dbb magazin 10/2023

dbb magazin Arbeitsschutz | Sicherheit für moderne Arbeitswelten Mitbestimmung | 14. dbb Forum Personalvertretungsrecht Nachgefragt | Dr. Katrin Krömer, Vorständin Ressourcen bei der Bundesagentur für Arbeit 10 | 2023 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

STARTER 18 6 TOPTHEMA Arbeitsschutz 32 AKTUELL NACHRICHTEN Verwaltungsmodernisierung: Der Bund verschläft die Digitalisierung 4 EINKOMMENSPOLITIK Tarife: Konflikte werden ruppiger 5 Regionalkonferenzen zur Einkommensrunde der Länder 6 FOKUS TOPTHEMA Technischer Arbeitsschutz: Ohne Personal keine Kontrolle 9 Arbeitsschutzmesse A+A 2023: Innovationen für die Arbeitswelt von morgen 10 Arbeitswelt im Kontext des Klimawandels: Der Klimawandel passiert jetzt 14 BEAMTE Arbeitsschutz und Unfallfürsorge für Beamtinnen und Beamte: Im Dienst rundum abgesichert 15 BLICKPUNKT Arbeitsschutz und Klimawandel: Hitzeschutz am Arbeitsplatz ist kein Nischenthema mehr 16 REPORTAGE Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung: Deutschlands nautische Detektei 18 NACHGEFRAGT Dr. Katrin Krömer, Vorständin Ressourcen der Bundesagentur für Arbeit: Wir müssen uns als Arbeitgeber von der Konkurrenz abheben 22 INTERN MITBESTIMMUNG 14. dbb Forum Personalvertretungsrecht: Engagement im Personalrat – nur für IdealistInnen oder Plattform für MacherInnen? 24 EUROPA Der öffentliche Dienst in Österreich: Zwischen Personalnot und Transformation 29 JUGEND Arbeitssicherheit im öffentlichen Dienst: Jeder Fünfte erlebt Gewalt 30 FRAUEN Hauptversammlung der dbb bundesfrauenvertretung: Care-Arbeit braucht Entlastung 32 SENIOREN Pflegende Angehörige: Ohne Netz und doppelten Boden 34 Impressum 41 KOMPAKT Gewerkschaften 42 24 © Model Foto: Colourbox.de Arbeitsschutz braucht Engagement Eine sich wandelnde Arbeitswelt erfordert flexible Arbeitsschutzkonzepte. Das gilt besonders im öffentlichen Dienst mit seinen vielfältigen Anforderungen an die Beschäftigten. Hier muss Arbeitsschutz nicht nur mit den Entwicklungen in der modernen Arbeitswelt Schritt halten, um die Gesundheit und das Wohlbefinden der Beschäftigten zu gewährleisten. Er muss sich auch permanent neu definieren, denn die Digitalisierung hat viele Arbeitsumfelder in einem Maße verändert, das vor wenigen Jahren noch undenkbar war. Homeoffice, mobiles Arbeiten und die Nutzung von digitalen Tools bringen Vorteile mit sich. Sie bergen aber auch Gefahren für die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit. Der Klimawandel erfordert neue bauliche Schutzkonzepte für viele Arbeitsplätze. Und nicht zuletzt sorgen soziale Verwerfungen dafür, dass Beschäftigte vor einem kleinen Teil der Gesellschaft geschützt werden müssen, der Gewalt als legitimes Mittel definiert, die vermeintlich berechtigten eigenen Interessen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen durchzusetzen. Hier sind Prävention und die Bewältigung psychischer Belastungen gefragt. Nicht nur die Beschäftigten müssen für das Thema Arbeitsschutz sensibilisiert werden. Auch Arbeitgeber und Dienstherren sind am Zuge, Arbeitsschutz als „work in progress“ zu begreifen, Arbeitsbedingungen kontinuierlich zu überprüfen, Kolleginnen und Kollegen zu schulen und Maßnahmen zu verbessern. Gelungener Arbeitsschutz lebt vom Engagement aller. br AKTUELL 3 dbb magazin | Oktober 2023

NACHRICHTEN Verwaltungsmodernisierung Der Bund verschläft die Digitalisierung Der öffentliche Dienst muss absehbar mit weniger Beschäftigten auskommen. Digitalisierung und Bürokratieabbau kommen wahrscheinlich zu spät. Beim Zukunftskongress Staat & Verwaltung in Berlin erklärte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 31. August 2023 die Folgen des demografischen Wandels: „In den nächsten zehn Jahren werden über 1,3 Millionen Beschäftigte altersbedingt aus dem öffentlichen Dienst ausscheiden. Mindestens, denn bei dieser Zahl sind diejenigen noch nicht berücksichtigt, die aus anderen Gründen frühzeitig den Dienst quittieren. Dabei wird schon heute überall händeringend Personal gesucht.“ Niemand könne ehrlich sagen, wie die Aufgaben des Staates künftig noch erfüllt werden sollen. „Es spricht doch Bände, dass nun beispielsweise laut darüber nachgedacht wird, den ab 2026 geplanten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder doch erst mal aufzuschieben, weil es schlicht und ergreifend an Personal fehlt.“ Notwendig seien eine echte Digitalisierung der Verwaltung sowie ein konsequenter Bürokratieabbau. „Aber der Zug ist eigentlich schon fast abgefahren, denn die Folgen der seit Jahren bekannten demografischen Entwicklung spüren wir ja bereits“, so Silberbach. „Auch die aktuelle Bundesregierung verschläft die Digitalisierung der Verwaltung bisher. Ein bisschen ‚Online-Terminvergabe hier‘ und ein bisschen ‚Antrag als PDF‘ dort sind keine Digitalstrategie. Dass nach den bisherigen Planungen für den Bundeshaushalt die Mittel für die Verwaltungsdigitalisierung zusammengestrichen werden sollen, ist auch ein verheerendes Signal.