dbb magazin 10/2020

30 Jahre deutsche Einheit Zuhören und voneinander lernen Er erinnert sich eindrücklich an den Mauerfall. Sie ist als Nachwendekind dankbar für die Freiheiten, mit denen sie im Osten aufwachsen durfte. Die Vorsitzende der dbb jugend, Karoline Herrmann, und Horst Günther Klitzing, Vorsitzender der dbb Senioren, blicken aus unterschiedlichen Perspekti­ ven auf die deutsche Einheit. Für den aktuellen t@cker haben sie darüber gesprochen, welche Un­ terschiede es noch zwischen Ost und West gibt und wie wir sie überwinden. „Ob wir heute eine Einheit sind, darüber lässt sich strei­ ten. Natürlich sind wir eine Einheit, wenn wir an die Spra­ che und die Kultur denken. Aber auch das sieht schon nicht jeder so wie ich“, sagt dbb Seniorenchef Horst Gün­ ther Klitzing. Für den 72-Jähri­ gen war immer klar, dass die Wiedervereinigung viel Zeit braucht, nachdemman mehr als 40 Jahre in unterschiedli­ chen gesellschaftspolitischen Umgebungen gelebt hat. Die Vorsitzende der dbb ju­ gend, Karoline Herrmann, ist 1990 geboren und kennt nur ein wiedervereintes Deutsch­ land. „Ich habe selbst keine eigenen Erinnerungen an die DDR. Meine Generation durf­ te die ganzen Vorzüge, die die Einheit mit sich gebracht hat, erleben. Ich bin in Mecklen­ burg-Vorpommern aufge­ wachsen, habe aber in Schles­ wig-Holstein studiert. Den Studienort frei wählen zu können, das wäre mit der Tei­ lung nicht möglich gewesen.“ Doch auch über 30 Jahre nach demMauerfall begegnen Herr­ mann immer wieder die Kate­ gorien „Ossi“, „Wessi“ und die damit verbundenen negativen Zuschreibungen. „Die Mauer in den Köpfen ist leider oft noch vorhanden.“ Vor einigen Jahren habe ihr der Funktionsträger einer Gewerkschaft gesagt, dass ihr Abitur weniger wert wäre. „Dieser Kommentar ist abkömmlich. Nachweislich ist in den westlichen Bundeslän­ dern an einigen Schulen we­ sentlich Schlechteres geleistet worden“, entgegnet Klitzing bestürzt. Das Bild der Mauer sei ihm allerdings zu massiv. „Es wird aktuell auch von der Pres­ se oft genutzt, weil es ein­ drücklich ist. Aber wir haben keine Mauer mehr. Das Bild ist nicht mehr angemessen.“ Regi­ onale Unterschiede werde es immer geben – auch zwischen Bayern und Schleswig-Holstein. Einige Begrifflichkeiten kämen auch nicht von den Menschen, sondern hätten sich institutio­ nell so eingebürgert und wür­ den die Linie zwischen Ost und West künstlich nachzeichnen. << Vertrauen in die Gewerkschaften stärken Als Karoline Herrmann zu Hau­ se erzählt, dass sie der komba gewerkschaft beigetreten ist und sich in der dbb jugend engagiert, sind ihre Eltern er­ schrocken: „Kind, mach das nicht!“ In der DDR gab es nur eine Gewerkschaft. „Das war in den Erzählungen meiner Fami­ lie immer ein Einheitsbrei. Man war Mitglied, hatte aber nichts davon.“ Die Erfahrungen wir­ ken auch bei den Gewerkschaf­ ten im dbb bis heute nach. „Wir sind in vielen ostdeut­ schen Bundesländern nicht so mitgliederstark wie in man­ chen westlichen oder südlichen Regionen. Das Vertrauen in die Gewerkschaftsarbeit musste nach 1990 erst neu aufgebaut werden“, hält Herrmann fest. „Im dbb hat man von Anfang an versucht, die Vertretungen aus den östlichen Bundeslän­ dern formal und bei der inhalt­ lichen Arbeit einzubinden“, er­ innert sich Klitzing. Herrmanns Eltern sind mittlerweile von der Gewerkschaftsarbeit über­ zeugt. „Sie finden das, was ich mache, richtig und wichtig.“ Wie überzeugt die Vorsit­ zende der dbb jugend junge Menschen im Osten, sich gewerkschaftlich zu organi­ sieren? „Da mache ich in der Ansprache in Ost- und West­ deutschland keine Unterschie­ de.“ Die 30-Jährige bringt die Vorteile auf den Tisch: Der dbb habe mit über 40 Fachge­ werkschaften Expertinnen und Experten für jede Berufs­ gruppe. „Mit den ehrenamtli­ chen Strukturen erreichen wir in den Branchen eine ganz an­ dere Nähe, als würde man al­ les nur vom Schreibtisch aus der Ferne betrachten.“ Für viele junge Menschen sei das entscheidende Argument, dass man sich selber einbrin­ gen und aktiv mitmachen kann. „Es wird nicht alles von oben entschieden. Von jeder Ortsgruppe aus kann man sich beteiligen.“ << Arbeitszeit und Rente angleichen Der Jahresbericht zum Stand der Einheit 2020 und mehrere Studien des Deutschen Insti­ tuts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) zeigen, dass sich die Erwerbstätigkeit und das Renteneinkommen zwar ange­ glichen haben, aber noch lange nicht einheitlich sind. Die west­ deutschen Rentnerinnen und Rentner beziehen bisher insge­ samt sehr viel höhere Alters­ einkommen. Diese setzen sich neben der gesetzlichen Rente aus privaten und betrieblichen Renten sowie Einnahmen aus Vermögen zusammen. Den heutigen Rentnerinnen und Rentnern, die vor allem in der DDR erwerbstätig waren, fehl­ te meist die Möglichkeit, zu­ sätzlich Vermögen oder private Rentenanwartschaften aufzu­ bauen. Doch auch die gesetzli­ che Rente (Ost) hat 30 Jahre nach Herstellung der deut­ schen Einheit immer noch jugend << Karoline Herrmann und Horst Günther Klitzing © Jan Brenner 28 dbb > dbb magazin | Oktober 2020

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