind wir vorbereitet, wie krisenfest ist der Staat? > Wie sieht wirksame Cybersicherheit aus? > Welche Antworten haben wir auf den Fachkräftemangel? > Wie können digitale Tools den Staat resilient gegen Krisen machen? Im ersten Teil der Veranstaltung geben Referentinnen und Referenten Input zu den Themengebieten. Neben dem dbb Bundesvorsitzenden Ulrich Silberbach gewähren der Präsident des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Arne Schönbohm, und der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Johann Saathoff, Einblick in ihre Fachgebiete. Im zweiten Teil wird die Veranstaltung in drei Themen- sessions aufgeteilt, die sich den Bereichen Cybersicherheit, Fachkräftegewinnung und Katastrophenschutz durch digitale Tools widmen. Die Ergebnisse der Sessions werden anschließend im Plenum diskutiert. Sie sollen in die Positionierung des dbb zu diesen elementaren Zukunftsthemen einfließen. Weitere Informationen sowie das Anmeldetool: www.dbb.de/veranstaltungen/geh-hoer.html Bitte beachten: Die Teilnahme ist nur nach vorheriger Anmeldung möglich. Der Link zur Teilnahme wird rechtzeitig vor Beginn zugesandt. Anmeldeschluss ist der 7. September 2022. Einladung zum digitalen Diskussionsforum Model Foto: Colourbox.de AKTUELL 5 dbb magazin | September 2022

UMFRAGE dbb Bürgerbefragung Öffentlicher Dienst 2022 Foto: Colourbox.de Einschätzungen, Erfahrungen und Erwartungen der Bürger Foto: Colourbox.de dbb Bürgerbefragung 2022 Vertrauen in den Staat auf historischem Tiefstand Das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat war nie geringer. Der öffentliche Dienst ist nicht krisenfest aufgestellt. Das zeigen die Ergebnisse der dbb Bürgerbefragung 2022. Laut der Erhebung sind nur noch 29 Prozent der Befragten der Meinung, der Staat sei handlungsfähig und könne seine Aufgaben erfüllen. Zwei Drittel (66 Prozent) glauben das nicht. „Der Trend war bereits letztes Jahr zu erkennen. Jetzt ist das Kind endgültig in den Brunnen gefallen“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 1. September 2022 bei der Vorstellung der Umfrageergebnisse, die das Meinungsforschungsinstitut forsa erhoben hat. Klima, Krieg, Corona, Kostenexplosion: Egal in welchem Lebensbereich eine Krise auftrete, der Staat präsentiere sich schlecht vorbereitet, so Silberbach weiter. „Jetzt zahlt die Gesellschaft den Preis dafür, dass wir bei der Politik um jeden Euro und jede Stelle für den öffentlichen Dienst feilschen müssen. Wir haben leider nur noch eine Schönwetter-Daseinsvorsorge. Das ist die traurige Wahrheit, und die Menschen erleben das jeden Tag. Einmal mehr zeigen die Zahlen aber auch, dass die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich zwischen ausbleibender beziehungsweise schlechter politischer Führung auf der einen Seite und engagierten Menschen im öffentlichen Dienst auf der anderen Seite unterscheiden.“ Berufe im öffentlichen Dienst weiter beliebt So seien unter den beliebtesten Berufsgruppen ganz überwiegend Jobs aus der Daseinsvorsorge vertreten. Die Top fünf belegen beispielsweise Feuerwehrleute, Krankenpflegepersonal, Ärztinnen und Ärzte, Altenpflegepersonal sowie Polizeikräfte. „Wer einen konkreten Dienst für die Gesellschaft erbringt, erfährt von seinen Mitmenschen dafür in der Regel Wertschätzung – oft mehr als vom Arbeitgeber oder Dienstherrn“, so der dbb Chef. Auch das Profil der Beamtinnen und Beamten ganz allgemein werde zwar von der Vertrauenskrise in den Staat negativ beeinflusst, bleibe dabei aber auf einem erfreulich hohen Niveau: Eine Mehrheit der Menschen in Deutschland verbindet mit dem Berufsbeamtentumweiterhin Eigenschaften wie „pflichtbewusst“, „verantwortungsbewusst“, „zuverlässig“ und „rechtschaffen“. „Gerade die Bundespolitik sollte außerdem zur Kenntnis nehmen, dass die Bürgerinnen und Bürger sehr genau um die Bedeutung eines funktionierenden gesellschaftlichen Miteinanders und leistungsfähiger öffentlicher Einrichtungen wissen. Die sind ihnen – anders als es oft unterstellt wird – oft sogar wichtiger als der eigene Geldbeutel“, stellte der dbb Bundesvorsitzende heraus. So stünden bei den wichtigsten Staatsaufgaben neben der allgemeinen „Aufrechterhaltung der sozialen Gerechtigkeit“ auch der Klimaschutz, die Infrastruktur und die Modernisierung des öffentlichen Dienstes ganz oben. Erst dann folge die „Entlastung der Bürger aufgrund der gestiegenen Preise“. Silberbach: „Das zeigt deutlich: Ohne einen starken öffentlichen Dienst und „Wir haben leider nur noch eine Schönwetter-Daseinsvorsorge. Das ist die traurige Wahrheit, und die Menschen erleben das jeden Tag.“ Ulrich Silberbach 6 AKTUELL dbb magazin | September 2022

eine krisenfeste Daseinsvorsorge wird der der Staat das Vertrauen der Bevölkerung nicht zurückgewinnen können.