dbb magazin 12/2020

Intensivpfleger Auf ihn kommt es jetzt an Niclas Frie wollte eigentlich Medizin studieren. Dann wurde er lieber Intensivpfleger. Jetzt sind er und seine Kolleginnen und Kollegen das knappste Gut im Kampf gegen die Pandemie. Was heißt das für ihren Alltag? Ein Besuch auf Station. portrait Das Drehen ist ein Problem. Das Drehen ist wichtig, sagt Niclas Frie, damit sich die Pati­ enten nicht wund liegen und weil die Bauchlage die Lunge entlastet. Aber zugleich ist das Drehen schwierig, wegen der Schläuche und erst recht, wenn die Patienten an der künstli­ chen Lunge hängen. „Zu dritt, zu viert, zu fünft ma­ chen wir das“, sagt Niclas Frie. Drei, vier oder fünf Pflegerin­ nen und Pfleger also, die sich Schutzkleidung anziehen, aus­ ziehen, desinfizieren. Allein das kostet am Tag eine halbe Stun­ de. Aber das ist nur ein Beispiel. Es ist Dienstagmorgen im November, Niclas Frie steht in Zimmer 221, am Bett von Patient S. Der ist 60 Jahre alt, er wird über eine Kanüle in seiner Luftröhre künstlich be­ atmet und über eine Sonde künstlich ernährt, im Vorraum steht das Dialysegerät, an das er stundenweise angeschlos­ sen wird. Frie, 32 Jahre, groß, schlaksig, trägt einen weiten Schutzkit­ tel, grüne Handschuhe, Maske über Mund und Nase, Schutz­ schild vor dem Gesicht. S. ist wach, der weite Blick aber un­ bewegt zur Decke gerichtet. Wie es ihm gehe, fragt Frie. Die Reaktion ist ein kaum merkliches Nicken. Herr S. ist seit dem 7. Oktober Corona­ positiv, seitdem im Kranken­ haus, seit einer Woche liegt er hier, auf der Intensivstation der Karl-Hansen-Klinik. „Drücken Sie doch mal meine Hand“, bittet Frie Herrn S. Des­ sen Finger schließen sich, ganz langsam, wie mit unendlicher Mühe. „Sehr gut“, sagt Frie aufmunternd. Später wird er sagen, dass S. Fortschritte mache, aber auch, dass der Händedruck seiner dreijährigen Tochter deutlicher fester sei. Es liegt noch ein langer Weg vor Patient S. – und sehr viel Arbeit vor Niclas Frie und sei­ nen Kolleginnen und Kollegen. Wahrscheinlich mehr Arbeit, als sie schaffen können. Die Intensivstationen in Deutschland stehen vor einem riesigen Problem. Mehr als 3000 Corona-Patienten behan­ deln sie derzeit, mehr als auf dem Höhepunkt im Frühjahr. Nur dass damals die Zahl der Neuinfektionen bereits sank, während sich jetzt ein Berg von weiteren, bereits infizierten Pa­ tienten auf sie zubewegt, ohne dass der aktuelle Lockdown da­ ran etwas ändern könnte. Die Menschen landen eben erst mit Verzögerung auf den Intensiv­ stationen. „In vier Wochen wer­ den wir die Folgen der Spitzen­ werte jetzt sehen“, warnt der Präsident der Intensiv- und Not­ fallmediziner, Uwe Janssens. Knapp 7000 freie Erwachsenen­ intensivbetten weist die Statis­ tik noch aus. Nur ist das, wie sie hier wissen, im Zweifel ein eher theoretischer Wert. „Corona war bei uns nie weg“, sagt Niclas Frie, Intensivpfleger und Leiter der Intensivstation. „Wir hatten hier, bis auf eine halbe Woche mal, immer Corona-Patienten.“ Die Karl-Hansen-Klinik in Bad Lippspringe ist ein Spezialfall, eine Drei-in-eins-Klinik: Akut­ spital für die Region, Fachklinik für das Land und stille Reserve im Kampf gegen die Pandemie. Mehr als 200 COVID-Patienten haben sie hier in der ersten Welle versorgt, auch manche aus Belgien. Es sind die schwers­ ten Fälle, die hierherkommen. Die, von denen klar ist, dass sie lange brauchen werden, um ins Leben zurückzufinden. Al­ lein 40 Intensivbetten haben sie hier, die High-Care-Unit mit 16 Betten wurde erst vor ei­ nem Jahr gebaut. Helle Gänge, nur Einzelzimmer, modernste Geräte, von denen einige noch unter Folie auf den Gängen stehen. An Geräten, so viel ist klar, mangelt es nicht. 28 Intensivbetten sind jetzt be­ legt, davon vier mit COVID-19- Patienten. 28 von 40, das klingt nach viel Platz. Nur sagt Frie eben auch: „Bei 30 sind wir hier eigentlich am Ende.“ Mit dem Personal, nicht mit den Betten. Das ist etwas, was viele in Deutschland erst lernen muss­ ten: dass es nicht allein darum geht, ob es genug Beatmungs­ geräte und Betten für COVID- Patienten gibt, sondern vor allem darum, ob es genug Menschen gibt, die sich um sie kümmern. 3000 bis 4000 Intensivpflege­ rinnen und -pfleger, so rechne­ ten Experten zuletzt, fehlen. Frie war Rettungssanitäter, er wollte Medizin studieren, die Pflegeausbildung sollte die Wartezeit überbrücken. Doch dann realisierte er, dass er sich geirrt hatte: „Ich merkte, dass ich Menschen von A bis Z ver­ sorgen wollte.“ Und dass der Arztberuf da nicht das Richtige war. Wenn er heute über die Gänge der Station geht, kann 10 > dbb magazin | Dezember 2020

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