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Europarecht und Berufsbeamtentum sind kein Widerspruch

Der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach steht zu einem vereinten Europa mit seiner Vielfalt – auch im Dienstrecht.

Politik & Positionen

Deutschlands nationales Dienstrecht und sein Berufsbeamtentum stärken Europa und tragen zur dessen Diversität bei, stellte der dbb Chef zum Auftakt des dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST „Europarechtliche Einflüsse auf das Beamtenrecht" am 27. Juni 2022 im dbb forum berlin heraus. „Es ist kein Widerspruch, dass sich der dbb zu einem geeinten und vereinten Europa bekennt und gleichzeitig unser nationales öffentliches Dienstrecht hochhält. Beides, das Berufsbeamtentum und die europäische Staatszielbestimmung, sind in unserem Grundgesetz fest verankert", so Silberbach.

Als gewerkschaftliche Spitzenorganisation im öffentlichen Dienst gehöre es zudem zum Selbstverständnis des dbb, das Dienstrecht im Dialog mit Politik und Dienstgebenden in guter Sozialpartnerschaft verantwortungsbewusst weiterzuentwickeln. „Die Herausforderung ist dabei, die europäische Rechtsetzung und öffentliches Dienstrecht noch besser zu vereinbaren. Wir wollen, dass Ausnahmeregelungen, die zur Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstrechts hier und da gebraucht werden, auch in Zukunft erhalten bleiben", erklärte der dbb Chef. „Dabei reden wir aber nicht von weniger Schutz für die Arbeitnehmenden. Vielmehr müssen die beamtenrechtlichen Besonderheiten einfach nur besser erklärt und auf europäischer Ebene verdeutlicht werden." Da der europäische Arbeitnehmerbegriff nicht zwischen Angestellten- und Beamtenverhältnissen unterscheidet, könne es zu Normenkollisionen kommen. Um diese zu vermeiden, seien klare Ausnahmebestimmungen für den öffentlichen Dienst beziehungsweise das öffentliche Dienstrecht zu finden. Auch würden einige europäische Regelungen „schlicht nicht passen, weil zum Beispiel das Schutzniveau bei den Beamtinnen und Beamten bereits schon in anderer Art und Weise vorhanden ist".

Ein Streikrecht für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, wie es das Europäische Recht vorsieht, ist mit dem deutschen Berufsbeamtentum unvereinbar, betonte der dbb Chef. „Das wird sehr schnell klar, wenn man sich anschaut, wer die Regelungen im Tarifrecht trifft – das sind die Tarifvertragsparteien. Hier wird verhandelt und ein Vertrag geschlossen. Für die deutschen Beamtinnen und Beamten werden die Regelungen immer durch die Gesetzgeber in Bund und Ländern getroffen, also durch die frei gewählten Abgeordneten in freier Entscheidung. Das ist richtig und gut so – und soll so bleiben. Der dbb ist und bleibt deshalb hier klar und eindeutig: Ein generelles Streikrecht ist nicht mit der ausgewogenen Balance von Rechten und Pflichten des Berufsbeamtentums und dem damit einhergehenden besonderen Treueverhältnis vereinbar", unterstrich Silberbach.

Pechstein: Europa rüttelt am Streikverbot

Prof. Dr. Matthias Pechstein ist Inhaber des Jean Monet Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Europarecht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, übt die Schriftleitung bei der Zeitschrift für Beamtenrecht aus und berät und unterstützt den dbb seit Jahren als Experte.

In seinem Impulsvortrag ging er auf das Streikverbot für Beamte im europäischen Kontext ein. Pechstein betonte, dass die Versuche zu einer Etablierung eines Streikrechts auch für Berufsbeamte zunächst mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni 2018 seinen Abschluss gefunden zu haben schien. Das Verfassungsgericht habe die grundlegende Bedeutung des Streikverbots für Beamte als ein zentrales Strukturelement des deutschen Berufsbeamtentums herausgearbeitet. Die Einräumung eines Streikrechts für Beamte führe dazu, dass man das Beamtentum in seiner bisherigen Form aufgeben müsse.