“ Modernisierung nicht verschleppen forsa hat die Meinungen der Bundesbürgerinnen und -bürger zu notwendigen Modernisierungen im öffentlichen Dienst sowie deren Finanzierung erhoben. Eine Mehrheit (58 Prozent) der Bundesbürger befürchtet, dass anstehende Modernisierungen im öffentlichen Dienst aufgrund der hohen Ausgaben zur Bewältigung der aktuellen Krisen nicht mehr finanziert werden können. Ein Drittel der Befragten (33 Prozent) teilt diese Befürchtung nicht. In diesem Zusammenhang wurde auch nach der Schuldenbremse gefragt, die eingeführt worden war, um die Verschuldung des Staates zu begrenzen. Zur Bewältigung der Coronakrise war sie ausgesetzt worden. In der Frage, ob die Schuldenbremse angesichts des Kriegs in der Ukraine und dessen negativen Folgen für die Haushalte und die Wirtschaft weiterhin ausgesetzt werden oder wieder gelten soll, sind die Bundesbürger gespalten: 47 Prozent sind der Ansicht, die Schuldenbremse sollte erneut ausgesetzt werden. Dass sie wieder gelten sollte, meinen 42 Prozent. Darüber hinaus wurden den Befragten verschiedene mögliche Maßnahmen genannt, um die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes aufrechtzuerhalten beziehungsweise zu verbessern. Sie wurden gebeten anzugeben, welche davon sie für besonders erforderlich halten. Über zwei Drittel der Befragten finden eine konsequente Digitalisierung aller Aufgaben des öffentlichen Dienstes (71 Prozent) sowie eine schnellere und bessere Terminvergabe für die Anliegen der Bürger (68 Prozent) besonders erforderlich. Fast zwei Drittel sagen dies über die Verbesserung von Beratung und Service für die Bürger (64 Prozent). Etwas seltener meinen die Befragten, dass es für die Aufrechterhaltung beziehungsweise Verbesserung der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes besonders notwendig sei, dass die Öffnungszeiten der Behörden ausgeweitet werden (43 Prozent), dass Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes eine ausreichend gute und leistungsgerechte Bezahlung erhalten (42 Prozent) und dass eine Verjüngung des öffentlichen Dienstes durch die Einstellung neuer junger Mitarbeiter erfolgt (41 Prozent). ■ -22 +7 „Gewinner“ und „Verlierer“ im Beruferanking seit 2007 Müllmann/-frau Beamte/r Krankenpfleger/in Feuerwehrmann/-frau Studienrat/Studienrätin Journalist/in Bankangestellte/r Unternehmer/in

IN EIGENER SACHE Neue dbb Kampagne gestartet „wir. für euch.“ „wir. für euch.“ – so lautet der Claim der neuen dbb Testimonial-Kampagne. Sie richtet sich sowohl an die breite Öffentlichkeit als auch an alle Mitglieder der dbb Familie mit der klaren Botschaft: Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind für alle da, und der dbb steht als gewerkschaftlicher Dachverband jederzeit fest an der Seite der rund fünf Millionen Menschen im Dienst der Menschen. Manuel H. Erzieher dbb: wir. für euch. Wir sind da. Fur das Wertvollste, was ihr habt. .. Die Kampagne rückt zahlreiche Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst und den privatisierten Bereichen und deren Aufgaben in den Fokus – allesamt „Originale“ und natürlich Mitglied einer dbb Fachgewerkschaft. Polizistin, Lehrerin, Erzieher, Lokführer, Paketzusteller, Finanzbeamtin und viele mehr kommen zu Wort und wenden sich direkt an ihr „Publikum“: „Wir mögen Applaus. Aber wir brauchen faire Arbeitsbedingungen“, erklärt die Krankenpflegerin. „Wir sind immer für dich da. Nicht nur, wenn es brennt“, sagt die Feuerwehrfrau. Und der Kommunalbeamte weiß: „Im öffentlichen Dienst wirst du weder reich noch berühmt. Aber alle wollen was von dir.“ Seit 29. August 2022 sind die Motive als digitale Anzeigen online und in den sozialen Medien Twitter, Facebook und Instagram zu sehen, im Laufe des Jahres wird Außenwerbung auf Großflächenplakaten und Infoscreens hinzukommen. „Rückendeckung für den öffentlichen Dienst“ „Der dbb macht mit seinen neuen Testimonials deutlich, wo er als gewerkschaftlicher Dachverband steht: fest an der Seite der Kolleginnen und Kollegen, die Tag für Tag und oft auch Nacht für Nacht dafür sorgen, dass Deutschland funktioniert“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach zum Kampagnen-Kick-off am 29. August 2022 in Berlin. „Nach mehr als zweieinhalb Jahren Coronapandemie und Jahrzehnten des strukturellen Personalmangels ist es an der Zeit, dem öffentlichen Dienst sichtbar Rückendeckung zu geben, und 8 AKTUELL dbb magazin | September 2022

Wir sorgen fur Sicherheit. Weil Freiheit auch Grenzen braucht. .. Katharina C. Zollbeamtin dbb: wir. für euch. dieser Appell richtet sich an die Politik und die Gesellschaft gleichermaßen“, betonte Silberbach. „Die Menschen im Staatsdienst und in der systemrelevanten Infrastruktur können und wollen modern, digital und agil arbeiten, wollen den Menschen und der Wirtschaft gute Dienste leisten. Aber sie sind zu wenige und die Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, reichen bei Weitem nicht aus, um anstehende Herausforderungen wie den Klima- und demografischen Wandel nachhaltig meistern zu können. Es braucht eine Innovations- und Investitionsoffensive für den öffentlichen Dienst und davon profitieren letztendlich auch das ganze Land und die Menschen, die hier leben“, so der dbb Bundesvorsitzende. „,wir. für euch.‘ ist die verbindende Formel, die zum gemeinsamen Motto werden muss, wenn wir den öffentlichen Dienst zukunftsfest aufstellen wollen.“ ■ Alle Motive der neuen dbb Imagekampagne und die „Social-Media-Toolbox“ zum Selber-aktiv-Werden unter: www.dbb.de/ wir-fuer-euch Webtipp Sandy D. Straßenwärterin Wir verlierEn niedENkontaKt zur StraSsE. dbb: wir. für euch. © jensruessmann AKTUELL 9 dbb magazin | September 2022