“ Dabei könnten in diesem Zuge bürokratische Prozesse deutlich entschlackt werden, damit die Kolleginnen und Kollegen sich endlich wieder um Vorgänge mit Ermessensspielraum und die persönliche Beratung der Bürgerinnen und Bürger kümmern können. Mit Blick auf die am 30. August vom Bundeskabinett beschlossenen Eckpunkte zum Bürokratieabbau sagte Silberbach: „Wenn das vom Bundestag so verabschiedet wird, ist das ein Anfang. Gerade mit Blick auf Europa und die Bundesländer sowie das Zusammenspiel aller politischen Ebenen bleibt aber weiterhin viel zu tun. Wenn die Kolleginnen und Kollegen in den Verwaltungen endlich flächendeckend nennenswert entlastet werden, können wir die Digitalisierung mit einer Qualifizierungsoffensive vorantreiben.“ ■ Forderungen für mehr Patientenwohl Um Lieferengpässe bei Medikamenten zu vermeiden, müssen Arzneimittel wieder verstärkt in der EU produziert werden. Grundlage für die Patientensicherheit ist die Versorgungssicherheit mit Medikamenten. Derzeit werden viele wichtige Wirkstoffe ausschließlich in Indien oder China hergestellt, häufig von einem einzigen Hersteller. Gibt es ein Problem bei der Herstellung oder in der Lieferkette, kann ein Medikament vorübergehend nicht mehr hergestellt werden“, kritisierte Silberbach zum Internationalen Tag der Patientensicherheit am 17. September 2023. Die Produktion relevanter Wirkstoffe müsse wieder nach Europa verlagert werden. Die zweite große Stellschraube sei laut Silberbach die anstehende Krankenhausreform: „Wir setzen große Erwartungen in die noch für dieses Jahr angekündigte große Krankenhausreform, denn sie soll zentrale Forderungen des dbb aufgreifen“, so Silberbach. Mit der vorgesehenen Ergänzung der Fallpauschalen um eine sogenannte Vorhaltepauschale werde endlich auch das Freihalten von Betten, Personal und technischem Gerät honoriert. Das schaffe mehr finanziellen Spielraum für die Kliniken, die dann allerdings ihren Fokus auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen legen müssten. Internationaler Tag der Patientensicherheit © Model Foto: Volodymyr Shtun/Colourbox.de 4 AKTUELL dbb magazin | Oktober 2023

TARIFE Tarifpolitik Konflikte werden ruppiger Die anhaltend hohe Inflationsrate und der Fachkräftemangel färben auf die Stimmung auf dem Arbeitsmarkt ab. Die bereits ausgefochtenen Tarifauseinandersetzungen im ersten Halbjahr 2023 haben hohes Konfliktpotenzial mitgebracht. Für die kommenden Einkommensrunden verschiedener Branchen prognostiziert das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ebenfalls raue Auseinandersetzungen. Das geht aus dem aktuellen Tarifpolitischen Bericht des IW hervor, in dessen Rahmen das Institut wich- tige Branchen einem Konfliktmonitoring unterzieht. In 13 davon haben im ersten Halbjahr 2023 Tarifverhandlungen stattgefunden, unter anderem im öffentlichen Dienst, im Einzelhandel, im Groß- und Außenhandel, bei der Deutschen Post und bei der Deutschen Bahn. Viele der Tarifkonflikte seien stärker eskaliert als gewöhnlich. Während die Eskalationen in Tarifverhandlungen oft beim Warnstreik enden, haben sich einige Konflikte aber weiter zugespitzt: Es gab Urabstimmungen bei Post und Bahn, Schlichtungen bei der Bahn und im öffentlichen Dienst sowie juristische Auseinandersetzungen bei der Bahn und in der Süßwarenindustrie. „Im Durchschnitt fielen je Konflikt 14,4 Konfliktpunkte an. Das ist der höchste Wert seit 2015, als 17,8 Punkte anfielen. Im Vorjahr waren es lediglich 5,1 Punkte“, schreibt Dr. Hagen Lesch, Leiter des Clusters Arbeitswelt und Tarifpolitik beim IW. Die Konfliktpunkte berechnet das IW anhand der in Tarifverhandlungen üblichen Konflikthandlungen beziehungsweise Eskalationsformen, die sich aus einer Eskalationspyramide ergeben. Die Skala reicht von Aufnahme von Tarifverhandlungen (0 Punkte) über Streikankündigung (3 Punkte) und Warnstreik (4 Punkte) bis hin zu Arbeitskampf mit Streik und Aussperrung (7 Punkte). Am ruppigsten sei es zwischen der Eisenbahnergewerkschaft EVG und der Deutschen Bahn zugegangen. Dort hätten sich die verschiedenen Konflikthandlungen bis Ende Juni 2023 auf insgesamt 33 Punkte summiert, bevor sich die Streitparteien auf eine Schlichtung geeinigt haben. Bezüglich der Einkommensrunde für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes des Bundes und der Kommunen errechnet das IW 29 Punkte, für die Papier verarbeitende Industrie 22 und für den Einzel- sowie Groß- und Außenhandel jeweils 21 Punkte. Harmonisch geblieben seien dagegen die Verhandlungen bei den Fluggesellschaften: „Bei der Lufthansa galt im Tarifkonflikt mit den Piloten allerdings noch bis zum 30. Juni eine Friedenspflicht. Bis dahin gab es lediglich eine