„Nun haben die Beschwerdeführer allerdings den Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingeschlagen und Individualbeschwerde gegen das Urteil des Verfassungsgerichts eingelegt“, erläuterte Pechstein. Grundlage sei, dass der EGMR seit geraumer Zeit eine Rechtsprechung entwickelt habe, nach der Beamte ein Streikrecht nach Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) haben. Da es sich um Fälle in der Türkei handelte, galt hier türkisches Recht. Inwieweit dieses Streikrecht der Konvention auch für Beamte nach deutschem Recht gelte, sei bislang offen. Das Verfahren laufe seit zweieinhalb Jahren und das Urteil stehe noch aus.

Jedoch habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom Juni 2018 ausgeführt, dass selbst ein stattgebendes Urteil des EGMR auf verfassungsrechtliche Hindernisse in der Umsetzung stoßen würde. Außerdem habe das Gericht bereits früher deutlich gemacht, dass nicht jedes Urteil des EGMR eins zu eins in der deutschen Rechtsordnung umgesetzt werden könne und müsse. „So unschön es wäre, wenn die Bundesrepublik einem stattgebenden Urteil des EGMR für ein Streikrecht auch für deutsche Beamte nicht folgen würde, wäre das vermutlich das kleinere Übel im Vergleich zur Einführung des Streikrechts für Beamte“, so der Referent. Es gebe zwar viele Hürden für ein Streikrecht für deutsche Beamte. Dennoch müsse man sich auf diese Problematik vorbereiten.

Bergmann: Europas starke Einflussnahme

„Das Beamtenrecht unterliegt inzwischen mannigfachen Einflüssen. Europarechtliche Themen landen fast täglich auf meinem Tisch“, leitete Prof. Dr. Jan Bergmann, der Vorsitzende des Dienstrechtssenats am Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg und Honorarprofessor für Europarecht an der Universität Stuttgart, seinen Impulsvortag ein. Längst vorbei seien die Zeiten, in denen der Spruch „unser althergebrachtes Beamtenrecht steht, während alles andere vergeht“ noch uneingeschränkt Gültigkeit genossen habe: „Das Grundgesetzt mit seiner Garantie der althergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums ist nur noch teilweise Maßstab unserer Rechtsprechung. Das Europäische Recht steht darüber.“

Wie stark diese Einflussnahme ist, machte der aus dem VGH in Mannheim online zugeschaltete Verwaltungsrichter an einer Reihe unterhaltsam vorgetragener Beispiele deutlich. So schilderte Bergmann unter anderem das Verfahren und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) aus dem Jahre 2000, bei der eine Frau  aufgrund der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie Frauen das Recht erstritt, als Soldatin bei der Bundeswehr Dienst an der Waffe zu leisten. Auch erinnerte er an die Änderung der Besoldungspraxis mit der Ablösung der Altersbesoldung hin zur Erfahrungsbesoldung auf Basis der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie oder die aufgrund der Arbeitsschutzrahmenrichtlinie 2021 ergangene und ins deutsche Recht übertragene Rechtsprechung zur Bereitschafts-Ruhezeit, die ihm als Verwaltungsrichter eine Menge Klagen von Feuerwehrleuten und Polizisten beschert habe. „Hier hat der EuGH deutliche Pflöcke eingeschlagen.“ Das Vorabentscheidungsrecht des EuGH bringe die deutsche Gerichtsbarkeit dazu „das Recht so auszulegen, dass wir Beamtinnen und Beamte, Richterinnen und Richter erfahren, dass wir in Europa leben dürfen“, so ein Fazit von Bergmanns Impulsvortrag.