NACHRICHTEN Gesetzliche Krankenkassen Finanzierung soll stabilisiert werden Die Coronapandemie hat die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) finanziell hart getroffen. Bei den derzeit geplanten Stabilisierungsmaßnahmen ist aber Vorsicht geboten. Ein entsprechender Gesetzentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) sieht ein ganzes Bündel von Maßnahmen vor, um die Sonderbelastungen durch Corona abzufedern. „Die GKV jetzt zu stabilisieren, ist unumgänglich. Wir hätten uns allerdings endlich ein nachhaltiges Konzept gewünscht, das stärker auf Prävention setzt. So werden einmal mehr nur Löcher in der Finanzierung gestopft“, so der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach anlässlich der Verbändeanhörung am 13. Juli 2022. Grundsätzlich richtig sei aber der mit dem Gesetzentwurf verfolgte Ansatz, die Kosten durch die Coronapandemie solidarisch auf möglichst viele Schultern zu verteilen, erklärte der dbb Chef. Daher trage man auch die Erhöhung des Bundeszuschusses an die GKV sowie die Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitrages für die Versicherten mit, obwohl „gerade in Zeiten hoher Inflationsraten so eine Steigerung der Sozialabgaben und Lohnnebenkosten viele Leute hart trifft“. Darüber hinaus fordere der dbb daher eine Absenkung des Mehrwertsteuersatzes auf Arzneimittel, um das System insgesamt zu entlasten. „Dass bei der Finanzierung der Coronalasten auch die Pharmaindustrie mit ins Boot geholt werden soll, begrüßen wir ausdrücklich. Wir fordern das seit Jahren, denn gerade bei den Hochpreisarzneien gibt es Einsparpotenzial“, betonte Silberbach. „Die jetzt geplanten Regelungen, wie beispielsweise ein Solidarbeitrag in Höhe von einer Milliarde Euro, müssen allerdings auch vor dem Hintergrund der Versorgungssicherheit betrachtet werden. Ohne die Arzneimittelhersteller schützen zu wollen: Wir müssen uns fragen, ob solche Zusatzbelastungen die Unternehmen nicht eher animieren, weitere Teile der Produktion in Drittstaaten zu verlagern. Das eigentliche Ziel, im Bereich der Arzneimittel und Medizinprodukte unabhängiger von Importen zu werden, könnte dadurch gefährdet werden.“ ■ Foto: Colourbox.de Tarifvertrag zur Entlastung und neues Tarifrecht Für die sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen gibt es zukünftig einen Tarifvertrag zur Entlastung. Sie werden aber nicht mehr Mitglied der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) sein. „Wir als dbb hätten diese Schwächung des Flächentarifs gerne verhindert“, erläuterte dbb Tarifchef Volker Geyer am 24. August 2022 nach intensivem Austausch mit den Arbeitgebenden. „Aber die TdL hat völlig verlernt, auf aktuelle Problemlagen einzugehen und über das drängende Thema Entlastung zu verhandeln. Vor diesem Hintergrund bleibt der Austritt der Kliniken bedauerlich, muss aber jetzt zumWohle der Beschäftigten und der Patientinnen und Patienten gestaltet werden. Außerdem benötigen wir rasch eine neue tarifliche Anbindung der Kolleginnen und Kollegen, für die bisher der TV-L galt. In einem Eckpunktepapier mit den Arbeitgebenden haben wir daher vereinbart, dass die von der TdL abgeschlossenen Tarifverträge weiterhin Anwendung finden. Somit ist unter anderem sichergestellt, dass die Beschäftigten der Unikliniken in Nordrhein-Westfalen weiterhin Anspruch auf eine betriebliche Altersversorgung haben.“ Der dbb sei immer für die Stärkung des Flächentarifs, erklärte Geyer. „Allerdings reicht es nicht, wenn nur die Gewerkschaften die Fahne des Flächentarifs hochhalten und die TdL sich nur darin gefällt, zu allen Vorschlägen und Notwendigkeiten NEIN zu sagen“, führte Geyer weiter aus. „Dann muss es eben anders gehen. Und das tut es jetzt in Nordrhein-Westfalen. Für den Tarifvertrag zur Entlastung und die Anerkennung der TdL-Tarifverträge haben wir jetzt ein Eckpunktepapier mit den Arbeitgebenden verfasst. Wir als dbb werden nun dafür sorgen, dass daraus ein guter Tarifvertrag wird.“ Unikliniken in NRW 10 AKTUELL dbb magazin | September 2022

ZOOM Ausgewählte wissenschaftliche Quellen zum Lehrkräftemangel Zu wenig, zu langsam – zu spät? Der Lehrkräftemangel und die damit verbundenen Einschnitte in die Bildungsqualität und -gerechtigkeit resultieren aus einer Politik, die sich jahrelang auf unseriöse Bedarfsprognosen gestützt und im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich in Bildung investiert hat. Eine Auswahl fundierter wissenschaftlicher Quellen belegt anschaulich die fehlgeleitete Politik, die Überlastung des Personals und den dringenden Handlungsbedarf. Zusammengestellt von Jan Oliver Schmidt Lehrkräfte müssen bis 2030 eingestellt werden. Lehrkräfteeinstellungsbedarf Lehrkräfteangebot Lehrkräftemangel Lehrkräfte werden bis 2030 neu ausgebildet. Lehrkräfte werden bis 2030 fehlen 362.690 349.000 rd. 14.000 Entwicklung des Lehrkräftebedarfs und -angebots bis 20301: Prognose der Kultusministerkonferenz (KMK) Das Deutsche Schulbarometer hat basierend auf einer bundesweit repräsentativen Stichprobe von 1.017 Lehrkräften nach der Arbeitsbelastung der Lehrkräfte gefragt2: sind häufig oder sogar täglich erschöpft. arbeiten häufig am Wochenende. schätzen ihre Arbeitsbelastung als hoch oder sehr hoch ein. Zwei Drittel der Lehrkräfte 79 Prozent der Lehrkräfte 84 Prozent der Lehrkräfte (1) Klemm, Klaus (2022): Entwicklung von Lehrkräfteangebot und -bedarf in Deutschland bis 2030, Expertise, https://www.vbe.de/fileadmin/user_upload/VBE/Service/Meinungsumfragen/22-02-02_Expertise-Lehrkraeftebedarf-Klemm_-_final.pdf [11.08.2022]. (2) Robert Bosch Stiftung (2022): Das Deutsche Schulbarometer, Aktuelle Herausforderungen der Schulen aus Sicht der Lehrkräfte, S. 11 ff. https://www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/documents/2022-06/RBS_DIN%20A4%20hoch_SCHULBAROMETER%20220608_RZ_V1.pdf [11.08.2022]. 12 FOKUS dbb magazin | September 2022

