Jede/r vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst hat einer neuen Studie zufolge bereits Gewalt am Arbeitsplatz erlebt. Gewerkschaften und Bundesinnenministerin wollen mehr Schutz.
Anlässlich der Veröffentlichung einer neuen Studie zu Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes haben dbb Chef Ulrich Silberbach und Katja Karger, die Vorsitzende vom DGB-Bezirk Berlin-Brandenburg, gemeinsam mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser am 24. Juni 2022 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ordnungsamtes in Berlin-Mitte besucht, die von ihren eigenen Gewalterfahrungen berichteten.
Die von dbb und DGB mitgetragene Studie wurde 2020 vom Bundesinnenministerium beim Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (FÖV) in Speyer in Auftrag gegeben. Sie trägt erstmals vorhandenes Datenmaterial zusammen und ist in diesem Umfang einmalig. Insgesamt wurden über 10.000 Beschäftigte und mehr als 1.600 Behörden (exklusive Polizei) befragt. 23 Prozent der Beschäftigten gaben an, bereits Gewalterfahrungen gemacht zu haben, 12 Prozent erlebten sogar mehrere Vorfälle innerhalb eines Jahres. Dabei unterscheidet sich das Aufkommen stark nach Beschäftigungsbereich: Während bei Feuerwehr, Rettungskräften, Justizvollzug und Ordnungsamt sogar ein Drittel der Beschäftigten innerhalb eines Jahres eine Gewalterfahrung machen mussten, sind es bei Beschäftigten in der Sozial- und Arbeitsverwaltung weniger als 10 Prozent. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Die Zahlen sind während der Corona-Pandemie – mit Ausnahme bei Beschäftigten in der Bildungs- und Sozialverwaltung – angestiegen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser kommentierte die Studienergebnisse: „Einer von vier Beschäftigten im öffentlichen Dienst hat schon Gewalt erlebt. Das ist das erschütternde Ergebnis einer Befragung von mehr als 10.000 Beschäftigten. Mein Austausch mit von Gewalt Betroffenen hat meine Entschlossenheit nur noch verstärkt: Wir müssen mehr tun, um die Menschen zu schützen, die unser Land jeden Tag am Laufen halten – ob auf dem Amt oder als Retter in der Not. Das gebietet die Fürsorgepflicht für die Beschäftigten. Und das ist eine Frage des Schutzes unserer Demokratie vor Verrohung, Hass und Gewalt. Wichtig ist, jeden Übergriff ernst zu nehmen, zu melden und zur Anzeige zu bringen. Hier darf es keine falsche Scham und keine Hürden geben. Die Täter müssen hart verfolgt werden – und die Betroffenen brauchen Unterstützung. Wir werden uns mit den Gewerkschaften gemeinsam für eine bessere Gewaltprävention und einen besseren Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einsetzen.“
dbb Chef Ulrich Silberbach betonte: „Die Daten bestätigen unsere langjährigen Forderungen nach einer systematischen Erfassung der Angriffe auf die Beschäftigten und der Methoden der Prävention, Reaktion und Nachsorge. Es muss aufhören, dass die Ahndung der Fälle weitgehend volatilen Bewältigungsmustern vor Ort folgt. Neben dem breiten Konsens, dass eine Attacke auf Repräsentantinnen und Repräsentanten des Staats ein Angriff auf unsere demokratischen Institutionen und Werte und damit auf uns alle ist, brauchen wir bundesweit umfängliche einheitliche Handlungsempfehlungen, um die Kolleginnen und Kollegen nachhaltig zu schützen. Und ihnen in dem Fall, der dann trotz bestmöglicher Prävention doch eintritt, konsequent und sofort zur Seite zu stehen. Die belegte hohe Dunkelziffer muss uns alle alarmieren. Es kann nicht angehen, dass attackierte Beschäftigte Vorfälle nicht anzeigen, weil sie sich von ihren Vorgesetzten ohnehin keine Unterstützung versprechen. Wenn der Stellenwert des Themas Gewalt gegen Bedienstete mit jeder Hierarchieebene abnimmt, ist das schlicht ein Skandal. Auch da müssen wir ran – mit entsprechenden Fortbildungen und der Entwicklung von Leitfäden. Auch die Erkenntnis, dass Gefährdungsbeurteilungen einen vergleichsweise niedrigen Verbreitungsgrad besitzen, obwohl die Behörden zu ihrer Durchführung und Umsetzung der Ergebnisse gesetzlich verpflichtet sind, muss dringend aufgearbeitet werden“, forderte der dbb Chef.
