dbb magazin 6/2021

nachgefragt Es muss vorangehen mit dem sozialen Europa Was bedeutet die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) aus Ihrer Sicht? Hubertus Heil: Die Europäische Säule sozialer Rechte ist ein starkes Bekennt­ nis zur sozialen Dimension Eu­ ropas. Und die ist heute wichti­ ger denn je. Es geht schließlich darum, europaweit die wirt­ schaftlichen und sozialen Fol­ gen der Pandemie zu bewälti­ gen. Die Säule ist dafür ein guter Kompass. Sie enthält 20 Grundsätze zur Beschäfti­ gungs- und Sozialpolitik. Ziel ist es, die Lebensverhältnisse der Menschen überall in Euro­ pa zu verbessern und für mehr soziale Gleichheit zu sorgen. Dieses Ziel war mir auch wäh­ rend der deutschen EU-Rats­ präsidentschaft ein großes An­ liegen. Nötig sind zum Beispiel stärkere Mindestsicherungs­ systeme, um Armut und sozia­ le Ausgrenzung zu bekämpfen. Dazu sind uns Ratsschluss­ folgerungen gelungen. Auch angemessene Mindestlöhne sind natürlich essenziell – in Deutschland wie in der EU. Ich setze mich dafür ein, dass sich der Rat und das Europäische Parlament bald auf eine Richt­ linie verständigen, die erstmals für alle Mitgliedstaaten der EU Mindeststandards für faire Löhne festlegen. Dabei sind die besonderen Traditionen der Mitgliedstaaten zu beachten. Und erst kürzlich war ich in Vertretung der Bundeskanzle­ rin in Porto. Dort haben die Staats- und Regierungschefs auf Einladung der portugiesi­ schen Ratspräsidentschaft beim Sozialgipfel eine ambitio­ nierte Porto-Erklärung verab­ schiedet. Es muss vorangehen mit dem sozialen Europa – und ich finde es gut, dass unsere portugiesischen Freunde das Thema genauso vorantreiben wie wir es im letzten Halbjahr getan haben. Welche Wirkung kann die Säule entfalten? Ist sie eigentlich nicht rechtsverbindlich? Die Säule ist streng genommen kein rechtlich verbindliches Dokument. Aber sie entfaltet Kraft als politisches Bekennt­ nis. Und mittelbar entstehen durchaus verbindliche Pflich­ ten. Denn die einzelnen Grund­ sätze können und sollen ja auf den entsprechenden Ebenen in konkrete Maßnahmen fließen – und zu Richtlinien, Empfeh­ lungen oder nationalen Geset­ zen werden. Diesen Prozess unterstütze ich nachdrücklich. Die bisherige Bilanz fällt positiv aus. Bereits unter Jean-Claude Juncker hat die EU-Kommission erste Vorhaben zur Umsetzung vorgelegt. Dem steht die aktu­ elle Kommission in nichts nach. Deren sozialpolitisches Ambiti­ onsniveau war von Beginn an hoch. Wir verhandeln im Rat bereits den erwähnten Richtli­ nienvorschlag über angemesse­ ne Mindestlöhne. Und imMärz hat die EU-Kommission ihren Aktionsplan zur Umsetzung der ESSR veröffentlicht und eine Reihe weiterer Initiativen an­ gekündigt. Diese können viel bewirken, so zum Beispiel eine Ratsempfehlung für angemes­ sene Mindestsicherungssyste­ me oder ein Instrument, das verbindliche Mindeststandards für Plattformbeschäftigte schafft. Was sind mit Blick auf die deut- sche Sozialpolitik die wichtigs- ten Elemente der Säule? Wie gerade schon erwähnt: Auch auf nationaler Ebene kön­ nen wir einen Beitrag dazu leis­ ten, die ESSR umzusetzen. Die Bundesregierung hat dies in die­ ser Legislaturperiode mit zahl­ reichen Vorhaben getan. Eines der wichtigsten ist die Grund­ rente, die ab diesem Jahr gilt. Außerdem bauen wir mit der Nationalen Weiterbildungs­ strategie, dem Qualifizierungs­ chancengesetz und dem Ar­ beit-von-morgen-Gesetz die Förderung von Beschäftigten aus und schaffen gute Bedin­ gungen für lebenslanges Ler­ nen. Denn darauf kommt es an, wenn wir wollen, dass die Beschäftigten von heute die Arbeit von morgen erledigen können. Last, but not least ha­ ben wir mit dem Teilhabechan­ cengesetz dafür gesorgt, dass auch Langzeitarbeitslose einen Weg zurück in Arbeit – und da­ mit in alltägliches Miteinander – finden. Welche Bedeutung messen Sie der Konferenz über die Zukunft Europas bei? Die Konferenz zur Zukunft Europas ist ein spannender Prozess. Hier haben die rund 450 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger das Wort. Sie kön­ nen ihre Ideen für die Entwick­ lung der Europäischen Union einbringen. „Wie soll die EU in 10 bis 15 Jahren aussehen?“ – genau darum geht es. Das ist eine noch nie dagewesene europaweite Übung in Sachen Demokratie, an der sich die Bundesregierung sehr gerne beteiligt. Mein Ministerium wird Mitte Juni eine Zukunftswerkstatt zum sozialen Europa veranstal­ ten, mit viel Raum für eigene Ideen der Bürgerinnen und Bürger. Ich selbst bin auch dabei. Und ich bin überzeugt, dass die Debatten über die Zukunft Europas in die Mitte unserer Gesellschaft gehören. Denn Europa ist eine gute Sa­ che. Und ein soziales Europa umso mehr. ? nachgefragt bei ... ... Bundesarbeits- und -sozialminister Hubertus Heil < Hubertus Heil leitet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) seit März 2018. © BMAS/Dominik Butzmann < Webtipp Das vollständige Interview online in den aktuellen dbb europathemen: www.dbb.de/presse/media thek/magazine/europathemen/ europathemen-2021.html 21 dbb > dbb magazin | Juni 2021

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