Lehrkräfte müssen bis 2030 eingestellt werden, wenn keine schulpolitischen Vorhaben berücksichtigt werden. Gesamtausgaben für Bildungseinrichtungen als Prozentsatz des BIP Lehrkräfte werden bis 2030 neu ausgebildet. Lehrkräfte werden bis 2030 fehlen. 367.147 286.000 rd. 81.000 Prognose des Bildungsforschers Prof. i. R. Dr. Klaus Klemm Deutschlands Ausgabenanteil für Bildungseinrichtungen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, lag 2018 unter dem OECD-Durchschnitt3: in Deutschland Stellen für die Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter ab 2025* Stellen für die Unterstützung von Kindern in herausfordernden sozialen Lagen* Stellen, um dem Anspruch an den Inklusionsunterricht gerecht zu werden** OECD-Durchschnitt in Finnland (drittplatziertes OECD-Land in der PISA-Studie 2018) 4,3 Prozent 18.400 24.700 25.600 4,9 Prozent 5,1 Prozent * Vorhaben des Koalitionsvertrages der Regierungskoalition: > Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter ab 2025 > Einführung des „Startchancen“-Programms, welches die Stärkung von 4.000 allgemein- und berufsbildenden Schulen mit einem besonders hohen Anteil von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern vorsieht. ** Da die Zuweisung der Lehrkräftestellen für die inklusiv zu unterrichtenden Schülerinnen und Schüler nicht auf transparenten Werten erfolgt, wurde der Bedarf basierend auf einer Abwägung der drei derzeit diskutierten Modalitäten errechnet. (3) OECD, wbv (2021): Bildung auf einen Blick 2021, OECD-Indikatoren, S. 299, https://www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2021/210916-oecd-bericht-bildung-auf-einen-blick.pdf?__blob=publicationFile&v=5 [11.08.2022]. > Basierend auf der unrealistischen Annahme, dass bereits angekündigte, schulpolitische Maßnahmen keinen weiteren Lehrkräftebedarf voraussetzen, können die Annahmen der KMK zum Lehrkräfteeinstellungsbedarf als belastbar eingeschätzt werden. > Die Prognose der KMK geht von einem deutlich höheren Lehrkräfteangebot aus, beruht jedoch auf teilweise für mehrere Jahre konstanten Angebotszahlen, die als höchst unseriös eingeschätzt werden. Diese Zahlen variieren normalerweise, da sie von der Anzahl der Absolventen mit allgemeiner Hochschulreife, der Zahl der Lehramtsstudierenden und deren Erfolgsquote beeinflusst werden. > Prognose des Bildungsforschers Prof. i. R. Dr. Klemm übersteigt die Prognose der KMK um 480 Prozent. > Betrachtet man den zusätzlichen Stellenbedarf für Lehrkräfte für bereits beschlossene, schulpolitische Maßnahmen, wird die Dringlichkeit der Lage und der akute Handlungsbedarf erneut deutlich. Foto: ivosar/Colourbox.de FOKUS 13 dbb magazin | September 2022

INTERVIEW Christian Piwarz, Sächsischer Staatsminister für Kultus Wir locken Referendare aufs Land Auch im Freistaat Sachsen sind schnelles Internet und WLAN noch nicht bis in jedes Klassenzimmer vorgedrungen. Warum dauert die Digitalisierung trotz DigitalPakt so lange? Sachsen ist im Ländervergleich bei der Umsetzung des DigitalPaktes mit einer Mittelbindung von 99,5 Prozent führend. Nahezu alle Schulträger haben mit der Umsetzung der Maßnahmen begonnen. 95 Schulträger haben ihre Investitionen bereits vollständig abgeschlossen. Die angespannte Marktsituation auf diesem Gebiet führt aber zu Verzögerungen. Insbesondere die Baumaßnahmen benötigen ihre Zeit. Um das schnelle Internet an alle Schulen zu bringen, arbeiten wir mit dem Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit zusammen, um in unterversorgten Bereichen eine Einzelanbindung noch bis Ende 2025 zu ermöglichen. Der Freistaat Sachsen stellt hierfür 21,6 Millionen Euro bereit. Auch hier handelt es sich um komplexe Baumaßnahmen, die nicht innerhalb weniger Wochen umsetzbar sind. Digitalisierung von Schulen und digitales Lernen sind zwei verschiedene Dinge. Was tut der Freistaat Sachsen, um seine Lehrkräfte für die digitale Zukunft zu rüsten? Digitalisierung und die Technik an Schulen führen nicht automatisch zu einer besseren Bildung. Wissenschaftliche Studien beweisen, die Technik muss der Pädagogik folgen und nicht umgekehrt. Engagierte, gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer bleiben der wichtigste Faktor für den Lernerfolg. Deshalb müssen wir unsere Lehrkräfte auf diesemWeg mitnehmen. Wir bieten umfangreiche Fortbildungen dazu an. Auch Pädagogen, die hier ganz am Anfang stehen, wollen wir niederschwellig an digitale Medien heranführen. Bei den Junglehrern ist die Medienbildung bereits ein Bestandteil ihrer Ausbildung. Grundlage für den gelebten digitalen Unterricht bilden die individuellen Medienkonzepte der Schulen. Diese werden mit Unterstützung der Medienpädagogischen Zentren und dem Landesamt für Schule und Bildung stetig weiterentwickelt. Spätestens bis zum Ende der Laufzeit des DigitalPaktes Schule, Ende 2024, sollen an jeder Schule selbstverständlich digitale Medien im Unterricht pädagogisch sinnvoll eingesetzt werden. Ein DigitalPakt 2.0 muss sich auf die „Ewigkeitskosten“ konzentrieren. Erforderlich ist eine dauerhafte Unterstützung von Ländern und Kommunen für die Folgekosten der Digitalisierung an Schulen. Christian Piwarz © ronaldbonss.com 14 FOKUS dbb magazin | September 2022