dbb Vize Schäfer: "Dringender Handlungsbedarf für Präventions-, Schutz- und Nachsorgemaßnahmen"
Friedhelm Schäfer, dbb Vize und Fachvorstand Beamtenpolitik, untermauerte im Vorfeld der Fachtagung zur Veröffentlichung der FÖV-Studie „Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes“ am 24. Juni 2022 in Berlin die dbb Forderungen nach einem effektiveren Schutz der Beschäftigten vor jeglicher Form von Gewalt. „Die Sicherheit der Menschen im öffentlichen Dienst muss für alle Dienst- und Arbeitgebenden oberste Priorität haben. Wer will, dass der Staat verlässlich funktioniert, muss sich schützend vor diejenigen stellen, die ihn tragen.“ Von Politik und Gesellschaft, aber ebenso von den Führungskräften im öffentlichen Dienst erwarte der dbb deutlich mehr Respekt und Rückhalt. „Beleidigungen, Bedrohungen, Körperverletzungen, sexuelle Gewalt, Mord – es gibt leider nichts, was Kolleginnen und Kollegen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht schon wiederfahren ist. Die nun vorgelegten Zahlen machen endgültig klar, dass dringender Handlungsbedarf für konkrete Präventions-, Schutz- und Nachsorgemaßnahmen besteht“, so Schäfer, zumal die Beschäftigten nur rund 30 Prozent der Übergriffe überhaupt meldeten. „Dieser hohen Dunkelziffer müssen wir uns in naher Zukunft widmen und der weit verbreiteten Auffassung und Erfahrung, dass Anzeigen ohnehin nichts bringen, mit konkreten Maßnahmen entgegenwirken. Es muss in Zukunft allgemein klar sein, dass es null Toleranz bei Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und der privatisierten Bereiche gibt.“
Bei der Fachtagung diskutierten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Verwaltungspraxis die Ergebnisse der aktuellen Studie des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung (FÖV) und skizzierten Handlungsoptionen. Fest stand am Ende: Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes ist keinesfalls ein Randproblem und muss mit einer klaren Null-Toleranz-Haltung und konkreten Präventions- und Nachsorgemaßnahmen beantwortet werden. Und: Prävention kostet Geld – Geld, das im besseren Schutz für die Kolleginnen und Kollegen bestens investiert ist, denn zu einem attraktiven Arbeitgeber Staat gehört auch, dass sich die Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz sicher und wertgeschätzt fühlen können, egal wann, egal wo.
Johann Saathoff, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern und für Heimat, betonte in seinem Grußwort, dass es zur Wertschätzung für die Beschäftigten gehöre, der Fürsorgepflicht als Dienstherr nachzukommen. Grundsätzlich sei die Sicherheit der Kolleginnen und Kollegen ein wichtiger Teil der Führungsverantwortung von Vorgesetzten. Die FÖV-Studie habe hier wichtige Erkenntnisse gebracht, beispielsweise sei der „Bedarf an niedrigschwelligen Meldewegen definitiv vorhanden“.
Dass die Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der Forschung gerückt sei, betonte Professor Jan Ziekow, Direktor des FÖV in Speyer, und verwies exemplarisch auf entsprechende Untersuchungen in Hessen und Sachsen. Fakt sei: „Beschäftigte werden immer wieder mit Gewalt konfrontiert.“ Die nun vorgelegte Studie – mit 10.000 befragten Beschäftigten und 1.600 einbezogenen Behörden in dieser Form einzigartig – liefere dafür eine solide Datenbasis.