Drohung des Unternehmens, die Flotte im Mutterkonzern zu reduzieren, wenn die Kosten nicht gesenkt würden. Auch die LufthansaTochter Eurowings verhandelt mit den Piloten. Hier gab es im ersten Halbjahr keine Eskalation. Bei Verhandlungen zwischen Eurowings und dem Kabinenpersonal gab es bislang drei Konfliktpunkte“, heißt es auf der Internetseite zum Tarifpolitischen Bericht. Angesichts der anhaltenden Inflation seien die Lohnforderungen der Gewerkschaften zuletzt stetig angestiegen. Vielfach werde ein Mindestbetrag gefordert, um kleinere Einkommen, die unter der Inflation am meisten leiden, überdurchschnittlich anzuheben. „Die hohen Forderungen belasten die Tarifverhandlungen, da auch viele Unternehmen mit den Folgen der Inflation kämpfen und von ihren Arbeitgeberverbänden keine zu große Konzessionsbereitschaft erwarten“, resümiert Lesch. Ein zentrales Instrument der Kompromissfindung sei die im Zuge der konzertierten Aktion gegen den Preisdruck von der Bundesregierung angebotene steuer- und sozialabgabenfreie Inflationsausgleichsprämie gewesen. „Angesichts der in den letzten drei Jahren entstandenen Reallohnverluste und dem Arbeits- und Fachkräftemangel wird sich der Verteilungskonflikt wohl weiter verschärfen“, ist Lesch überzeugt. Im Fazit zur Erhebung kommen die Studienautoren Hagen Lesch und Lennart Eckle zu dem Schluss: „Der Fokus wird auf den im Herbst beginnenden Verhandlungen im öffentlichen Dienst der Länder und für die Zugbegleiter der Deutschen Bahn liegen, für die die GDL verhandelt. ver.di hat bereits angekündigt, dass die Bundestarifkommission der Gewerkschaft die Forderungen für den öffentlichen Dienst der Länder am 11. Oktober beschließen wird. Die Termine für die ersten drei Verhandlungsrunden stehen bereits fest. [...] Die Verhandlungen mit der GDL dürften nicht zuletzt deshalb schwierig werden, weil die Gewerkschaft im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung nicht nur bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen, sondern dazu auch eine neue Genossenschaft ,Fair Train‘ gründen will.“ ■ Der IW-Report Nr. 38, Tarifpolitischer Bericht 1. Halbjahr 2023, „Inflation facht Tarifkonflikte an“ im Download: t1p.de/IW-Report Webtipp © Daniela Mortara AKTUELL 5 dbb magazin | Oktober 2023

Beim Auftakt am 5. September 2023 in Düsseldorf erklärte der stellvertretende Bundesvorsitzende und Tarifchef des dbb, Volker Geyer: „Der öffentliche Dienst arbeitet praktisch seit Jahren im Krisenmodus. Probleme wie die schwierige Nachwuchs- und Fachkräftegewinnung oder die mangelhafte Digitalisierung wurden dadurch verschärft. In Bereichen wie Bildung, Sicherheit und Infrastruktur sind die Defizite mittlerweile unübersehbar – nicht nur für die Beschäftigten, sondern auch für Bürgerinnen und Bürger. Diese Herausforderungen muss die Politik grundsätzlich angehen, sie können nicht am Tariftisch gelöst werden. Aber wir können wichtige Weichen stellen, denn die Bezahlung ist ein entscheidender Faktor für die Personalgewinnung und -bindung.“ Angesichts der anhaltenden Inflation und der angespannten Haushaltslage vieler Bundesländer werde es ein hartes Ringen geben. „Aber die Beschäftigten sind sehr entschlossen und im Fall der Fälle bereit für einen langen Arbeitskampf, das ist bereits jetzt zu spüren.“ Roland Staude, Chef des dbb Landesbundes in Nordrhein-Westfalen (DBB NRW), unterstrich: „Wir werden in dieser Einkommensrunde vermutlich mehr denn je einen langen Atem brauchen. Denn auch wenn wir in den drei vereinbarten Verhandlungsrunden mit der TdL zu einem annehmbaren Ergebnis kommen, müssen auf dieser Grundlage in den Ländern auch noch Besoldung und Versorgung angepasst werden.“ Angesichts von etwa 26 000 Leerstellen in der Verwaltung erwartet Staude von der Landesregierung klare Signale an die Beschäftigten und die dringend benötigten Nachwuchskräfte. „Wenn die Koalition klug ist, nutzt sie diese Gelegenheit und bringt die von uns lange geforderte umfassende Attraktivitätsoffensive für den öffentlichen Dienst auf den Weg. Das fordern wir ein – zur Not auch lautstark und auf der Straße.“ Harte Auseinandersetzung erwartet Angesichts der zu erwartenden Härte der Auseinandersetzung müssten Tarif- und Beamtenbereich unbedingt gemeinsam agieren, sagte Iris Herfurth, erste stellvertretende Landesvorsitzende des dbb sachsenanhalt, am 6. September in Leipzig. „Wenn wir in der Einkommensrunde erfolgreich sein wollen, müssen alle an einem Strang ziehen. In diesem Sinne geht von der heutigen Regionalkonferenz in Leipzig ein beeindruckendes Zeichen aus.“ Kai Rosenberger, Vorsitzender des dbb baden-württemberg (BBW), unterstrich vor den Teilnehmenden der Regionalkonferenz am 12. September in Stuttgart: „Bei den anstehenden Tarifverhandlungen des TV-L muss die Chance genutzt werden, die Reallohnverluste der vergangenen zwei Jahre Regionalkonferenzen zur Einkommensrunde der Länder „Wir werden ordentlich Druck machen!