dbb magazin 11/2020

interview funktioniert und wo es Defizite gibt. Lange wurde an der Über­ wachung des Arbeitsschutzes in den Ländern gespart. Arbeits­ schutz galt häufig als überflüs­ sige Bürokratie. Doch Arbeits­ schutz ist Gesundheitsschutz, das ist eine zentrale Lehre aus Corona. Die unmenschlichen Bedingungen in der Fleischin­ dustrie haben gezeigt, dass Ar­ beitsschutz wirksam kontrol­ liert werden muss. Deshalb ist es so wichtig, dass wir das Ar­ beitsschutzkontrollgesetz jetzt auf den Weg gebracht haben. Wir setzen nun bundesweit einheitliche Maßstäbe für die Prüfungen fest und erhöhen bis 2026 deutlich die Kontroll­ dichte. Kommen wir zur Politik für die Belange von Menschen mit Behinderung. Im Hinblick auf die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen nimmt der öffentliche Dienst in den meisten Bundesländern eine Vorreiterrolle ein. Aller- dings wird in vielen Bereichen die Schwerbehinderung erst im Verlauf des Arbeitslebens erworben. Wie können die Dienststellen unterstützt wer- den, um die Beschäftigten im Arbeitsleben zu halten und nicht in den vorzeitigen Ruhe- stand entlassen zu müssen? Eine Behinderung kann jeden treffen, und tatsächlich ent­ stehen die meisten Behinde­ rungen im Lauf des Lebens. Zugleich ist Arbeit für die meis­ ten Menschen mehr als Brot­ erwerb, sie ist Teil der eigenen Identität. Das soll, wenn mög­ lich, auch im Falle einer Behin­ derung erhalten werden. Ein wichtiges Instrument ist des­ halb beispielsweise das Be­ triebliche Eingliederungs­ management. Worauf kommt es beim Be- trieblichen Eingliederungs­ management an? Entscheidend ist, dass die Men­ schen weiterarbeiten können. Dafür müssen wir Arbeitsunfä­ higkeit vorbeugen und sie wo möglich überwinden. Mir be­ richten viele Beschäftigte, dass es entscheidend auf Freiwillig­ keit und ein gutes Vertrauens­ verhältnis zum Arbeitgeber ankommt. Die betroffenen Be­ schäftigten müssen imMittel­ punkt stehen und ihre Rück­ kehr an den Arbeitsplatz aktiv mitgestalten können. Wenn wir es schaffen, dass die Be­ schäftigten weiterarbeiten können, hilft das den Men­ schen ganz konkret. Es hilft aber auch den Betrieben, wenn Spezialisten dank des Betrieb­ lichen Eingliederungsmanage­ ments weiterarbeiten können. Das ist ein wichtiger Beitrag gegen den Fachkräftemangel. Bereits 2016 hat die Bundes­ regierung die zweite Auflage des Nationalen Aktionsplans zur UN-Behindertenrechtskon- vention (NAP 2.0) verabschie- det. Wo stehen wir aus Ihrer Sicht heute in Sachen Inklusion in Deutschland? Und was muss passieren, um Menschen mit Behinderung mehr Selbstbe- stimmung und Teilhabe zu er- möglichen? Mit dem Nationalen Aktions­ plan unterstützen wir die Ver­ wirklichung der UN-Behinder­ tenrechtskonvention. Es ist gut, dass sich mittlerweile alle Bundesressorts mit gemein­ sammehr als 100 neuen Maß­ nahmen beteiligen. Im Bereich „Arbeit“ haben wir mit dem Budget für Ausbildung einen neuen Baustein für die berufli­ che Inklusion und damit eine weitere Alternative zur Be­ schäftigung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung geschaffen. Persönlich freut mich besonders, dass wir nach langem Ringen die Wahlrechts­ ausschlüsse endlich abge­ schafft haben. Welche Pläne haben Sie bei dem Thema Menschen mit Behinde- rung noch in der Legislatur? Gerade für Menschen mit Be­ hinderungen ist Corona eine harte Belastung. Um die not­ wendigen Einrichtungen zu un­ terstützen, haben wir in