dbb magazin 6/2020

die pandemie als digitalisierungsmotor haben, wird plötzlich wahr: Ein digitaler Ruck geht durch die Hochschule. << Den Innovationsschub herüberretten In Woche drei wird dieser Ruck noch spürbarer. In fächerüber­ greifenden Webkonferenzen mit Studierenden und Studien­ gangsleitungen fallen Begriffe wie „Euphorie“ und „Aufbruch­ stimmung“. Unsere Expertin­ nen und Experten für digitale Lehre werden in den Himmel gelobt, fast scheint man er­ staunt, dass sie nicht nur kom­ petent, sondern auch noch hilfsbereit, freundlich und nah­ bar sind. Die Studierenden freuen sich, dass so schnell An­ gebote geschaffen wurden. Sie bemerken zwar, dass manche Lehrenden besser mit den digi­ talen Medien umgehen könn­ ten als andere, aber „wir loben alle, die es versuchen“. InWoche vier denken wir schon wieder an die Zukunft. Wie geht es weiter, wird gefragt, und: Wie retten wir diese neu ge­ schätzten digitalen Elemente in Lehre, Studium und Arbeit in die Nach-Corona-Zeit? Wenn diese Stimmung hält, dann haben wir innerhalb von einer Woche an unserer Hochschule eine digita­ le Revolution geschafft. Das ist keine Lübecker Geschich­ te. So oder so ähnlich lief es für Studierende und Lehrende an vielen Hochschulen in Deutsch­ land. Es gab nicht viel Zeit zum Überlegen. Wir mussten einfach loslegen, parallel zur komplet­ ten Reorganisation auch des pri­ vaten Lebens. Vielleicht war aber sogar das ein Vorteil. Nun, inWoche fünf, können wir erste Lehren ziehen. Basierend auf unseren Erfahrungen an der TH Lübeck lassen sich vor allem fünf Punkte als erster Zwischen­ stand festhalten: Wir haben digitales Lehren, Studieren und Arbeiten schät­ zen gelernt. Nun sollten wir da­ rin besser werden. Denn die Umstellung ist nicht rein tech­ nischer Natur, es geht auch um „digitale Soft Skills“ wie etwa die Frage nach der Aktivierung der Studierenden. Wichtig wird sein, dass nicht jeder das Rad für sich neu erfindet, sondern freiwillig und wertschätzend auf vielfach vorhandene Exper­ tise, Erfahrung und Lösungen zurückgreift – und dass Leh­ rende sich aktiv weiterbilden. Wir schätzen – und das war nie ein Widerspruch zur Digitalisie­ rung – den persönlichen, direk­ ten Kontakt. Einiges können (und wollen!) wir nicht digitali­ sieren. Dazu zählen praktische Übungen, Exkursionen und Ähnliches, aber beispielsweise auch die Einführungsveranstal­ tungen in das Studium, die für internationale Studierende umso relevanter sind, und manche Gremienarbeit. Der Aufenthalt im Homeoffice hat sich bis zu einem gewissen Umfang auch für Arbeitsplätze als praktikabel erwiesen, bei de­ nen wir es uns vorher nicht hät­ ten vorstellen können, beispiels­ weise imDrittmittelcontrolling, in der Personalsachbearbeitung, im Führen von Teams. Unsere internationalen Kontak­ te haben gehalten – und mehr als das. Die chinesischen Part­ ner schicken uns Atemmasken und Briefe der Unterstützung, die amerikanischen optimis­ tisch bereits die Namen der Stu­ dierenden, die bald kommen wollen. Bleibt zu hoffen, dass Studierende nach den erfahre­ nen Beschränkungen durch die Corona-Pandemie zukünftig vielleicht sogar noch stärker die Chance eines Auslandsaufent­ haltes schätzen und nutzen werden. Mein persönliches Highlight: Wie wichtig unsere Studieren­ den ihren Lehrenden sind. Sie haben ihre Lehre digitalisiert, vor allem jedoch ihre Studie­ renden nicht alleingelassen. Sie haben Kontakt gehalten, waren erreichbar – auch über Themen des Studiums hinaus. Unseren Lübecker Leitspruch „Gute Lehre ist unser Funda­ ment“ könnten wir direkt er­ gänzen mit: „Unsere Studie­ renden liegen uns am Herzen.“ << Noch mehr Flexibilität ist gefragt Also läuft alles rund? Nicht ganz. Wir schieben eine Bug­ welle an unerledigten Aufga­ ben vor uns her, nicht nur in Studium und Lehre. Personal­ entscheidungen, Drittmittel­ anträge, Tagungen wurden verschoben. Wir wissen nicht genau, wie gut wir unsere Stu­ dierenden tatsächlich erreicht haben, wie konsequent sie in dieser Ausnahmesituation tat­ sächlich studieren konnten, wie erfolgreich unsere Kompetenz­ vermittlung war. Was wir jetzt benötigen, ist noch mehr Flexi­ bilität, dazu kluge und nachvoll­ ziehbare Entscheidungen. Und den Mut zur Wahrheit: Ganz ohne alle Nachteile für die Stu­ dierenden wird es nicht gehen. Wie sollen wir beim besten Wil­ len beispielsweise garantieren, dass alle ausgefallenen Prüfun­ gen zumWunschtermin nach­ geholt werden können? Daher ist es sinnvoll, das Som­ mersemester 2020 für all dieje­ nigen anzurechnen, die es sich wünschen. Und es wäre sinn­ voll, die Vorlesungszeit im Sommer zunächst wie geplant zu beenden und nicht zu ver­ längern – unabhängig davon, ob der Hochschulalltag nach dem 20. April mit Präsenzlehre oder ohne stattfindet. Um uns etwas mehr Planungssicher­ heit in Zeiten der Corona-Pan­ demie zu geben, sollten wir stattdessen im Herbst eine zu­ sätzliche und zum Sommerse­ mester zählende Vorlesungs- und Prüfungszeit anbieten, um Ausfälle aufzufangen. Das be­ dingt großzügige Bewerbungs- und Übergangsregelungen ins nächste Semester, beimWech­ sel des Studienganges oder beim Eintritt in einen Bachelor- oder Masterstudiengang. Das Wintersemester 2020/ 2021 muss flexibel beginnen können. Jetzt Einheitlichkeit beim Vorlesungsbeginn durch­ zusetzen, käme für viele Hoch­ schulen einem politisch indi­ zierten, wochenlangen und vollständigen Verbot der Lehre gleich – härter als zu „Corona- Zeiten“. Dieser Ein-Startter­ min-für-alle-Vorschlag ist zum Glück vom Tisch, was nicht heißt, dass einheitliche Vorle­ sungszeiten wie beispielsweise in Hessen nicht grundsätzlich eine gute Idee sein könnten. Aber das ist ein dickeres Brett. Zumindest für die TH Lübeck gilt: Wenn wir die oben be­ schriebene Flexibilität zuge­ standen bekämen, dann wären wir im Sommersemester 2021 nicht nur wieder im Lot, son­ dern umWelten weiter. Dann wären wir eine blended univer­ sity: digital und persönlich für unsere Studierenden da. Der Beitrag von Muriel Helbig erschien zuerst am 16. April 2020 auf dem Blog von Jan-Martin Wiarda. << Keine Einbahnsraße: Die aus der Not geborenen Innovationen dienen als Basis künftiger Konzepte. 15 dbb

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