“ Die Einkommensrunde mit Bund und Kommunen im Frühjahr 2023 hat gezeigt, dass für einen ordentlichen Tarifabschluss neben guten Argumenten ein hohes Maß an Koordinationsfähigkeit nötig ist. Auch vor der Einkommensrunde mit der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) für den Tarifvertrag der Länder (TV-L) hat der dbb den Austausch gesucht und die Interessen der Beschäftigten in sechs Regionalkonferenzen gebündelt. dbb Chef Ulrich Silberbach (rechts) und dbb Fachvorstand Tarifpolitik, Volker Geyer, erläuterten die Eckpunkte der Einkommensrunde in Hamburg. Rege Beteiligung in Düsseldorf. Konstruktive Diskussionsbeiträge in Leipzig. © Kerstin Seipt 6 AKTUELL dbb magazin | Oktober 2023

zu kompensieren und um faire Bedingungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sicherzustellen.“ Philipp Weimann, Bundesjugendsprecher der Gewerkschaft Strafvollzug (BSBD), betonte: „Die Auswirkungen der Inflation müssen bei der Gehaltsstruktur berücksichtigt werden.“ Edmund Schuler, Bundestarifbeauftragter der Deutschen Polizeigesellschaft (DPolG), pflichtete ihm bei: „Die hohe Inflation zieht uns schon viel zu lange das Geld aus der Tasche. Egal ob Miete, Strom oder Lebensmittel, die Preise sind extrem gestiegen“ – es sei höchste Zeit für ordentliche Lohnzuwächse. Rainer Nachtigall, Vorsitzender des Bayerischen Beamtenbunds (BBB), betonte am 14. September in Nürnberg: „Wir müssen auf die Einheitlichkeit des öffentlichen Dienstes achten! Mit einem Abschluss, der nicht mindestens das Volumen des TVöD erreicht, verliert der Freistaat als Arbeitgeber deutlich an Attraktivität. Schon jetzt wandern Tarifbeschäftigte des Landes zu Bund beziehungsweise Kommunen ab.“ Aus bayerischer Sicht dürfe sich der Abschluss des TV-L nicht an den finanzschwächsten Ländern orientieren. „Wenn der Freistaat als Arbeitgeber weiterhin attraktiv bleiben will, muss Bayern in der TdL aktiv werden. Am Ende muss ein angemessenes Tarifergebnis stehen, das zeit- und wirkungsgleich auf die Beamten und Versorgungsempfänger übertragen wird.“ Daria Abramov, stellvertretende dbb Bundesjugendleiterin, ergänzte, dass derzeit rund 400 000 Stellen im öffentlichen Dienst unbesetzt seien. „Entgelt und Besoldung sind entscheidende Stellschrauben, um Nachwuchskräfte zu gewinnen.“ Zudem sei es skandalös, dass es angesichts des gravierenden Personalmangels noch keine Übernahmegarantie für Auszubildende gebe. „Das wäre ein starkes Signal und ist längst überfällig.“ Neue Fachkräfte gewinnen In Hamburg sprach die dbb Bundesleitung am 20. September mit den Landesverbänden aus Bremen, Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern über die Einkommensrunde. dbb Chef Ulrich Silberbach hob die demografischen Herausforderungen für den öffentlichen Dienst hervor: „Unsere Beschäftigten leiden unter den Auswirkungen von Personalabbau und Überalterung: Immer mehr Fachkräfte gehen in den Ruhestand oder fallen aufgrund von Burn-out langfristig aus. Es gibt kaum ausgebildete Fachkräfte oder Auszubildende, um diese Lücken zu füllen.“ Es benötige jetzt grundlegende Veränderungen bei der Bezahlung und den Arbeitsbedingungen. „Wir müssen mit aller Kraft in diese Tarifverhandlungen gehen, um die Rahmenbedingungen für die Beschäftigten zu verbessern und besser um neue Fachkräfte werben zu können.“ Alexander Zimbehl, Vorsitzender des Niedersächsischen Beamtenbunds (NBB) bilanzierte stellvertretend für die nördlichen Bundesländer: „Die Situation war noch nie so angespannt wie jetzt. Wir müssen Selbstbewusstsein zeigen und den Arbeitgebern klarmachen, dass es unglaublich schwer wird, Nachwuchs zu finden, wenn wir so weitermachen wie bisher. Wir werden Stärke zeigen, um unsere Themen gemeinsam nach vorn zu bringen.“ Am 21. September zog dbb Tarifchef Volker Geyer in Mainz eine positive Bilanz der Regionalkonferenzen: „Das Format hat sich als äußerst effektiv erwiesen. Der Austausch zwischen uns und den Multiplikatorinnen und Multiplikatoren hat uns Perspektiven aufgezeigt, mit denen wir in die Forderungsfindung gehen können.“ Der Erfolg der Regionalkonferenzen sei in erster Linie der regen Beteiligung der Gewerkschaften und Landesbünde zu verdanken, die überall mit großem Engagement daran teilgenommen haben. Lilli Lenz, Landesvorsitzende des dbb rheinland-pfalz, sicherte die Unterstützung ihrer Region zu: „Auf uns in Rheinland-Pfalz ist dabei wie immer Verlass. Wir werden uns auch diesmal wieder auf allen Ebenen aktiv einbringen – von der Forderungsdiskussion über die Verhandlungen und mögliche Aktionen bis zur Umsetzung der Ergebnisse für alle Statusgruppen.“ Ewald Linn, Landesvorsitzender des dbb saar, bekräftigte das Sentiment. „Wir fordern unsere Landesregierungen auf, alle Ergebnisse im Anschluss auf die Beamtinnen und Beamten und die Versorgungsempfängerinnen und -empfänger zu übertragen. Und das in jedem Land.“ Es bringe nichts, wenn sich die Länder beim Wettbewerb um den Nachwuchs gegenseitig Konkurrenz machten: „Dann verlieren letztlich alle.“ ■ Kolleginnen und Kollegen auf der Regionalkonferenz in Stuttgart. Konzentrierte Aufmerksamkeit in Nürnberg. dbb Tarifchef Volker Geyer in Mainz. © Nathalie Zimmermann © Friedhelm Windmüller (4) 8 AKTUELL dbb magazin | Oktober 2023