Welche Anforderungen stellen Sie an den DigitalPakt 2.0? Allein aus der Ausstattung aller Schulen mit Endgeräten ergibt sich in Sachsen für die Jahre ab 2025 ein Mehrbedarf für Wartung, Support und Ersatzbeschaffung im Umfang von bis zu 50 Millionen Euro pro Jahr. Da sind die Aufwendungen der Schulträger für die digitale Grundinfrastruktur (LAN, WLAN, Server) oder die Kosten für zentrale digitale Dienste wie Lernplattformen und ID-Managementsysteme noch gar nicht mit drin. Vor dieser Herausforderung stehen alle Länder. Ein DigitalPakt 2.0 muss sich auf diese „Ewigkeitskosten“ konzentrieren. Erforderlich ist eine dauerhafte Unterstützung von Ländern und Kommunen für die Folgekosten der Digitalisierung an Schulen. Dauerhafte Mehraufwendungen müssen im DigitalPakt 2.0 dauerhaften Finanzierungsinstrumenten gegenübergestellt werden. Unabhängig von der inhaltlichen Ausgestaltung sollte das Verwaltungsverfahren zwischen Bund und Ländern überprüft und gegebenenfalls vereinfacht werden, um die knappen Personalressourcen auf beiden Seiten zu schonen. Die Bewältigung der Pandemie und die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine treffen auf eine äußerst knappe Personaldecke an den Schulen. Wie möchten Sie langfristig eine bedarfsgerechte Lehrerversorgung der Schulen im Freistaat Sachsen gewährleisten, besonders auch mit Blick auf den ländlichen Raum? Zur Bekämpfung des Lehrermangels haben wir 2018 ein 1,7 Milliarden Euro umfassendes Handlungsprogramm aufgelegt. Dazu gehören unter anderem die Verbeamtung der Lehrkräfte und die Erhöhung der Studienplätze von ursprünglich 1000 auf 2700. Zudem locken wir mit einer Gehaltszulage von rund 1000 Euro Referendare aufs Land, wenn sich die Nachwuchslehrkräfte im Gegenzug verpflichten, nach ihrer Lehramtsausbildung für einige Jahre in Bedarfsregionen tätig zu sein. Damit sind sie deutschlandweit die bestbezahltesten Referendare. Auch die Einstellung von Seiteneinsteigern hilft uns bei der Unterrichtsversorgung. Mit einer neuen Lehrerwerbekampagne versuchen wir für den Lehrerberuf zu begeistern, denn wir müssen konsequent bei jungen Menschen für den Lehrerberuf werben – quasi als tagtägliche Arbeit. In Sachsen studieren 18 Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten Lehramt. In ganz Deutschland sind es rund zehn Prozent. Die Grenzen sind also schon so gut wie ausgereizt. Wir müssen es nun schaffen, gemeinsammit den Universitäten die MINT-Fächer attraktiver zu machen. Parallel müssen die ländlichen Regionen Sachsens attraktiver werden, um Nachwuchslehrkräfte aus den Ballungszentren Leipzig und Dresden zu locken. Wir werben immer wieder mit den Pluspunkten von Schulen im ländlichen Raum: kleinere Klassen, top ausgestattete Schulen, weniger heterogene Schülerschaft. Aber auch die Regionen müssen Aktivitäten entfalten. Um die Bildungsqualität an den Schulen zu gewährleisten, muss der Quer- und Seiteneinstieg mit umfangreichen Qualifizierungsmaßnahmen einhergehen. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Qualifizierungsprogramm BQL der TU Dresden gemacht? Bereits seit 2016 haben wir in Zusammenarbeit mit allen drei lehrerbildenden Hochschulen in Chemnitz, Leipzig und Dresden ein umfangreiches Qualifizierungsmodell für Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger in den sächsischen Schuldienst entwickelt. Die Angebote aller Hochschulen sind an die Anforderungen der grundständigen Ausbildung und an die Bedarfsfächer angelehnt. Die berufsbegleitende Qualifizierung von Lehrkräften sowie Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern durch die TU Dresden erfolgt seit 2017. Die Maßnahmen werden mit sehr guten Ergebnissen evaluiert, sodass das Programm auch national inzwischen Aufmerksamkeit und Anerkennung erreicht hat. Mit dem Programm BQL haben die Universitäten innovative und qualitative Bedingungen für alternative Wege in den Lehrberuf geschaffen. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur zusätzlichen Lehrergewinnung. Die Sommerwelle rollt unaufhaltsam, die pandemische Entwicklung ist ungewiss. Wie gut sind Sachsens Schulen für den dritten Pandemiewinter gerüstet? Wir starten ganz normal in das neue Schuljahr. Der Schulbetrieb wird ohne Einschränkungen stattfinden. Es gibt aber einen Basisschutz für den Herbst, nicht nur für Corona, sondern auch für andere Atemwegserkrankungen: Hygieneregeln, CO2-Ampeln, Lüften, Abstand. Hier folgen wir dem Expertenrat der Bundesregierung und dem Bundesverband der Kinderärzte. Natürlich werden wir das Infektionsgeschehen an Schulen weiter sorgsam verfolgen. Sollte sich das Pandemiegeschehen im Herbst erneut verstärken, wird mit Augenmaß und nach Abwägung aller zu berücksichtigenden pädagogischen und infektiologischen Gesichtspunkte über weitere Schutzmaßnahmen entschieden. Wir werden aber in den Schulen keine Maßnahmen einführen, die nicht auch in der Gesamtgesellschaft Anwendung finden. Schülerinnen und Schüler dürfen nicht mehr Einschränkungen unterliegen als Erwachsene. Die sächsische Staatsregierung bekennt sich zum gegliederten Schulsystem. Welche Gründe sprechen aus Ihrer Sicht dafür? Für uns zählt jeder Schüler. Und jeder Schüler ist individuell und braucht daher unterschiedliche Angebote. Bildungsgerechtigkeit basiert auf Vielfalt und nicht auf „Gleichmacherei“ im Sinne einer Einheitsschule. Ein gegliedertes Schulsystem ermöglicht flexible Bildungswege. Nicht „eine Schule für alle“, sondern die richtige Schule für jeden führen zum individuellen Lernerfolg. Dabei spielt für uns die Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit des gegliederten Schulsystems eine große Rolle. Sackgassen darf es nicht geben. Weder das Gymnasium noch die Ober- oder Förderschule sind Einbahnstraßen. ■ Bildungsgerechtigkeit basiert auf Vielfalt und nicht auf „Gleichmacherei“ im Sinne einer Einheitsschule. Ein gegliedertes Schulsystem ermöglicht flexible Bildungswege. FOKUS 15 dbb magazin | September 2022

