dbb magazin 10/2020

portrait lich die Hand gebrochen, wenn nicht ein kleiner, vermutlich arabischstämmiger Mann den Angreifer gepackt und so in den Griff genommen hätte, dass der sich so lange nicht mehr bewegen konnte, bis die Bundespolizei ihn abgeholt hat.“ Der Vorfall ereignete sich in einem voll besetzten Groß­ raumwagen, erinnert sich Bäs­ elt. „Da saßen Kräftigere und haben zugeschaut, wie der mir ohne Vorwarnung an den Kra­ gen gegangen ist. Es gibt leider kaum Leute, die helfen.“ Die Verletzung am Handgelenk war dann doch so erheblich, dass René Bäselt zum Arzt ging und eine Krankschreibung be­ kam. „Ich habe sogar Anzeige erstattet, aber nie mehr etwas gehört, da die betreffende Per­ son, die einen Migrationshin­ tergrund hatte, nirgendwo auf­ findbar war.“ << Hohe Dunkelziffer Vor und nach den beiden bru­ talen Attacken habe es weitere Vorfälle gegeben, räumt der leidenschaftliche Eisenbahner ein, der seinen Berufsweg 1987 als Siebzehnjähriger mit der Ausbildung zum Facharbeiter für Eisenbahnbetrieb bei der Deutschen Reichsbahn begon­ nen hatte. „Neben den körper­ lichen Angriffen sind es die ver­ balen Attacken, denen fast alle, die im Zugbegleitdienst arbei­ ten, schon mal ausgesetzt wa­ ren.“ Er selbst sei schon sehr beleidigt und mit Ausdrücken geschmäht worden. „Die Spannweite reicht von Klein­ geist bis hin zu weit bösartige­ ren Ausdrücken, die ich nicht näher ausführen möchte“, sagt Bäselt. „Meines Erachtens liegt die Dunkelziffer bei den Verbal­ attacken noch weit höher als bei den weniger folgenschwe­ ren körperlichen Übergriffen, wie Schubsen oder am Ärmel reißen.“ Viele Kollegen würden solche Vorfälle eher runterspie­ len, statt Meldung zu machen: „Ich erlebe auch, dass Kollegin­ nen und Kollegen sich entwe­ der nicht die Zeit nehmen, ein Formular dafür auszufüllen, oder gar nicht wissen, dass es hierfür ein Formular gibt. Im Rahmen der Digitalisierung sollte es doch inzwischen mög­ lich sein, derartige Vorfälle über das Diensthandy oder -tablet direkt zu versenden: sei es nun per App oder per Link zu einemOnline-Formular.“ Mit Besorgnis blickt René Bä­ selt auch auf die Personalsitu­ ation im Regionalverkehr. „Im Fernverkehr sind wir im Zug­ begleitdienst mindestens zu zweit und haben in den Bord­ bistros oder Speisewagen noch zwei oder drei ‚Gastros‘ an Bord. Auf den Regios ist nur eine Person, denen in den mo­ dernsten Zügen nicht einmal mehr ein Dienstabteil zur Ver­ fügung steht.“ << Mehr wirksame Sanktionen Erst vor ein paar Tagen habe ihm eine Kollegin erzählt, dass sie in einem Regionalzug von vier Männern angegriffen wur­ de. In diesem Fall seien Fahrgäs­ te eingeschritten. Aber was ist, wenn so etwas spät am Abend passiert, wenn der Zug fast leer ist? „Schwierig, selbst wenn es ein Mann ist, der diese Schicht fährt“, sagt Bäselt ernst. In welchem Ausmaß Zugbeglei­ terinnen über die üblichen Res­ pektlosigkeiten und Zumutun­ gen hinaus auch sexuelle Belästigungen erdulden müs­ sen, ist sogar für den engagier­ ten Gewerkschafter schwer zu durchdringen. „Das Thema se­ xuelle Übergriffe kann ich nur sehr schwer beurteilen, weil derartige Delikte nur selten und wenn, dann erst sehr spät oder anonym dokumentiert werden. Hier sprechen die Er­ gebnisse der aktuellen GDL- Umfrage ‚Mit Sicherheit‘ eine eindeutige Sprache.“ Was tun? „Mehr und wirksame Sanktio­ nen gegen Gewalttäter verhän­ gen und sie nicht – wie wir alle es schon erlebt haben – gleich wieder laufen lassen: Eine bes­ sere Strafverfolgung wäre die logische Konsequenz.“ René Bäselt könnte sich aber auch vorstellen, dass er und seine Kolleginnen und Kollegen im Zugbegleitdienst für ihre eigene Sicherheit dazulernen. „Die Bahn bietet zwar Deeska­ lationsschulungen an; was ei­ nem dort beigebracht wird, ist aus meiner Sicht aber mit der Realität nicht vereinbar. Besser wäre es, einfache Techniken zu vermitteln, mit denen man sich schützen kann, indem man lernt, auf engstem Raum zu agieren, sich im Notfall aus einer brenzligen Situation be­ freien zu können oder einem Angriff auszuweichen. Hierbei kommt es auch auf die Körper­ sprache an, die dem Gegen­ über vermittelt ‚Fass’ mich nicht an!.“ cri << Tatort Eisenbahn Bahnmitarbeiterinnen und -mitarbeiter leben zunehmend gefähr­ lich. Das belegen nicht nur die Ergebnisse der von der Gewerk­ schaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bundesweit bei 2 500 Zugbegleitern und Lokführern aller Eisenbahnverkehrsunterneh­ men durchgeführten und im Juni 2020 veröffentlichten Online-Be­ fragung „Mit Sicherheit“ (mehr dazu im „hintergrund“ ab Seite 15). Auf eine parlamentarische Anfrage der Linken-Fraktion räumte auch die Bundesregierung eine erhebliche Zunahme registrierter Angriffe von bundesweit 1 876 (2015) auf 2 558 im Jahr 2019 ein. Wenig Anlass zu Optimismus bieten auch die ersten Zahlen für das laufende Jahr. Wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) Ende August berichtete, registrierte die Deutsche Bahn (DB) allein imMai und Juni 2020 bundesweit zwischen 89 und 117 Körperverletzungen an ihren Mitarbeitern, wobei in 9 bis 13 Prozent der Fälle von ei­ nem Corona-Bezug auszugehen sei. Bei Beleidigungen, Bedrohun­ gen und Nötigungen lasse sich vermutlich jeder fünfte Vorfall auf die coronabedingten Einschränkungen zurückführen. 21 dbb > dbb magazin | Oktober 2020

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==