TOPTHEMA Technischer Arbeitsschutz Ohne Personal keine Kontrolle Versäumnisse im Arbeitsschutz, schwere Arbeitsunfälle und unzureichende Kontrollen führen regelmäßig zu Forderungen nach mehr Arbeitsschutzkontrollen und strafferen Gesetzen. Dabei sind die gesetzlichen Grundlagen eigentlich klar definiert. Aber es fehlt massiv an Personal. Das schafft Schlupflöcher für schwarze Schafe. Die Personalentwicklung im Arbeitsschutz lässt mittlerweile keine konsequente Kontrolle mehr zu. Es fehlt massiv an Arbeitsschutzinspekteurinnen und -inspekteuren sowie an Gewerbeärzten. Auch der interne Verwaltungsaufwand steigt. „Das führt dazu, dass schwarze Schafe kaum Kontrollen zu befürchten haben. Insbesondere in Branchen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen unterlaufen sie bewusst Arbeitsschutz, Arbeitsrecht und Tarifrecht, um ihren Gewinn auf Kosten von Arbeitskräften und Verbraucherinnen und Verbrauchern zu maximieren“, sagt Jan-Georg Seidel, Bundesvorsitzender des BTB – Gewerkschaft Technik und Naturwissenschaft. Strukturelle Fehlentwicklungen flögen in der Regel erst auf, wenn etwas passiert sei. Die nötige Aufholjagd in den staatlichen Arbeitsschutzverwaltungen der Länder könne nur mit zusätzlichen, gut ausgebildeten Aufsichtsbeschäftigten gelingen. „Gesetze, deren Einhaltung nicht überprüft wird, sind nicht viel wert.“ Die aktuellen Zahlen zur Entwicklung der Betriebsbesichtigungen und der Personalzahlen im staatlichen Arbeitsschutz aus dem Bericht „Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und Unfallgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) sprechen eine deutliche Sprache. Demnach ist die Zahl der Betriebsbesichtigungen vom Jahr 2000 bis 2021 um 75,5 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der Aufsichtsbeamten hat sich in diesem Zeitraum um 65,6 Prozent verringert und die Anzahl der ohnehin wenigen Gewerbeärzte ist von 148 auf 50 geschrumpft – ein Minus von 66 Prozent. Gleichzeitig wurden den Arbeitsschutzverwaltungen der Länder immer neue Aufgaben übertragen, darunter die Überwachung der Vorschriften der Chemikaliensicherheit. Aufgaben des Strahlenschutzrechts zur Ermittlung der Radonbelastungen in Deutschland sowie der nicht ionisierenden und der optischen Strahlung wurden ausgeweitet. Darüber hinaus betreiben die Beschäftigten Marktüberwachung im Sprengstoffwesen, schultern die Ausweitung der Anwendung des Mutterschutzgesetzes, kümmern sich um elektromagnetische Felder und betrachten die psychischen Belastungen bei der Arbeit. Sie sollen mobile Druckgeräte überwachen, Arbeitsprogramme der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie entwickeln und neue Aufgaben in den Rechtsgebieten Arbeitsstättenrecht, Betriebssicherheitsverordnung und Produktsicherheitsgesetz wahrnehmen. „Kurz: Mit viel weniger Personal müssen immer mehr Aufgaben erledigt werden“, kritisiert Seidel. Er sieht den Rückgang der Besichtigungszahlen im Wesentlichen durch den Personalabbau der vergangenen 20 Jahre und den Fachkräftemangel begründet. Darüber hinaus sei der interne Verwaltungsaufwand kontinuierlich gestiegen. „Wenn die Arbeitsschutzverwaltungen ihre Beratungs- und Überwachungsaufgaben wieder vernünftig wahrnehmen sollen, müssen die Länder jetzt mit einer Personaloffensive gegensteuern. Dazu gehört auch, die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen für Fachkräfte zu verbessern, denn der staatliche Arbeitsschutz konkurriert direkt mit der Wirtschaft“, fordert Seidel. ■ Jahr gesamte Besichtigungen Aufsichtsbeamte Gewerbeärzte 2000 521 523 4 268 148 2001 507 224 4 238 147 2002 479 565 4 256 146 2003 464 523 4 116 147 2004 449 307 4 103 133 2005 391 318 3 870 121 2006 370 479 3 521 110 2007 347 240 3 340 109 2008 332 199 3 218 99 2009 315 309 3 101 95 2010 300 253 3 101 90 2011 297 917 3 053 90 2012 267 008 3 007 86 2013 242 503 2 935 84 2014* 220 540 1 273 79 2015 206 197 1 277 74 2016 200 564 1 297 73 2017 182 504 1 456 68 2018 167 270 1 435 64 2019 151 096 1 439 61 2020 127 683 1 490 55 2021 127 737 1 468 50 * Einführung einer neuen Personalberechnung. Seit 2014 werden Beschäftigte des staatlichen Arbeitsschutzes mit Arbeitsschutzaufgaben ausgewiesen, Baden-Württemberg meldet lediglich Zahlen, in denen Beschäftigte aus Arbeitsschutz-, Immissionsschutz- und Verbraucherschutzaufgaben zusammengefasst sind; diese Zahl kann nicht berücksichtigt werden. © Model Foto: Phovoir/Colourbox.de FOKUS 9 dbb magazin | Oktober 2023

