dbb magazin 9/2022

Ständige Wissenschaftliche Kommission nun Empfehlungen zur Lehrkräftebildung und der Gesamtpersonalsituation an Schulen erarbeiten soll. Diese begrüßenswerte Einsicht ist eine zwingende Grundlage zur Lösung des Problems. Klar ist den Verbänden jedoch schon lange: Eine nur 100-prozentige Unterrichtsversorgung reicht selbst in „guten“ Zeiten nicht aus, um nur den regulären Unterricht abzudecken. Damit können keine Unterrichtsausfälle durch reguläre Klassenfahrten und Projekte, geschweige denn Elternzeitvertretungen kompensiert werden. Es müssen so viele Lehrkräfte eingestellt werden, dass eine 130-prozentige Unterrichtsversorgung erreicht wird. Dann kann in den Schulen das geleistet werden, was verlangt wird, zum Beispiel auch die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler. Der Fachkräftemangel lässt sich jetzt jedoch nicht von heute auf morgen lösen. Die Dauer der Lehrkräfteausbildung, die politisch gewollte Verlängerung des Studiums, eine teils alarmierende Abbruchquote und aus Kostengründen reduzierte Ausbildungskapazitäten führen dazu, dass zahlreiche Maßnahmen ihre Wirkung nur begrenzt und zeitlich verzögert entfalten werden. Aus diesem Grund greifen die Kultusministerien der Länder seit Jahren auf die Einstellungen von Quer- und Seiteneinsteigern zurück. Die Begrifflichkeit bleibt unklar, auch wenn häufig mit dem Begriff „Quereinsteiger“ Personen beschrieben werden, die bereits über einen einschlägigen Masterabschluss verfügen, aus dem sich zwei Unterrichtsfächer ableiten lassen, und die im regulären Vorbereitungsdienst für das Lehramt qualifiziert werden. Die Zahlen der KMK zeigen, dass vergangenes Jahr bundesweit fast 1300 Quereinsteiger eingestellt wurden, die 4,4 Prozent der Gesamteinstellungen ausmachten. Sogenannte Seiteneinsteiger hingegen werden ohne vorangegangenes Lehramtsstudium und ohne Vorbereitungsdienst direkt im Schuldienst eingesetzt. Ihr Anteil an den Neueinstellungen betrug im vergangenen Jahr 9,3 Prozent, wobei große länderabhängige Unterschiede bestanden. Während der Anteil in Rheinland-Pfalz mit 0,6 Prozent sehr gering war, lag er in Mecklenburg-Vorpommern bereits bei über 32 Prozent, und in Sachsen-Anhalt erfolgte nahezu jede zweite Neueinstellung durch einen Seiteneinsteiger. Das Engagement und die Motivation der Seiteneinsteiger sind zweifelsohne zu würdigen. Dass jedoch Lehrkräfte ohne pädagogische Ausbildung an unseren Schulen unterrichten können, wirft grundsätzliche Fragen auf. Die KMK hat 2013 darauf verwiesen, dass bei länderspezifischen Sondermaßnahmen für die Gewinnung von Lehrkräften ein Masterabschluss oder das Staatsexamen als Bedingung gilt. Diese Bedingung wird jedoch bereits von einigen Bundesländern unterlaufen. Zusätzlich problematisch ist, dass es bisher keine bundeseinheitlichen Vorgaben für die Qualifikation von Quer- und Seiteneinsteigern gibt. Zahlreiche, deutlich voneinander abweichende Qualifikationsanforderungen offenbaren allerdings dramatisch die Notwendigkeit klarer Vorgaben, wie die Beispiele zweier Bundesländer zeigen: In Brandenburg sollen bereits Bachelorabsolventen nach einer sogenannten Zertifikatsqualifikation unterrichten und sogar verbeamtet werden können. In Mecklenburg-Vorpommern wurde mit der Seiteneinstiegsverordnung zwar eine Aufwertung bei der Qualifikation von Seiteneinsteigern erreicht. Diese täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass man laut Lehrerbildungsgesetz in Mecklenburg-Vorpommern auch ohne (!) akademischen Abschluss als Lehrkraft eingestellt werden kann. Ansätze wie diese schaffen Lehrkräfte erster und zweiter Klasse, setzen falsche Anreize und stellen die grundständige Lehrkräfteausbildung infrage. Zudem hat der Einsatz unzureichend qualifizierter Lehrkräfte besorgniserregende Auswirkungen auf die Bildungsqualität und wird dem Anspruch bundesweiter Chancengleichheit keineswegs gerecht. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat bereits 2018 am Beispiel Berlins belegt, dass der Einsatz von nicht grundständig qualifiziertem Lehrpersonal Chancenungleichheiten verstärkt. Demnach erfolgt ihr Einsatz überproportional oft an Brennpunktschulen, also gerade dort, wo es besonders gut ausgebildeter Lehrkräfte bedarf. Angesichts des aktuellen Lehrkräftebedarfs ist der Einsatz von Quer- und Seiteneinsteigern notwendig. Dabei muss ihre vollständige (!) Lehrbefähigung jedoch stets durch umfangreiche akademische und pädagogische Nachqualifizierungsmaßnahmen sichergestellt werden. Eine Möglichkeit, die Potenziale von Lehrkräften ohne Lehramtsabschluss zu entfalten, zeigt die „Berufsbegleitende Qualifizierung von Lehrkräften in Sachsen“ (BQL) der Technischen Universität Dresden. Sie adressiert Seiteneinsteiger, denen die wesentlichen Inhalte des Lehramtsstudiums fehlen, die aber bereits im Schuldienst tätig sind. Ihnen wird ermöglicht, im Rahmen einer 24- beziehungsweise 30-monatigen wissenschaftlichen und berufsbegleitenden Weiterbildung eine gleichwertige Qualifikation zu erlangen und ein Referendariat zu absolvieren – so wie alle anderen zukünftigen Lehrkräfte auch. Die enge wissenschaftliche Evaluation des Programms, das in Dresden seit 2017 nahezu 500 Lehrkräfte hervorgebracht hat, belegt dessen Erfolg. Angesichts des Erfolgs bestehender und wissenschaftlich fundierter Programme stellt sich einmal mehr die Frage, warum die Kultusministerkonferenz so säumig ist, endlich bundesweite Standards für die Nachqualifikation von Akademikern ohne Lehramtsabschluss festzulegen. Eine enge Kooperation mit den Universitäten, die mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet werden müssen, muss dabei gewährleistet sein. Nur mit bestens ausgebildeten Lehrkräften werden wir den Ansprüchen an die Bildungsgerechtigkeit und -qualität gerecht – dafür steht die Politik kurz- und langfristig in der Pflicht. Susanne Lin-Klitzing Die KMK hat 2013 darauf verwiesen, dass bei länderspezifischen Sondermaßnahmen für die Gewinnung von Lehrkräften ein Masterabschluss oder das Staatsexamen als Bedingung gelten. Diese Bedingung wird jedoch bereits von einigen Bundesländern unterlaufen. Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing ist Vorsitzende der dbb Fachkommission Schule, Bildung, Wissenschaft sowie Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes (DPhV). Die Autorin FOKUS 17 dbb magazin | September 2022

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