Schäfer: Rote Linie Streikverbot

In der Diskussion der Impulse bezeichnete dbb Vize und Fachvorstand Beamtenpolitik Friedhelm Schäfer das beamtenrechtliche Streikverbot als „rote Linie“ für eine rechtliche Einflussnahme durch die europäische Ebene. Man blicke deshalb mit Spannung auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Schäfer hob das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sich 2018 klar gegen ein Streikrecht für Beamtinnen und Beamte ausgesprochen hatte, als großen Erfolg und Bestätigung der Eigenständigkeit sowie der  strukturellen und rechtlichen Besonderheiten des Berufsbeamtentums in dieser Frage hervor. Alle, die ein Streikrecht für Beamtinnen und Beamte forderten, müssten sich vor Augen halten, was dies konkret bedeute: „Was passiert denn dann? Was bedeutet das denn in der Realität, wenn Beamtinnen und Beamte zum Beispiel in Justizvollzugseinheiten oder der Polizei streiken?  Deutschland sei mit dem Berufsbeamtentum und dessen hergebrachten Grundsätzen „sehr gut gefahren.“ Eine politische und gesellschaftliche Mehrheit für einen Systemwechsel, den die Einführung eines Beamtenstreikrechts mit sich brächte, sah der dbb Vize nicht. „Nicht nur ich halte eine Abkehr vom Berufsbeamtentum für die Aufrechterhaltung der staatlichen Daseinsvorsorge für ausgesprochen kritisch.“

Schäfer warb dafür, die strukturellen Vorteile des deutschen Beamtenrechts auch auf europäischer Ebene besser zu kommunizieren und etwaige Einflüsse durch europäische Entscheidungen frühzeitig zu antizipieren. „Wir, also alle 17 beamtenrechtlichen Rechtskreise in Deutschland, sollten mehr darauf schauen, was in Brüssel passiert und unsere Vorstellungen dort einbringen, um im Idealfall über die Setzung im Europarecht noch mehr Vorteile für alle Verwaltungen erreichen zu können.“ Bisweilen sei es schlicht „Glückssache“, ob man rechtzeitig von einer europäischen Entscheidung erfahre, die das deutsche Dienstrecht tangiere. „Es ist eine Verpflichtung der Dienstgebenden, sich mit dem zu beschäftigen, was aus Brüssel an national relevanter Rechtsetzung kommt“, machte Schäfer deutlich. Verglichen mit anderen EU-Staaten sei Deutschland mit seinen 2 000 Beschäftigten bei den europäischen Institutionen deutlich unterrepräsentiert. Eigentlich müsse man achtmal so viele im Einsatz haben, um mehr Einfluss zu bekommen.

Mit Blick auf das laufende Verfahren zum Streikrecht für Beamte bezweifelte Bergmann, dass der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in das deutsche Beamtenrecht eingreifen wird. „Dort verstehen sie sich als Hüter der Basisrechte der Menschen und sind nicht gewillt in fein auszieselierte Rechtssysteme einzugreifen. Ich glaube nicht, dass von dort ein Streikrecht kommt, ansonsten würde man den offenen Bruch zum Bundesverfassungsgericht riskieren. Das würde ich eher dem EuGH zutrauen, weil dort das Streikrecht als Basisausstattung für den europäischen Arbeitnehmer gesehen wird, und der europäische Arbeitnehmerbegriff bekanntlich nicht zwischen Beamten und Arbeitnehmenden differenziert.“ Sollte es dereinst eine europäische Gerichtsentscheidung für ein generelles Streikrecht geben, sei das aus seiner Sicht keine Katastrophe, bekräftigte Bergmann: „Ich glaube schlicht nicht, dass es dann zum Wegfall des deutschen Beamtentums mit dem Verlust aller Beamtenprivilegien kommen würde.“