Arbeitsschutzmesse A+A 2023 Innovationen für die Arbeitswelt von morgen Unter dem Motto „Der Mensch zählt“ präsentiert die Weltleitmesse für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit A+A vom 24. bis 27. Oktober 2023 innovative Impulse und Lösungen rund um das sichere und gesunde Arbeiten. Im Fokus stehen die Megatrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Auch der dbb ist mit einem Stand auf der Messe vertreten. Auf der A+A 2023 finden Entscheider sowie Expertinnen und Experten branchenübergreifend Lösungsansätze und Antworten auf alle Fragen rund um einen sicheren, gesunden und nachhaltig gestalteten Arbeitsplatz. Von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) über betrieblichen Brand-, Umwelt- oder Katastrophenschutz bis hin zu Angeboten für die ergonomische und gesunde Arbeitsplatzgestaltung bietet die internationale Leitmesse eine breite Produkt- und Lösungsvielfalt. Eine Kooperation mit dem Deutschen Netzwerk Büro (DNB) erweitert das Aussteller- und Themenspektrum im Bereich Bürogestaltung, Ergonomie und New Work. Foren, Events und Start-ups Spannende Foren und Veranstaltungen wie die Fashion Show in Halle 15 ergänzen das vielfältige Messeprogramm. Auf dem A+A Catwalk präsentiert sich das Who’s who der PSA-Branche und der Corporate Fashion mit den aktuellsten, modischen Trends für die New-Work-Generation. Neben Funktionalität und Nachhaltigkeit sind dabei mittlerweile auch ästhetischer Stil und persönlicher Ausdruck gefragt. Die internationale Start-up-Zone bietet eine Sonderfläche für junge und innovative Unternehmen aus der ganzen Welt. Diese außergewöhnliche Network- und Ausstellungsplattform bietet den jungen Wilden die Möglichkeit, mit den Topentscheidern für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sowie mit Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Forschung und Politik zusammenzutreffen. 2023 präsentiert die A+A darüber hinaus zwei Kongresse mit internationaler Strahlkraft: Der von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (Basi) organisierte 38. internationale Kongress für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin greift Zukunftsthemen wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit auf. Er stellt als international führende Fachveranstaltung nationale und globale politische Vorstöße und Präven­ © Messe Düsseldorf, Constanze Tillmann (3) 10 FOKUS dbb magazin | Oktober 2023

tionsstrategien wie die „Vision Zero“ – die Philosophie, Unfälle erst gar nicht geschehen zu lassen – sowie arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse anwendungsorientierter Forschung vor. Kongresse und Exoskelette Auf der vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) organisierten WearRAcon Europe referieren und diskutieren Experten aus Forschung und Entwicklung sowie Unternehmen über Innovationen und Trends im Bereich der Wearable Robotik mit besonderem Schwerpunkt auf Exoskeletten. „Die Messe A+A hat in den letzten Jahren eine zunehmende Internationalisierung erfahren. Diese Entwicklung spiegelt den wachsenden globalen Bedarf an Arbeitsschutzmaßnahmen und den Austausch von bewährten Praktiken in diesem Bereich wider“, erläutert Petra Cullmann, Bereichsleiterin der A+A. Die Konferenzen werden durch zwei weitere spannende Bereiche im ExoPark ergänzt: Wie bei der vorigen A+A können ExoskelettSysteme verschiedener Hersteller an realitätsnahen Arbeitsszenarien getestet werden. Das Interesse der Besucherinnen und Besucher sowie die Resonanz der Exoskelett-Hersteller waren schon in 2021 sehr groß. Parallel zu diesem sogenannten „Self-Experience Space“ findet auch wieder die große Livestudie „Exoworkathlon“ statt: Geübte Auszubildende von verschiedenen mechatronischen Ausbildungsgängen durchlaufen Parcours mit Aufgaben zum Halten, Heben und Montieren, die speziell mit der Industrie entwickelt wurden. Unter aplusa.de finden Besucherinnen und Besucher nicht nur die Ticketregistrierung, sondern auch alle wichtigen Brancheninformationen sowie praktische Tipps und Tools für den Messebesuch. Dort stehen ein virtueller Messekatalog und zahlreiche personalisierte Services zur Planung des Messerundgangs sowie ein interaktiver Hallenplan zur Verfügung. Die A+A-Organisatoren haben ihr Hallenkonzept verändert und die Wegeführung auf dem Messegelände optimiert: Die Hallen wurden thematisch klar gegliedert, wodurch ähnliche Produkte und Dienstleistungen in räumlicher Nähe zueinander zu finden sind. Für die Besucherinnen und Besucher wird es somit einfacher, für ihr jeweiliges Interessengebiet gezielt Aussteller zu finden und sich auf dem Gelände zu orientieren. Neu ist, dass die Corporate Wear in Halle 15 präsentiert wird und in den Hallen 