STANDPUNKT Schulen Lehrkräftemangel darf nicht zur Deprofessionalisierung führen Die dbb Lehrerverbände haben die Politik seit langer Zeit auf den bedrohlichen Lehrkräftemangel hingewiesen. Er lässt sich mittlerweile studienübergreifend mit eindrücklichen Ergebnissen belegen. Unser Bildungssystem und alle daran Beteiligten leiden unter dem Lehrkräftemangel, der seit langer Zeit die drängendste Herausforderung an unseren Schulen darstellt. Zu lange hat sich die Politik diesem Problem verschlossen, was sich immer mehr rächt. Auch jetzt ist keine langfristige Strategie in Sicht, das Problem des wiederkehrenden „Schweinezyklus“ zu lösen, obwohl wir dbb Lehrerverbände längst langfristige Lösungen dargestellt haben. Bundesweit zeugen Unterrichtsausfall, ein verringertes Unterrichtsangebot, eine besorgniserregende Belastung der Lehrkräfte sowie gravierende Folgen für die Bildungsqualität und -gerechtigkeit von dem eklatanten Mangel. Zusammen mit den weiteren Herausforderungen des Schulalltags, wie unter anderem der andauernden pandemischen Lage und der von der Kultusministerkonferenz prognostizierten Aufnahme von bis zu 400000 geflüchteten Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine, führt dies zu einer massiven Überlastung des Systems. Die dbb Lehrerverbände haben die Politik seit langer Zeit auf den bedrohlichen Lehrkräftemangel hingewiesen. Er lässt sich mittlerweile studienübergreifend mit eindrücklichen Ergebnissen belegen. So stellt auch eine kürzlich vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) bei Prof. i. R. Dr. Klaus Klemm in Auftrag gegebene wissenschaftliche Studie einen Lehrkräftemangel bis 2030 von mindestens 81000 fest. Mit diesem Ergebnis übertrifft die Studie die Prognosen der Kultusministerkonferenz (KMK) um nahezu 500 Prozent und offenbart die tatsächliche Dringlichkeit des Problems. Nun macht Not bekanntermaßen erfinderisch. Doch die Bildungsqualität leidet zunehmend unter diesem vermeintlichen Ideenreichtum, der zugleich das hohe Maß an Verzweiflung veranschaulicht: In Berlin plant eine Schule einen späteren Unterrichtsbeginn und eine Verkürzung der Unterrichtsstunden. Eine aus unserer Sicht indiskutable Stundentafelkürzung, mit der Pflichtstunden, zum Beispiel in Mathematik und in Deutsch, für die Schülerinnen und Schüler dauerhaft gekürzt werden können, geistert durch den Berliner Senat. Im Süden der Republik schickt die baden-württembergische Landesregierung jährlich rund 4000 Lehrkräfte über die Sommerferien in die Arbeitslosigkeit und denkt wegen des Lehrkräftemangels zugleich über eine höhere Mindestarbeitszeit für Teilzeitlehrkräfte sowie eine Erhöhung des Klassenteilers nach; wohl wissend, dass kleinere Klassen nachweislich für alle Beteiligten besser sind. Auch im Nachbarbundesland Bayern führt der Lehrkräftemangel zu hitzigen Diskussionen über die Kürzung der Stundentafel und die Zusammenlegung von Schulklassen. Anderenorts soll, angeblich nicht dem Fachkräftemangel geschuldet, die Vier-Tage-Präsenzwoche für Schülerinnen und Schüler erprobt werden. Nachdem die Politik jahrelang die „Taktik des Aussitzens“ verfolgte, entwickelt die Kultusministerkonferenz (KMK) notgedrungen ein zunehmendes Problembewusstsein: Daraus folgt, dass die Model Foto: Colourbox.de 16 FOKUS dbb magazin | September 2022

Ständige Wissenschaftliche Kommission nun Empfehlungen zur Lehrkräftebildung und der Gesamtpersonalsituation an Schulen erarbeiten soll. Diese begrüßenswerte Einsicht ist eine zwingende Grundlage zur Lösung des Problems. Klar ist den Verbänden jedoch schon lange: Eine nur 100-prozentige Unterrichtsversorgung reicht selbst in „guten“ Zeiten nicht aus, um nur den regulären Unterricht abzudecken. Damit können keine Unterrichtsausfälle durch reguläre Klassenfahrten und Projekte, geschweige denn Elternzeitvertretungen kompensiert werden. Es müssen so viele Lehrkräfte eingestellt werden, dass eine 130-prozentige Unterrichtsversorgung erreicht wird. Dann kann in den Schulen das geleistet werden, was verlangt wird, zum Beispiel auch die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler. Der Fachkräftemangel lässt sich jetzt jedoch nicht von heute auf morgen lösen. Die Dauer der Lehrkräfteausbildung, die politisch gewollte Verlängerung des Studiums, eine teils alarmierende Abbruchquote und aus Kostengründen reduzierte Ausbildungskapazitäten führen dazu, dass zahlreiche Maßnahmen ihre Wirkung nur begrenzt und zeitlich verzögert entfalten werden. Aus diesem Grund greifen die Kultusministerien der Länder seit Jahren auf die Einstellungen von Quer- und Seiteneinsteigern zurück. Die Begrifflichkeit bleibt unklar, auch wenn häufig mit dem Begriff „Quereinsteiger“ Personen beschrieben werden, die bereits über einen einschlägigen Masterabschluss verfügen, aus dem sich zwei Unterrichtsfächer ableiten lassen, und die im regulären Vorbereitungsdienst für das Lehramt qualifiziert werden. Die Zahlen der KMK zeigen, dass vergangenes Jahr bundesweit fast 1300 Quereinsteiger eingestellt wurden, die 4,4 Prozent der Gesamteinstellungen ausmachten. Sogenannte Seiteneinsteiger hingegen werden ohne vorangegangenes Lehramtsstudium und ohne Vorbereitungsdienst direkt im Schuldienst eingesetzt. Ihr Anteil an den Neueinstellungen betrug im vergangenen Jahr 9,3 Prozent, wobei große länderabhängige Unterschiede bestanden. Während der Anteil in Rheinland-Pfalz mit 0,6 Prozent sehr gering war, lag er in Mecklenburg-Vorpommern bereits bei über 32 Prozent, und in Sachsen-Anhalt erfolgte nahezu jede zweite Neueinstellung durch einen Seiteneinsteiger. Das Engagement und die Motivation der Seiteneinsteiger sind zweifelsohne zu würdigen. Dass jedoch Lehrkräfte ohne pädagogische Ausbildung an unseren Schulen unterrichten können, wirft grundsätzliche Fragen auf. Die KMK hat 2013 darauf verwiesen, dass bei länderspezifischen Sondermaßnahmen für die Gewinnung von Lehrkräften ein Masterabschluss oder das Staatsexamen als Bedingung gilt. Diese Bedingung wird jedoch