Auch Katja Karger, Vorsitzende des DGB-Bezirks Berlin-Brandenburg, unterstrich, dass Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes kein „Randphänomen“ sei. „Die Studie bestätigt alle unsere betriebliche Erfahrung.“
Friedhelm Schäfer, Zweiter Vorsitzender und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb, lobte die Arbeit der Forschenden: „Das Institut hat hier hervorragende Arbeit geleistet, und das Thema ist ja auch von überragender Bedeutung. Nun müssen endlich Strategien entwickelt und vor allem die Betroffenen konsequent in den Mittelpunkt gestellt werden.“ Gleichzeitig forderte Schäfer, dass nach der nun erfolgten Sachstandserhebung auch die Ursachenforschung vorangetrieben werden müsse. „Es reicht nicht, Scanner am Eingang oder Alarmknöpfe unter dem Schreibtisch zu installieren. Wenn wir nicht auch die Ursachen für Gewalt gegen die Beschäftigten in den Blick nehmen und sie bekämpfen, erledigen wir unsere Aufgabe nicht.“
Hohe Dunkelziffer – 70 Prozent nicht gemeldete Fälle
Carolin Steffens und Axel Piesker vom FÖV erläuterten dem Auditorium die Studienergebnisse, die sich aus der Befragung von 1.630 Behörden und knapp 10.700 Beschäftigten ergeben haben, ausführlich. Jede bzw. jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst ist innerhalb eines Jahres einmal oder mehrfach Opfer von Gewalt am Arbeitsplatz geworden. Die meisten dieser Vorfälle waren Beleidigungen und Bedrohungen. Besonders die hohe Dunkelziffer gebe Anlass zur Sorge: Nicht gemeldete Fälle machen laut der Studie 70 Prozent aus. Der von den Beschäftigten meistgenannte Grund für eine Nichtmeldung ist der Glaube, dass eine Meldung ohnehin nichts ändere, gefolgt von der Annahme, dass der Vorfall nicht meldewürdig war. Die Befragung startete im Jahr 2020 und beleuchtete so zum einen die Zeit vor, zum anderen die Zeit während der Coronavirus-Pandemie. In diesem Zeitraum nahm die Gewalt gegen Beschäftigte in den Ordnungs- sowie Bürgerämtern signifikant zu. Über die Hälfte aller Beschäftigten gab an, dass die verbale Gewalt in dieser Zeit zugenommen habe. Ausgewertet nach Arbeitsplatz, fühlen sich die Beschäftigten der Sozial- und Arbeitsverwaltung am sichersten, während sich Bedienstete von Ordnungsämtern sowie Feuerwehrleute und Rettungskräfte am wenigsten sicher fühlen.
Parallel zur allgemeinen Befragung führte das FÖV eine ergänzende Studie mit Fokus auf Gewalt gegen Beschäftigte im Personennah- und Fernverkehr durch. Darin gaben 40 Prozent an, bereits mindestens einmal Gewalt erlebt zu haben. Am häufigsten wurden Beschäftigte im Kundendienst und Begleitpersonal Opfer von verbalen oder physischen Attacken. Deckungsgleich mit der Hauptstudie zeigte sich, das auch hier die häufigsten Erscheinungsformen von Gewalt Beleidigung und Bedrohung waren. Die Dunkelziffer war mit 60 Prozent ähnlich hoch, ebenso die Gründe, weshalb die Vorfälle nicht gemeldet wurden.
Als erste Handlungsoptionen aus der Studie, die zunächst der Bestandsaufnahme diente, formulierte Axel Piesker, bewährte Präventionsmaßnahmen zu adaptieren und zu nutzen. Auch im Bereich der Betroffenen sei deutlich mehr Unterstützung erforderlich.
Raus aus der „blame-and-shame“-Dauerschleife
In der anschließenden Diskussion zur Bewertung der Studienergebnisse hob FÖV-Direktor Jan Ziekow hervor, dass die Qualität der Erhebung in ihrer hohen Differenziertheit liege und die Daten daher eine gute Basis für weitere Analysen böten. Der Schutz der Beschäftigten lasse sich jedenfalls nur signifikant verbessern, wenn „wir ganzheitlich denken und uns gleichermaßen mit Situationen von Gewalt und mit dem Bild des öffentlichen Dienstes beschäftigen“, machte der Verwaltungswissenschaftler deutlich. Daher regte er weitere Untersuchungen an: „Wenn man an der Oberfläche bleibt, rutscht das wieder schnell in die `blame and shame-Diskussion`: Irgendeiner ist immer schuld – aber die Ursachen liegen viel tiefer.“ Daher könne es von Interesse sein herauszufinden, ob „die gesellschaftliche Verrohung in der Pandemie stark angestiegen ist, ob sie auf diesem Niveau bleibt und ob sie wieder sinkt – oder, ob noch ganz andere Indikatoren verantwortlich sind“, so Ziekow.