16 und 17 die gesamte Bandbreite an Komponenten und Zubehör für die Produktion zeitgemäßer Arbeitsschutzkleidung zur Verfügung steht. Wer Action sucht, wird in Halle 1 fündig: Dort zeigen Präsentationen und Livedemonstrationen, welche Maßnahmen Unfälle, Großschadensereignisse und Rettungsaktionen verhindern helfen und wie Unternehmen sich und ihre Beschäftigten schützen können. Der Bundesverband Betrieblicher Brandschutz (WFVD) präsentiert sich zu Themen der betrieblichen Sicherheit und des Brandschutzes. Livedemonstrationen gibt es täglich jeweils um 10, 12, 14 und 16 Uhr. ■ Die Tickets für die A+A 2023 sind online unter bit.ly/43HMsO0 erhältlich. Das eTicket bietet Geld- und Zeitersparnis, denn Besucherinnen und Besucher können ihr Ticket online erwerben, ausdrucken oder direkt als Code downloaden. Für den Messebesuch und weitere Fahrten in der Stadt kann das Düsseldorf-Ticket der Messe Düsseldorf und der Rheinbahn genutzt werden. Für Fahrten außerhalb des Stadtgebietes empfiehlt sich das eezy Ticket oder die weiteren Fahrkartenangebote der Rheinbahn und des VRR. Jetzt Tickets buchen Auch der dbb beteiligt sich mit einem Stand auf der A+A. In Halle 5/F10 präsentiert der gewerkschaftliche Dachverband seine Palette an Broschüren und Schriften zum Arbeitsschutz. Fachreferentinnen und -referenten heißen die Besucherinnen und Besucher herzlich willkommen und stehen für Fragen zu Prävention, Arbeitsschutz und gesunder Arbeitsplatzgestaltung im öffentlichen Dienst zur Verfügung. Auch, wer mehr über den dbb und seine Fachgewerkschaften erfahren möchte, ist hier in kompetenten Händen. Der dbb auf der A+A 12 FOKUS dbb magazin | Oktober 2023

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung Alles aus einer Hand Rund 1,7 Millionen Unfälle passierten im vergangenen Jahr bei der Arbeit, in Bildungseinrichtungen oder bei der Ausübung des Ehrenamtes in Deutschland. Da ist es gut zu wissen, dass es mit der gesetzlichen Unfallversicherung eine zuverlässige und umfassende Absicherung gibt. Die gesetzliche Unfallversicherung versichert ganz unterschiedliche Personengruppen gegen die Folgen von Arbeits- und Wegeunfällen sowie Berufskrankheiten – insgesamt mehr als 64 Millionen Menschen in Deutschland. Die größte Versichertengruppe sind abhängig Beschäftigte und Auszubildende von Unternehmen mit Sitz in Deutschland. Auch geringfügig Beschäftigte zählen dazu. Hinzu kommen Personen, die einer Tätigkeit nachgehen, die dem Gemeinwohl dient. Das sind beispielsweise Blutspenderinnen und -spender, Wahlhelferinnen und -helfer sowie freiwillige Feuerwehrleute. Auch Kinder in Tagesbetreuung, Schülerinnen und Schüler sowie Studierende stehen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Für Besucherinnen und Besucher von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie für ehrenamtlich tätige Personen werden die Beiträge für die gesetzliche Unfallversicherung vom Staat übernommen; für Beschäftigte leisten das die Arbeitgebenden. Das höchste Gut ist die Gesundheit. Deshalb zählt es zu den wichtigsten Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung, Unfälle zu verhüten und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren vorzubeugen. Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, also die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, unterstützen die bei ihnen versicherten Unternehmen dabei. Mit passgenauen Präventionsmaßnahmen und -leistungen sollen Gefahren für die Gesundheit an der Quelle bekämpft werden, beispielsweise durch sicherheitstechnische und arbeitsmedizinische Beratung, arbeitsmedizinische Vorsorge, aber auch mit Aus- und Weiterbildung, etwa von Fachkräften für Arbeitssicherheit. Die jeweils geeigneten Präventionsmaßnahmen werden mithilfe von Gefährdungsbeurteilungen ermittelt. Dazu sind Unternehmen laut Arbeitsschutzgesetz verpflichtet. Nicht immer können Arbeits-, Wegeunfälle oder Berufskrankheiten verhindert werden. Davon Betroffene werden durch die gesetzliche Unfallversicherung rundum betreut und abgesichert. Mit allen geeigneten Mitteln erbringen die Unfallversicherungsträger alle medizinischen und außermedizinischen Leistungen zur Rehabilitation. Dazu zählen auch Leistungen, die den Betroffenen die Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen. Das kann zum Beispiel der Umbau des Arbeitsplatzes sein, der Einsatz von Hilfsmitteln oder eine Arbeitsassistenz. Ist eine Rückkehr an den vorhandenen Arbeitsplatz trotzdem nicht möglich, wird versucht, zumindest das Beschäftigungsverhältnis beim bisherigen Arbeitgeber beziehungsweise der bisherigen Arbeitgeberin zu erhalten. Das kann zum Beispiel durch Neu- oder Weiterqualifizierung oder Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz erreicht werden. Das oberste Ziel ist immer, den Versicherten wieder ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Während