bereits von einigen Bundesländern unterlaufen. Zusätzlich problematisch ist, dass es bisher keine bundeseinheitlichen Vorgaben für die Qualifikation von Quer- und Seiteneinsteigern gibt. Zahlreiche, deutlich voneinander abweichende Qualifikationsanforderungen offenbaren allerdings dramatisch die Notwendigkeit klarer Vorgaben, wie die Beispiele zweier Bundesländer zeigen: In Brandenburg sollen bereits Bachelorabsolventen nach einer sogenannten Zertifikatsqualifikation unterrichten und sogar verbeamtet werden können. In Mecklenburg-Vorpommern wurde mit der Seiteneinstiegsverordnung zwar eine Aufwertung bei der Qualifikation von Seiteneinsteigern erreicht. Diese täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass man laut Lehrerbildungsgesetz in Mecklenburg-Vorpommern auch ohne (!) akademischen Abschluss als Lehrkraft eingestellt werden kann. Ansätze wie diese schaffen Lehrkräfte erster und zweiter Klasse, setzen falsche Anreize und stellen die grundständige Lehrkräfteausbildung infrage. Zudem hat der Einsatz unzureichend qualifizierter Lehrkräfte besorgniserregende Auswirkungen auf die Bildungsqualität und wird dem Anspruch bundesweiter Chancengleichheit keineswegs gerecht. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat bereits 2018 am Beispiel Berlins belegt, dass der Einsatz von nicht grundständig qualifiziertem Lehrpersonal Chancenungleichheiten verstärkt. Demnach erfolgt ihr Einsatz überproportional oft an Brennpunktschulen, also gerade dort, wo es besonders gut ausgebildeter Lehrkräfte bedarf. Angesichts des aktuellen Lehrkräftebedarfs ist der Einsatz von Quer- und Seiteneinsteigern notwendig. Dabei muss ihre vollständige (!) Lehrbefähigung jedoch stets durch umfangreiche akademische und pädagogische Nachqualifizierungsmaßnahmen sichergestellt werden. Eine Möglichkeit, die Potenziale von Lehrkräften ohne Lehramtsabschluss zu entfalten, zeigt die „Berufsbegleitende Qualifizierung von Lehrkräften in Sachsen“ (BQL) der Technischen Universität Dresden. Sie adressiert Seiteneinsteiger, denen die wesentlichen Inhalte des Lehramtsstudiums fehlen, die aber bereits im Schuldienst tätig sind. Ihnen wird ermöglicht, im Rahmen einer 24- beziehungsweise 30-monatigen wissenschaftlichen und berufsbegleitenden Weiterbildung eine gleichwertige Qualifikation zu erlangen und ein Referendariat zu absolvieren – so wie alle anderen zukünftigen Lehrkräfte auch. Die enge wissenschaftliche Evaluation des Programms, das in Dresden seit 2017 nahezu 500 Lehrkräfte hervorgebracht hat, belegt dessen Erfolg. Angesichts des Erfolgs bestehender und wissenschaftlich fundierter Programme stellt sich einmal mehr die Frage, warum die Kultusministerkonferenz so säumig ist, endlich bundesweite Standards für die Nachqualifikation von Akademikern ohne Lehramtsabschluss festzulegen. Eine enge Kooperation mit den Universitäten, die mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet werden müssen, muss dabei gewährleistet sein. Nur mit bestens ausgebildeten Lehrkräften werden wir den Ansprüchen an die Bildungsgerechtigkeit und -qualität gerecht – dafür steht die Politik kurz- und langfristig in der Pflicht. Susanne Lin-Klitzing Die KMK hat 2013 darauf verwiesen, dass bei länderspezifischen Sondermaßnahmen für die Gewinnung von Lehrkräften ein Masterabschluss oder das Staatsexamen als Bedingung gelten. Diese Bedingung wird jedoch bereits von einigen Bundesländern unterlaufen. Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing ist Vorsitzende der dbb Fachkommission Schule, Bildung, Wissenschaft sowie Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes (DPhV). Die Autorin FOKUS 17 dbb magazin | September 2022

REPORTAGE Digitale Schule Die Fläche des Maschsees Die Digitalisierung an Schulen schreitet voran, wenn auch nicht im überall gleichen Tempo. Die Vorzüge des Analogen, aber auch, dass Latein gut digital geht, zeigen sich an einem Schultag am Gymnasium Ernestinum in Celle. Die Schülerinnen und Schüler müssen teilweise mit ihren Tablets auf den Flur gehen, damit sich die Geräte wieder im Netz anmelden“, erzählt Schulleiter Johannes Habekost. Das liegt an den nicht tragenden Trennwänden aus Blechelementen, die es erschweren, eine durchgängige Netzstabilität im gesamten Gebäude zu erreichen. WLAN in allen Räumen gibt es noch nicht. Und dennoch: „In jedem Klassenzimmer ist irgendetwas möglich“, sagt der Leiter des Gymnasiums Ernestinum in Celle weiter; sei es mit Tablets, einem sogenannten Smartboard oder einemMedienwagen mit Computer und Beamer. „Das Gebäude zeichnet sich besonders durch die weiten Laufwege aus“, sagt Lehrer Hans-Ulrich Wessel, der uns durch den Tag begleitet. Die Schule wurde 1978 bezogen und sieht aus wie viele in westdeutschen Städten aus dieser Zeit. Gemäßigter Brutalismus heißt dieser Stil. Sichtbar sind Betonsäulen und farbige Fensterelemente, die Teil der Fassade sind. Tragende Wände im Innern gibt es nicht. Das Ergebnis ist eine große Weite der Gänge – und eine große Unübersichtlichkeit, wenn man das erste Mal das Gymnasium Ernestinum in Celle betritt. Die Schule teilt sich das Gebäude mit der Integrierten Gesamtschule (IGS) Celle. Die baulichen Voraussetzungen sind damit dieselben, von denen auch das Ernestimun profitiert. Die IGS ist ein Leuchtturmprojekt, verfügt über Tablets in allen Klassen, die Eltern über ein Mietmodell finanzieren. Der Schulträger, der Landkreis Celle, hatte bei den Digitalisierungsvorhaben eine Priorität auf Gebäude gelegt, die ohnehin saniert oder neu gebaut wurden, und da waren andere Gymnasien und Oberschulen mit Neubauten zuerst am Zuge. Habekost wünscht sich eine zeitgemäße Ausstattung seiner Schule, steht aber auch manchen Auswirkungen der Digitalisierung kritisch gegenüber. „Wenn die Politik meint, alles wird gut, wenn man nur in alle Schulen ausreichend Endgeräte wirft, ist das ein Irrglaube“, sagt er. „Wie lernen die Kinder Lesen und Schreiben? Was könnt ihr noch, wenn der Strom ausfällt?