Katrin Walter, Abteilungsleiterin D (Öffentlicher Dienst) im Bundesministerium des Innern und für Heimat, zeigte sich betroffen vom Ausmaß und der Art der in der Studie geschilderten Gewalttaten. „Wir müssen uns vor Augen halten, dass Leute in Jobcentern oder Bürgerämtern den Umgang mit Straftätern nicht gelernt haben, wie etwa die Beschäftigten in den Ordnungsbehörden. Wir müssen dringend aktiv werden. Eine der Kernpflichten der Dienstherrn ist die Fürsorgepflicht, und das Minimum an Vorsorge ist ja wohl, dass die Menschen gesund von ihrem Dienst nach Hause gehen können“, machte Walter deutlich. Verärgert zeigte sie sich darüber, dass Vorfälle von Betroffenen nicht gemeldet werden, weil Dienstvorgesetzte dies als unerwünscht oder überflüssig bewerteten: „Das ist klares Führungsversagen. Hier müssen wir gegensteuern“. Eine deutliche Verbesserung der Sicherheit in Behörden und Verwaltungen sei nur zu erreichen, wenn man konkret mit den Beschäftigten vor Ort spreche, zeigte sich Walter überzeugt.
Auch Katja Karger vom DGB betonte die Bedeutung der konkreten Arbeit vor Ort. Es sei beispielsweise nicht hinnehmbar, dass im Staatsdienst die eigentlich vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen nicht flächendeckend vorgenommen würden. „Hier gilt es, den Führungskräften den Spiegel vorzuhalten und die Arbeitgeber in die Pflicht zu nehmen“, so Karger. Auch bei der Verfolgung von Täterinnen und Tätern müsse etwa durch die Einrichtung von Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften optimiert werden.
dbb Vize Friedhelm Schäfer machte noch einmal eindringlich die Dimension des Problems deutlich: „60 Prozent fühlen sich sicher. Nur 60 Prozent. Das bedeutet, 40 Prozent gehen mit Angst im Bauch zur Arbeit. Und die Studie hat ja gezeigt, wie erschreckend hoch die Dunkelziffer ist. Um ein noch ehrlicheres Bild der Ausmaße des Problems zu bekommen, müssen wir daher unbedingt die Kolleginnen und Kollegen vor Ort davon überzeugen, dass es sich ‚lohnt“ solche Vorfälle zu melden beziehungsweise anzuzeigen.“ Dafür müssten eben auch die Meldewege dringend optimiert und ausgebaut werden.
Durch viele Beiträge aus dem Publikum, unter anderem von Vertreterinnen und Vertretern der dbb Fachgewerkschaften und Landesbünde, wurde die Diskussion um spannenden Einblicke aus der Praxis bereichert. So wurden einige Fälle und Projekte zum Thema von der Länderebene, aus dem Justizvollzug, dem Nahverkehr und dem Bildungsbereich thematisiert. Insbesondere aus dem Schulsektor wurde angeregt, auch das Thema „Digitale Gewalt“, das nicht in der vorgelegten Studie abgebildet werden konnte, noch einmal näher zu untersuchen. Zudem wurde deutlich, dass der Umgang mit Gewalt beziehungsweise der Schutz der Beschäftigten durch die Arbeit- und Dienstgebenden auch ein wesentlicher Faktor bei der Nachwuchs- und Fachkräftegewinnung sein kann.
Gewaltphänomene und Präventionsansätze
In verschiedenen Panels diskutierte die Fachtagung Gewaltphänomene und Präventionsansätze – zum einen mit Blick auf Beschäftigte mit regelmäßigem Bürgerkontakt in Dienstgebäuden, zum anderen mit Blick auf Kolleginnen und Kollegen im Außeneinsatz.
