dbb magazin 10/2020

senioren Zivilcourage wirkt gegen Respektlosigkeit Obwohl ältere Menschen zu- mindest statistisch betrachtet selten Opfer von Straftaten werden, klagen viele über All- tagsdiskriminierung, verbale Übergriffe und mangelnden Respekt. Besonders deutlich wird das in der derzeitigen Pandemiekrise. Welche Me- chanismen sind hier am Werk und wie können Se- nioren dem begegnen? Dieter Frey Zunächst können wir uns glücklich schätzen, dass wir in einem Land leben, in dem es relativ wenig Kon­ flikte zwischen den Generatio­ nen gibt. Vor allem auch im familiären Bereich ist das Kli­ ma zwischen Eltern, Großel­ tern und Kindern im Durch­ schnitt sehr gut. Die Enkel freuen sich über die Großel­ tern, die Großeltern über die Enkel. Andererseits ist die All­ tagsdiskriminierung älterer Menschen dennoch vorhan­ den – wenn auch nicht in der eigenen Familie. Es stimmt, dass vielen älteren Menschen respektlos begeg­ net wird, insbesondere dann, wenn sie irgendwas blockie­ ren und man zum Beispiel nicht so schnell beim Einkau­ fen, auf dem Bürgersteig oder im Verkehr vorankommt. Ge­ rade in der Pandemie hört man ab und zu auch von jun­ gen Menschen: „Lasst doch die Alten sterben. Sie sterben ja ohnehin und haben nur noch wenige Jahre zu leben. Warum sollen wir Restriktio­ nen erleiden, nur damit die Alten nicht infiziert werden?“ Das ist zwar keine gängige Meinung, aber sie wird geäu­ ßert und ist oft verbunden mit einem gewissen „Unsterblich­ keitsglauben“ der Jugend. Möglicherweise fühlen sich junge Menschen von steigen­ den Anforderungen der Ar­ beitswelt ge- oder überfordert und müssen dazu in ihren Au­ gen hohe Steuern auf ihre Ar­ beitsleistung zahlen, um die Rente der älteren Generation zu stemmen. Fünf Dinge sind mir in diesem Zusammenhang wichtig: Ins­ gesamt vermisse ich so etwas wie Dankbarkeit für die Le­ bensleistung der älteren Men­ schen. Nach dem Krieg haben die Eltern und Großeltern die­ ses Land Schritt für Schritt auf­ gebaut. Der Wohlstand, den die Jugendlichen heute genie­ ßen, fußt auf dieser harten Ar­ beit. Die jetzt Älteren mussten auf vieles verzichten, um die­ sen Aufbau zu leisten, und für viele Jugendliche ist durch die­ se Lebensleistung überhaupt erst das jetzige Niveau erreich­ bar. Viele genießen dadurch einen guten finanziellen Back­ ground. Bei der sogenannten Elite von Führung, also bei Lehrern, Pro­ fessoren und den Führungs­ kräften von Wirtschaft und Verwaltung, vermisse ich, dass sie diese Lebensleistung ihren Schülern, Studenten und Mit­ arbeitern vermitteln. Man muss nicht täglich darauf her­ umreiten. Dezente Hinweise genügen. So halte ich das auch selbst in meinen Vorlesungen. Bei verbalen Übergriffen und mangelndem Respekt gegen­ über Älteren erwarte ich die nötige Zivilcourage vom jewei­ ligen Umfeld, Respektlosigkei­ ten klar zurückzuweisen. Junge Menschen werde auch alt – ein respektvoller Umgang ist das Minimum. Ich denke aber auch, dass Älte­ re selbst Zivilcourage zeigen sollten. Vielleicht nicht allein, aber zu zweit oder zu dritt. Gute Möglichkeiten zu reagie­ ren sind Automatismen wie: „Das finde ich unfair, das finde ich nicht o. k. Das sehe ich an­ ders …“ Schon Immanuel Kant sagte: Behandle andere respektvoll. Genauso wichtig ist: Wenn du dich nicht respektvoll behan­ delt fühlst, zeige Selbstrespekt und Selbstbewusstsein. Inso­ fern würde ich mir wünschen, dass auch die Älteren den Mut haben, das auch zu artikulie­ ren. Das kann sehr dezent oder humorvoll geschehen. Nichtstun, Wegschauen und Weghören machen die Welt nicht besser. Ältere Menschen sollten zwar nicht als Besser­ wisser und Oberlehrer auftre­ ten und sofort intervenieren, wenn junge Leute auf dem Spielplatz auch mal in der Mit­ tagszeit Fußball spielen – auch Seniorinnen und Senioren ver­ halten sich nicht immer res­ pektvoll gegenüber Kindern und Jugendlichen. Notwendig wäre also nicht nur, eine Wertschätzungs- und Anerkennungskultur in der Gesellschaft zu etablieren, sondern auch eine Kultur des respektvollen, fairen Um­ gangs und eine Kultur der Zi­ vilcourage. Da haben wir auf jeden Fall Potenzial. Da sind wir alle gefragt durch ein Vor­ bildverhalten und die Art und Weise, wie wir auf Respektlo­ sigkeiten reagieren. Ich wün­ sche mir, dass ältere Men­ schen in der Gesellschaft nicht als Problem oder Belas­ tung wahrgenommen werden, sondern als Bereicherung. ? eine frage an ... ... Prof. Dr. Dieter Frey, Sozialpsychologe, Leiter des Center for Leadership and People Management der Ludwig-Maximilians-Universität München Foto: Nelia Sapronova / Colourbox.de 33 dbb > dbb magazin | Oktober 2020

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