“, möchte Habekost manche SchülerInnen fragen. Habekost ist von Hause aus Lehrer für Latein, evangelischen Religionsunterricht und Geschichte. Seit neun Jahren leitet er das im Jahr 1328 als Lateinschule gegründete Gymnasiummit altsprachlichem Zweig. Auf die Frage, wie seine stellenweise digitalisierungskritische Sicht mit seiner Kritik an Mängeln der digitalen Ausstattung zusammenpasse, sagt er: „Es geht immer darum, dass wir uns fragen, wie wir die begrenzte Ressource Unterrichtszeit möglichst effektiv nutzen. Wenn ich nur ein Wort anschreiben will, ist die Tafel das richtige Instrument. Da muss ich nicht „Wenn die Politik meint, alles wird gut, wenn man nur in alle Schulen ausreichend Endgeräte wirft, ist das ein Irrglaube.“ Johannes Habekost 18 FOKUS dbb magazin | September 2022

erst ein Betriebssystem hochfahren, das sich noch minutenlang aktualisieren muss.“ Wenn es aber darum gehe, beispielsweise im Lateinunterricht die verschachtelte Grammatik eines Satzes zu verdeutlichen, „ist es unglaublich hilfreich, wenn man die Satzteile auf dem Smartboard oder Tablet hin- und herschieben kann, um so die Struktur zu zeigen“. Die grundsätzliche Frage nach „Digitalisierung ja oder nein“ sei im Übrigen unterkomplex, „weil das längst entschieden ist“, sagt Habekost. Die Vielfalt der Möglichkeiten sei „unglaublich bereichernd“, aber längst nicht alles, was ginge, geht auch. „Der Mix aus analog und digital funktioniert am Besten“, ist sich Habekost sicher. Erste Stunde Mathe Wie das konkret aussehen kann, erfahren wir in der ersten Stunde: Die 7b hat Mathe bei Paul Bauer. 17 SchülerInnen sitzen mit Masken über Mund und Nase im Klassenraum. Beim schnellen Gang vom Lehrerzimmer hierher, vorbei an Sitzecken, Räumen, digitalen und papiernen Aushängetafeln, haben wir verstanden, was Wessel mit „lange Laufwege“ meinte. Im Klassenzimmer greift Paul Bauer in den oben offenen, kniehohen Rollcontainer, der neben seinem Tisch steht und aus dem an den Seiten einige Ladekabel hängen. Er teilt Tablets an die SchülerInnen aus. Am Anfang der Stunde eine Aufwärmübung: Nachdem die SchülerInnen sich in der Software angemeldet haben, wirft der Beamer die Aufgaben und später die Lösungen an die Wand. Es geht um Kopfrechenaufgaben und einfache Flächenberechnungen. Im Multiple-Choice-Verfahren wählen die SchülerInnen ihre Antworten aus, an der Wand ist mit Ende jeder Aufgabe zu sehen, wer am schnellsten die richtige Lösung angetippt hat. Am Ende gewinnt der oder die mit den meisten Punkten. Die SchülerInnen sind hellwach, konzentriert, scherzen miteinander herum, kommunizieren. Dann kommt die Hauptaufgabe des Tages: Paul Bauer verteilt Ausdrucke mit dem Umriss des Maschsees, einem künstlich angelegten See im Zentrum der Landeshauptstadt Hannover. Die SchülerInnen sollen mit Lineal, Geodreieck und Bleistift die Fläche des Sees ausrechnen. Bauer teilt die Klasse in mehrere Arbeitsgruppen. „Drückt bitte doll genug auf“, sagt Bauer. An der Wand soll man das auch lesen können. Wir sind beeindruckt: Die Arbeitsgruppe, die direkt neben uns sitzt, wechselt spontan die Sprache, eine Schülerin kommt aus der Ukraine und lernt gerade Deutsch. In fließendem Englisch unterhalten sich die drei Siebtklässlerinnen und lösen die Aufgabe. Nachdem die vorgegebenen zehn Minuten abgelaufen sind, geht Bauer herum, fotografiert die Blätter der einzelnen Gruppen und wirft die Bilder mit den Lösungsvorschlägen über den Beamer an die Wand. Möglich sind mehrere Lösungen: Eine Gruppe hat die Fläche in lange Streifen geschnitten und diese einzeln berechnet, andere haben den See in drei große und mehrere kleine Rechtecke zerlegt. „Wer möchte nach vorne kommen und seine Lösung erklären?“, fragt der Lehrer, mehrere Hände gehen nach oben. Die Lösung der Aufgabe ist analoges Handwerk, das die SchülerInnen mit Geodreieck und Bleistift seit Generationen nicht anders lernen. Die Ergebnisse werden an die Wand projiziert, kollektiv diskutiert und sind für alle transparent. Diese Art der Auswertung mit digitalen Hilfsmitteln scheint kommunikativer und lehrreicher, als wenn der Lehrer einfach einsammelt, korrigiert und die Aufgabe zurückgibt. Und dann ist die Stunde vorbei. Kleine Pause im Lehrerzimmer Das Büro des Schulleiters, Verwaltungsbüros und das Lehrerzimmer liegen hintereinander an einem Flur. Als wir an dessen Ende durch die Tür gehen, ist nicht sofort ersichtlich, was sich dahinter für ein großer Raum verbirgt. Ein knappes Dutzend große Gruppentische stehen darin, Wände mit abschließbaren Spinden und den Postfächern der Kollegiumsmitglieder, Ablagen mit Obst, Getränken, Menschen gehen ein und aus, greifen sich etwas aus ihrer Tasche oder ihrem Fach, setzen sich kurz hin. Der Raum ist so groß und der Schall so gedämpft, dass man sich hinsetzen und alleine sein kann, auch wenn noch ein Dutzend KollegInnen im Raum sind. Schulleiter Johannes Habekost gewinnt der digitalen und der analogen Welt Positives ab. ... steht er der Klasse auch mit analogen Rechentipps zur Seite. NachdemMathelehrer Paul Bauer Tablets an die SchülerInnen der 7b ausgeteilt hat ... 20 FOKUS dbb magazin | September 2022

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