Paulina Lutz von der kriminologischen Zentralstelle/Projekt „Angriffe auf Mitarbeiter*innen und Bedienstete von Organisationen mit Sicherheitsaufgaben“ (AMBOSafe) stellte eine Untersuchung von gewalttätigen Angriffen auf Rettungs- und kommunale Ordnungsdienste vor. Danach sind Alkoholisierung sowie Drogeneinfluss oder psychische Belastungen signifikante Risikofaktoren auf Seiten der Täterinnen und Täter. Auf Seite der Betroffenen habe vor allem eine hohe Belastung zu Eskalationen geführt.
Auch Heike Würstl von der Geschäftsstelle des Landespräventionsrats Thüringen brachte Daten aus ihrer Studie „Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehr und des Rettungsdienstes: Bestandsaufnahme Thüringen“ mit. In dieser Studie wurde der Gewaltbegriff enger auf ausschließlich körperliche Angriffe gefasst. Interessantes Ergebnis: Es gibt hier lokale Unterschiede. So wurden mehr Taten in Großstädten verzeichnet. Dagegen gab es wenig Unterschiede in der Opferspezifik. Als mögliche Präventionsmaßnahmen nannte Würstl unter anderem Bildungsarbeit in Form von Werte- und Normenvermittlung, eine konsequente Strafverfolgung und technischen Schutz.
In der Diskussion über Lutz‘ und Würstls Informationen machten Beschäftigte aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstes deutlich, dass bei möglichen flächendeckenden Präventionsmaßnahmen stets darauf geachtet werden müsse, diese jeweils an den Tätigkeitsbereich anzupassen, wobei zusätzlicher technischer Schutz etwa bei der Feuerwehr schwer zu realisieren sei, wie die Praktiker erläuterten. Weiter wurde betont, dass die Angebote zum Melden der Gewalttaten niedrigschwelliger werden müssen.
Johanna Groß, Professorin für Sozialen Wandel und Konfliktforschung an der Kommunalen Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen, und Katrin Päßler, Fachbereichsleitung Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit bei der Stadt Aachen, nahmen den Innendienst in den Blick. Johanna Groß stellte die Gewalterfahrungsstudie vor, die ihre Hochschule 2019 gemeinsam mit dem niedersächsischen Städtetag in rund 120 Kommunen erhoben hatte. Die Ergebnisse bestätigten die von der aktuellen FÖV-Studie zutage geförderten Erkenntnisse mit Blick auf Verbreitung und Häufigkeit der Konfliktereignisse – mehr als 60 Prozent der Studienteilnehmenden waren schon einmal bedroht und/oder tätlich angegriffen worden, verbale Aggressionen und Randalieren gehörten zu den meistgenannten Vorfällen. Bauliche, technische und organisatorische Präventionsmaßnahmen seien teilweise vorhanden, teilweise nicht, Johanna Groß berichtete hier von einer „relativ breiten Streuung, Nachsorgekonzepte seien im Untersuchungsfeld definitiv noch nicht sehr weit verbreitet. Häufig berichtet wurde hingegen das „Kleinreden“ von Vorfällen sowohl durch Betroffene selbst als auch durch Vorgesetzte. Als Ursachen für gewalttätige Attacken ermittelte die Studie aus Niedersachsen zum einen eine individuell grundsätzlich niedrige Frustrationstoleranz und generelle Aggressivität, gepaart mit keiner oder wenig Angst vor Konsequenzen. Auch Personalmangel und Überlastung der Beschäftigten und daraus resultierend weniger Zeit für Erklärung und Beratung wurden als Gründe genannt.