EU-Recht habe schon oft dazu geführt, dass die Verhältnisse sich ändern, und diese Veränderungen müssten keine Verschlechterung bedeuten. „Wenn auch die deutschen Beamten ein Streikrecht bekämen, würde es einen anderen deutschen öffentlichen Dienst geben. Das führt aber nicht zum Untergang des Abendlandes, in dem Millionen Beamte auf die Straße gehen, die Justiz tot und der Staat handlungsunfähig ist; das sehe ich nicht.“ Man könne Europa als Instrument betrachten, „dass uns nutzt, den öffentlichen Dienst zu modernisieren. „Dafür müssen wir früh im europapolitischen Raum ansetzen.“

Dem dbb als gewerkschaftlichem Dachverband empfahl Bergmann, seine Kontakte nach Brüssel, weiter zu intensivieren, um den andersartigen Ansatz der europäischen Rechtsauffassung besser erfassen zu können. Der EUGH lege seiner Arbeit das Binnenmarktrecht zugrunde. „Hierbei handelt es sich um ein Wirtschaftsrecht, mit dem letztlich auch in das Beamtenrecht hinein reguliert werde.

Ein weiteres Manko sieht Bergmann im geringen Ansehen, das die Arbeit in den europäischen Institutionen hierzulande genieße: „In Deutschland schicken wir gute Leute nach Brüssel und sehen sie nie wieder, weil ihnen keine Rückkehr mit einer adäquaten Verwendung geboten wird. Das Ergebnis: Unsere Expertise ist in Brüssel, aber nicht beispielsweise im BMI. In Frankreich hingegen sei es ein Karriereschritt, wenn man einige Jahre in der EU-Kommission gearbeitet habe.

Pechstein skizzierte den Fall, dass der EuGH im Sinne der Beschwerdeführer entscheidet: „Im Prinzip müsste die Bundesrepublik dann dem Urteil in diesem konkreten Fall stattgeben.“ Eine Gesetzes- oder Verfassungsänderung sei deshalb nicht nötig, den Beschwerdeführern bliebe eine Geldentschädigung. Allerdings würde von Urteilen des EGMR über den konkreten Einzelfall mit der Rechtsverbindlichkeit des Urteils eine gewisse Orientierungswirkung entfaltet. „Damit man jetzt nicht in die nächsten Fälle hineinläuft, sollten die betroffenen Sparten ihre Rechtsordnung mit dem Urteil in Einklang bringen“, erläuterte Pechstein. Dies ginge in Deutschland nach dem Urteil des 12. Juni 2018 nur, indem das Grundgesetz geändert würde und man aufnähme, dass auch Beamte streiken dürfen. „Nach dem, was Karlsruhe in seinem Urteil so ausführlich dargestellt hat, ist das jedoch miteinander unvereinbar“, so der Referent. Wenn das Streikrecht eingeführt würde, müsse das Beamtenrecht und der Beamtenstatus zugunsten eines allgemeinen Arbeitnehmerstatus aufgegeben werden. Das Verfassungsgericht habe in seinem Urteil gegen die Wirkung des EGMR-Urteils vorgebaut, indem gesagt wurde, dass nicht jedem Urteil Folge geleistet werden müsse.

Pechstein ging außerdem darauf ein, dass dem dbb aufgrund seiner Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts eine Stellungnahme zu der Individualbeschwerde vor dem EGMR bewilligt wurde, um eine zusätzliche Perspektive in die Entscheidungsfindung einzupflegen. In dieser Stellungnahme wurde besonders darauf hingewiesen, dass das Verhältnis des deutschen Beamten, im Gegensatz zu Beamten in der Türkei, nicht vertraglich, sondern auf gesetzlicher Grundlage einseitig geregelt sei. „Das heißt, es fehlt schon die Grundstruktur, die für die Berechtigung eines Streikrechts spricht“, betonte Pechstein. Angesprochen auf den möglichen Zeitpunkt der Urteilsverkündung des EGMR verdeutlichte Pechstein: „Das könnte sowohl morgen als auch erst in zwei Jahren sein.“