der Corona-Pandemie ein ent­ sprechendes Gesetz erlassen, das die soziale Infrastruktur sichert. Und wir haben dafür gesorgt, dass coronabedingte Einkommenseinbußen bei Be­ schäftigten in Werkstätten kompensiert werden. Mit Blick auf die Zukunft prüfen wir gerade, wie eine gesetzliche Umsetzung einer Gewaltschutzstrategie für Menschen mit Behinderung erfolgen kann. Und wir bringen ein Gesetz zu Assistenzhunden auf den Weg. Diese Tiere hel­ fen vielen Menschen mit Be­ hinderungen dabei, ihren All­ tag zu bewältigen und am Leben in der Gesellschaft teil­ zuhaben. Auch die Reform des Betreuungsrechts ist ein wich­ tiger Baustein. Das alles zeigt: Es gibt noch was zu tun, aber wir haben auch schon einiges geschafft. Deutschland hat noch bis Jah- resende die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union inne. Wird es von der Bundes­ regierung konkrete Initiativen zur Stärkung der „Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR)“ geben? Ein soziales Europa ist ein star­ kes Europa, das wird gerade in der Corona-Pandemie deutlich. Wir brauchen soziale Gerech­ tigkeit in und zwischen den Mitgliedstaaten. Ausbeutung darf in Europa kein Geschäfts­ modell sein. Die „Europäische Säule Sozialer Rechte“ ist unser Kompass, um den sozialen Schutz zu verbes­ sern. Aktuell finden Gespräche zur weiteren Umsetzung statt, 2021 will die EU-Kommission einen Aktionsplan vorlegen. Ganz konkret haben wir im Rahmen der Ratspräsident­ schaft die EU sozialer gemacht. Wir haben einen Rahmen für Mindestsicherungssysteme vor­ angebracht sowie den Schutz von Saisonarbeitskräften und die Jugendgarantie verbessert. Das ist ein starkes Signal an die junge Generation. Statt Arbeits­ losigkeit soll es Ausbildung, Praktika und Unterstützung beim Berufseintritt geben – überall in der EU. Wir lassen niemanden allein. Europa bleibt ein Kontinent der Chancen. Im kommenden Jahr wird ein neuer Bundestag gewählt. Im aktuellen Koalitionsvertrag hatten CDU und SPD sich da­ rauf verständigt, den Miss- brauch bei den Befristungen von Arbeitsverträgen abzu- schaffen. Wird denn wirklich noch in dieser Legislaturperio- de ein entsprechendes Gesetz verabschiedet? Wir erleben gerade eine der größten Krisen nach dem Zweiten Weltkrieg, auf die wir mit dem Kurzarbeitergeld, der Ausbildungsprämie und dem erleichterten Zugang zur Grundsicherung schnell und zielsicher reagiert haben. Das war so nicht geplant, aber na­ türlich dringlich – und hat viele unserer personellen Ressour­ cen gebunden. Das Thema Be­ fristungsrecht steht aber nach wie vor auf der politischen Agenda. Sie haben die aktuelle Entwick- lung der Corona-Pandemie an- gesprochen. Wie blicken Sie in die Zukunft? Das oberste Ziel ist es, die Ge­ sundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Das geht nur mit vernünftigem Verhal­ ten und angemessenen staatli­ chen Maßnahmen. Wir können nicht für jeden Arbeitsplatz ga­ rantieren, aber wir kämpfen mit der Ausbildungsprämie und der Kurzarbeit um jeden Arbeitsplatz. Die Kurzarbeit ist unsere Brücke über dieses tiefe wirtschaftliche Tal. Wir rech­ nen im Verlauf des kommen­ den Jahres zwar mit einer wirt­ schaftlichen Belebung. Bis dahin sichert Kurzarbeit millio­ nenfach Arbeitsplätze und gibt den Unternehmen nach der Krise die Möglichkeit, mit ihren Fachkräften wieder wirtschaft­ lich durchstarten zu können. 5 dbb > dbb magazin | November 2020

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