Katrin Päßler erläuterte dem Auditorium das „Sicherheitskonzept Gewaltprävention“ der Stadt Aachen, dass unter dem Titel „Aachener Modell“ mittlerweile als Best Practice bundesweit in Behörden und Verwaltungen Schule macht. Das Modell wurde als Reaktion auf eine Geiselnahme in einem Aachener Jobcenter 2007 angestoßen und seitdem stetig weiterentwickelt, seit 2017 ist es gesamtstädtisch verbindlich. Das differenziert ausformulierte Konzept soll gewalttätige Übergriffe und Gefährdungen auf Beschäftigte verhindern, eine hohe Rechts- und Handlungssicherheit bei bzw. nach gewalttätigen Vorfällen erreichen und das subjektive Sicherheitsgefühl und die Sicherheit am Arbeitsplatz insgesamt erhöhen. Hand in Hand gestalten ein hauptamtlicher Referent für Prävention, Arbeitsschutz und Personalentwicklung diese wichtige Querschnittsaufgabe gemeinsam mit Führungskräften, Personalvertretung und Gebäudemanagement. Das „Aachener Modell“ fußt auf den vier Säulen Gefahrenbewertung der verschiedenen Arbeitsbereiche (anhand vier definierter Gefahrenstufen), Prävention und verbindliche Sicherheitsstandards für technische, organisatorische und personenbezogene Präventionsmaßnahmen, Deeskalation (betriebliche Grundsätze und Verhaltensempfehlungen/Trainings für schwierige Situationen) sowie Nachsorge mit konkreten und teilweise ebenfalls verbindlichen Bausteinen für eine wirksame Nachsorge nach traumatischen Ereignissen. Fachliche Beratung wird in Aachen durch die Einbindung verschiedener betrieblicher Expertinnen und Experten sowie interner Dienstleister gewährleistet. „Die im Sicherheitskonzept definierten Maßnahmen sind Teil der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung nach § 5 Arbeitsschutzgesetz”, erläuterte Katrin Päßler. Diese sieht vor, dass der Arbeitgeber alle relevanten Gefährdungen und Belastungen, denen die Beschäftigten im Zuge ihrer beruflichen Tätigkeit ausgesetzt sind, bewertet, daraus konkrete Arbeitsschutzmaßnahmen festlegt, diese nach Prioritäten umsetzt und deren Wirksamkeit kontrolliert.
In der sich an die Fachvorträge anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass das „Aachener Modell“ von vielen Beschäftigten als wünschenswertes und sinnhaftes Sicherheitskonzept angesehen wird, das sich gut an die jeweils individuellen Gegebenheiten vor Ort anpassen lässt. Voraussetzung für eine Umsetzung seine allerdings auch entsprechende Mittel, machte Katrin Päßler klar: „Prävention kostet Geld. Das muss allen klar sein.“ Päßler betonte zudem: „Eine absolute Sicherheit vor unvorhersehbaren Ereignissen kann es nicht geben. Aber mit dem Bewusstsein, dass etwas passieren kann, setzt Prävention ein.“ Diesen Gedanken gelte es generell aufzugreifen, ergänzte Groß und wies darauf hin, dass auch die klare Kommunikation gegen Gewalt bereits eine wichtige Präventionsmaßnahme sei. Zudem dürfe man Ursachen von Eskalation und Gewalt wie Personalmangel und Überarbeitung nicht ignorieren, sondern auch hier mit Analysen und möglichen Umstrukturierungen und Schulungen gegensteuern. „Es ist kein Wunder, wenn sich bei Bürgerinnen und Bürgern Unmut breitmacht, weil die Verwaltung nicht funktioniert“, gab Groß zu bedenken.
Verwaltungspraxis konkret: Wie weiter?
Weitere interessante und auch neue Aspekte der Gewaltthematik brachte die abschließende Podiumsdiskussion mit Praktikerinnen und Praktikern aus der Verwaltung.
Barbara Melcher verantwortet die Abteilung Prävention der Unfallkasse Brandenburg, die als Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand für die Tarifbeschäftigten zuständig ist. Sie wies darauf hin, dass von gewalttätigen Übergriffen weit mehr Bereiche des öffentlichen Dienstes betroffen seien, als dies in der (medialen) Diskussion dargestellt würde. „Unsere Zahlen zeigen: Der Öffentliche Gesundheitsdienst steht ganz oben auf der Liste. In der Allgemeinen Verwaltung sind auch zum Beispiel auch Jugendämter und Sozialbehörden betroffen, ebenso öffentliche Unternehmen wie beispielsweise Schwimmbäder.“ Sie nehme auch eine Ausweitung des Phänomens wahr. „Das betrifft heute etwa auch Veterinärmedizinerinnen und -mediziner, wenn Tiere den Besitzerinnen und Besitzern abgenommen werden müssen.“ Melcher betonte, dass die Sicherheit der Beschäftigten in erster Linie in der Verantwortung der Arbeitgebenden und Dienstherrn liege. „Die Gefährdungsbeurteilung ist das A und O bei der Prävention“, so Melcher.