Ferner hob Pechstein hervor, dass das Bundeserfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zum Alimentationsprinzip die Bemessung der Alimentation unter anderem auch an den Tarifergebnissen als einen relevanten Aspekt dargestellt habe. Das notwendige Korrelat zu dem Streikverbot sei die subjektivrechtliche Dimension des Artikel 33 (5) des Grundgesetzes. Diese impliziere, dass der Beamte seine Rechte gegebenenfalls einklagen müsse. Allerdings wurde durch das Urteil in Karlsruhe deutlich, dass es im Falle der Einführung eines Streikrechtes, keine Grundlage mehr für die subjektivrechtliche Ausgestaltung des entsprechenden Artikels und für das in sich stimmige System gebe.

Europakompetenz fördern

„Die Förderung von Europakompetenz ist bei uns an der Hochschule verpflichtend“, erläuterte Prof. Dr. Markus Heimann von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in der zweiten Podiumsdiskussion zum Thema „Förderung der Europakompetenz im öffentlichen Dienst. „Wir haben über ganz Deutschland verteilt zehn Fachbereiche, die alle im Grundstudium Europarecht anbieten. In meinem Fachbereich, der allgemeinen inneren Verwaltung an, zieht sich das Fach Europarecht sogar durch bis zum Examen. So ist das auch beim Master-Studiengang.“ Das Ziel sei europarechtliche Grundkompetenzen im Zusammenhang mit den Auswirkungen auf das deutsche Recht zu vermitteln, hob Hochschullehrer Heimann hervor. „Es ist notwendig, eine Art kritisches Bewusstsein über das Funktionieren des gesamten Systems zu vermitteln. Im Vergleich mit der allgemeinen Juristen-Ausbildung stehen wir gut da.“

„In den vergangenen zwanzig Jahren haben wir ein vorbildliches System zum Europarecht aufgebaut“, fasste Jan Bergmann in seiner Funktion als Ansprechpartner für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden-Württemberg das Engagement zur Schaffung von Europakompetenz zusammen. „Wir haben unseren Geschäftsverteilungsplan mit Blick auf das Europarecht ebenso angepasst wie viele Vorlagen. Seit 2001 gibt es zudem in jedem Verwaltungsgericht einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin für Europarecht, die bei einschlägigen Verfahren als externe Beraterinnen und Berater tätig sein dürfen.“

Baden-Württemberg verfüge inzwischen über eine der führendsten Gerichtsbarkeiten für Europarecht. Ein solches System funktioniere aber nur, wenn es von den jeweiligen Chefs aktiv unterstützt wird: „Der Fisch stinkt nicht nur, er duftet auch vom Kopf“, so Bergmann. Zusätzlich zum Erfolg des baden-württembergischen Systems trügen Wertschätzung, wie die Aufnahme des Engagements für europäisches Recht in dienstlichen Beurteilungen, und kleine Privilegien bei: „Wir unternehmen beispielsweise jedes Jahr eine Exkursion zu den europäischen Institutionen. Es lohnt sich, für Europa zu arbeiten.“

Friedhelm Schäfer bekräftigte seine Forderung nach mehr „europäischer Grundbildung“ sowie Austausch mit europäischen Nachbarn und Institutionen auf Beschäftigtenebene. „Wir müssen erstens bereits in der Ausbildung Europarecht viel stärker lehren, um ein Grundbewusstsein für diese Aspekte zu schaffen. Zweitens müssen wir die Menschen, die täglich mit Europa zu tun haben, besser schulen – und zwar rechtzeitig, häufig kommen viele Fortbildungen einfach zu spät. Und drittens müssen wir mehr Wert darauf legen, Europa-Rückkehrenden attraktive Perspektiven zu bieten.“ Schäfer plädierte zudem für eine einheitliche Definition von Europakompetenz im öffentlichen Dienst von Bund und Ländern, „um auf diesem Gebiet deutschlandweit eine hohe Qualität zu sichern“.