Diese Einschätzung teilte auch Jan Kaltofen vom Jobcenter Halle (Saale): „Ein Hauptproblem ist die nicht vorhandene Sensibilisierung von Behördenleitungen für das Gewalt-Problem.“ Darüber hinaus befürwortete Kaltofen ebenfalls eine tiefergehende Analyse der Ursachen für Übergriffe. „Da dürfen wir auch falsches Verhalten unserer eigenen Beschäftigten nicht ausschließen“, mahnte er. Grundsätzlich hält der Praktiker die Ansätze von großen Organisationen wie der Arbeitsverwaltung auch auf andere Bereichen übertragbar: „In unserer Stadt sind wir dazu im Gespräch, um die kommunalen Service-Bereiche ähnlich auszugestalten wie in unserem Jobcenter.“ Zuletzt seien hinsichtlich des Themas auch einige Erfolge zu verzeichnen: „Vor zehn Jahren war die Arbeitsverwaltung sicherheitstechnisch noch ‚Niemandsland‘. Das ist heute ganz anders.“
Ronald Mikkeleitis vom Ordnungsamt Berlin Reinickendorf bedauerte, dass die Tätigkeit seiner Mitarbeitenden häufig unterschätzt werde. „Wir arbeiten in meinem Bezirk auf Augenhöhe mit der Polizei zusammen.“ Der Ordnungsamtsleiter, der bereits seit 2015 bundesweit praxisnahe Deeskalationsseminare anbietet, empfahl eindringlich, alle Bereiche mit direktem Bürgerkontakt im Fokus zu behalten. „Die Gewaltdelikte steigen Jahr für Jahr. Es ist längst überfällig, dass wir mit wirksamen Methoden – auch der Prävention - dagegen angehen.“ Mikkeleitis kritisierte die oft fehlende Wertschätzung gegenüber Ämtern und Behörden, die nicht zuletzt den Boden für Übergriffe bereite: „Wir sollten wieder in den Blick bringen, was der öffentliche Dienst für die Bürgerinnen und Bürger leistet. Stellen Sie sich vor, was los wäre, wenn der öffentliche Dienst nur für eine Woche die Arbeit einstellen würde…“
Wie Sicherheit und Schutz von Beschäftigten im öffentlichen Dienst bereits in der Praxis dienststellenübergreifend betrachtet und realisiert werden können, erläuterte Polizeioberrat André Niewöhner von der Initiative „Mehr Sicherheit und Schutz von Beschäftigten im öffentlichen Dienst“ aus Nordrhein-Westfalen. „Wir wissen, dass Bereiche, die als Ziele gewalttätiger Übergriffe weniger im Fokus stehen als beispielsweise Polizei, Ordnungsämter oder Rettungsdienste, sehr gefährdet sind. Es ist wichtig, diese Ecken ausleuchten.“ Die in der Arbeit der Initiative gewonnenen Erfahrungen zeigten, dass viele Grundkonzepte für Organisationsaufgaben übergreifend funktionierten, es aber auch Dinge gebe, die nur in bestimmten Tätigkeitsbereichen passten. „Das wichtigste ist, dass wir alle dabei haben“, so der Leiter des Netzwerks, „aus der Gemeinsamkeit entstehen strukturelle Gedanken, die wir der Politik mitteilen können.“ Killer jeder Konzeptumsetzung sei indes mangelnde Kommunikation, so Niewöhners Warnung: „Was man vorhat, muss man abstimmen, erst dann lässt sich prüfen, ob es klappt.“ Auch sei es enorm wichtig, Führungskräfte jeweils konsequent einzubinden.