Dr. Pamela Sichel, Referatsleiterin „Europafähigkeit und Europaöffentlichkeitsarbeit“ im Staatsministerium Baden-Württemberg, erläuterte das im „Ländle“ seit rund 20 Jahren praktizierte Modell „Dynamischer Europapool“, in dem eine dauerhafte Personalreserve für die Verwendung auf europarelevanten Positionen im Inland („Heimspieler“) und bei den europäischen Institutionen („Auswärtsspieler“) vorgehalten wird. Das Angebot, international Erfahrungen sammeln zu können, sei insbesondere bei der Gewinnung von Nachwuchs ein „absolutes Werbeargument“, berichtete Sichel. „Die jungen Menschen schätzen die Aussicht, nicht ihr ganzes Berufsleben lang an einem Ort zu verharren, sondern auch mal rauskommen zu können und dann – bestenfalls – auf einen attraktiven Posten zurückkehren zu können – Europa soll schließlich ein Karrierekick sein, kein Karriereknick.“

Sichel räumte ein, dass das Land Baden-Württemberg wirtschaftlich in einer vergleichsweise guten Lage sei und entsprechende Mittel für seine strategische Europaarbeit investieren könne. Gleichwohl sei jedoch auch dort vor allem auf Führungsebene noch immer viel Überzeugungsarbeit zu leisten, damit die Ressorts auch ihre guten Leute Richtung Brüssel ziehen lassen. „Oft hilft es, einfach mal mit ihnen nach Brüssel zu fahren und zu zeigen, wie die Kolleginnen und Kollegen da vor Ort tatsächlich Expertise aus Baden-Württemberg vertreten und ganz konkret etwas für unser Land herausholen.“

Als Vorsitzender der CESI Youth, der Jugendorganisation des europäischen dbb Dachverbands CESI, hat Matthäus Fandrejewski, Vorsitzender der dbb jugend, bereits eine steile „Europa-Lernkurve“ hinter sich: Während seiner Ausbildung zum Verwaltungsfachanstellten absolvierte er ein Praktikum in einer irischen Kommunalverwaltung. Dieses habe ihm ebenso wie seine Arbeit auf europäischer Gewerkschaftsebene geholfen, „die Diversität der verschiedenen Mitgliedsstaaten schätzen zu lernen und zu sehen, wie wichtig es ist, voneinander zu lernen. Man darf einfach nicht den Anspruch haben, dass es eine Lösung für alle gibt, auch das deutsche Modell ist nicht immer das richtige“, erklärte Fandrejewski.

Auch er forderte eine bessere Einbindung von Europathemen in die Ausbildung des öffentlichen Dienstes und vor allem mehr Möglichkeiten des institutionellen Austauschs insbesondere auch auf kommunaler Ebene. „Auslandserfahrung sammeln zu können ist für junge Menschen ein ganz wesentliches Attraktivitätsmerkmal bei der Berufswahl“, betonte der dbb jugend Chef, „und wenn wir die über eine Million Fachkräfte, die dem öffentlichen Dienst bis 2030 fehlen werden, auch nur ansatzweise mit Nachwuchs abdecken wollen, müssen wir dieses Feld Europa viel stärker erschließen.“ Was fehle, seien insbesondere gelebte Beispiele und Vorbilder, „dass jemand wirklich, auch mehrfach, ins Ausland gehen kann, ohne dass das der Karriere schadet“.

Hintergrund

Das dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST rückte am 27. Juni 2022 die europarechtlichen Einflüsse auf das Beamtenrecht in den Blickpunkt. Gemeinsam mit Dienstrechtsexpertinnen und -experten sowie Verwaltungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern wurden zentrale Sachfragen erörtert sowie aktuelle Herausforderungen für ein zeitgemäßes Berufsbeamtentum im Spannungsfeld der nationalen und europäischen Gesetzgebung diskutiert.

 

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