der Rehabilitation sorgt die gesetzliche Unfallversicherung für die finanzielle Absicherung ihrer Versicherten. Das gilt auch über die Dauer der Rehabilitation hinaus, denn nicht immer sind Heilbehandlung und Rehamaßnahmen so erfolgreich, dass die Versicherten wieder uneingeschränkt am Erwerbsleben teilnehmen können. In solchen Fällen zahlen die Berufsgenossenschaften, Unfallkassen oder Gemeindeunfallversicherungsverbände eine Rente. Voraussetzung dafür ist eine andauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 20 Prozent. Im Todesfall sichern die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen die Hinterbliebenen mit finanziellen Leistungen ab. Vom Arbeitsschutz über die medizinische Akutversorgung bis zur Wiedereingliederung: Die gesetzliche Unfallversicherung erbringt alle diese Leistungen aus einer Hand. Dieses umfassende Betreuungssystem ermöglicht Betroffenen von Arbeits-, Wegeunfällen und Berufskrankheiten einen umfassenden Schutz und eine hohe soziale Absicherung. ■ Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) ist der Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand. Er nimmt die gemeinsamen Interessen seiner Mitglieder wahr und fördert deren Aufgaben zum Wohl der Versicherten und der Unternehmen. Der Verband vertritt die gesetzliche Unfallversicherung gegenüber Politik, Bundes-, Landes-, europäischen und sonstigen nationalen und internationalen Institutionen sowie Sozialpartnern. Die DGUV © DGUV/Dominik Buschardt FOKUS 13 dbb magazin | Oktober 2023

Arbeitswelt im Kontext des Klimawandels Der Klimawandel passiert jetzt – und die Arbeitswelt muss sich dagegen wappnen Der Klimawandel hat einen Effekt auf alle Lebensbereiche, auch der Berufsalltag gehört dazu. Dr. Stefan Hussy, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), über die Herausforderungen der Klimakrise für Betriebe und Einrichtungen und welche Hilfestellungen die gesetzliche Unfallversicherung bietet. Hochwasser, Hitzewellen, Dürreperioden – Extremwetterereignisse aufgrund des Klimawandels nehmen stetig zu. Die Sommermonate Juni bis August 2023 waren weltweit die heißesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die gesamten vergangenen acht Jahre waren die heißesten in der Geschichte der Menschheit. Neben den erwartbaren Effekten auf die eigene Gesundheit und das gesellschaftliche Leben, haben diese Entwicklungen auch Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität der Menschen, denn gesundheitliche Schäden wie Hitzestress und Kreislaufschädigungen werden auch während der Arbeit verstärkt auftreten. Trockenheit und die Zunahme von UV-Einstrahlung gefährden vor allem jene Beschäftigten, die unter freiem Himmel arbeiten. Und nicht nur der Körper leidet: Auch auf die Psyche des Menschen wirkt sich der Klimawandel aus, ist er doch Treiber für Störungen und Krisen. Um herauszufinden, wie stark sich deutsche Unternehmen von der Klimakrise betroffen sehen und welche Maßnahmen sie bereits ergriffen haben, führte die DGUV im September vergangenen Jahres eine repräsentative Umfrage unter mehr als 1 000 Beschäftigten aus über 20 Branchen durch. Unter den Befragten zeigten sich insbesondere die Führungskräfte als sensibel gegenüber dem Einfluss des Klimawandels auf die Situation am Arbeitsplatz. Mehr als 30 Prozent von ihnen sind demnach der Meinung, dass sich der Klimawandel in den vergangenen Jahren bereits auf die Arbeitsplätze und -tätigkeiten in ihrem Betrieb ausgewirkt habe. Gesundheitsprobleme und Unfallrisiken durch Hitze wurden als das dringendste Problem eingestuft, gefolgt von Stress, der durch den Klimawandel verursacht wird. Knapp die Hälfte aller Befragten wünschte sich Präventionsangebote für die psychische Gesundheit. Glücklicherweise ist nicht jeder Unfallversicherungsträger allein mit diesen Problemstellungen. Als Verbund und gemeinsam mit unseren Forschungsinstituten und Fachbereichen steuern wir wissenschaftliche Erkenntnisse bei, um Veränderungen frühzeitig aufzuspüren und ihnen entgegenzutreten. Diese Erkenntnisse sowie Good-Practice-Beispiele aus den Betrieben zahlen auf unsere vorhandenen Präventionsangebote ein oder werden für neue Angebote genutzt. Das Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der DGUV (IPA) hat beispielsweise damit begonnen, die möglichen Auswirkungen von klimabedingten Gefährdungen auf die Gesundheit des Menschen in eigene Studien zu integrieren. Das betrifft natürlich Themen wie die UV-Strahlung der Sonne, aber auch Fragen zur möglichen Zunahme von Allergien oder neuen Krankheitserregern, die sich durch den Klimawandel verstärkt in unseren Breitengraden verbreiten können. Das Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG) in Dresden arbeitet verstärkt zu Fragen der Nachhaltigkeit, beispielsweise durch Seminarangebote und Konzepte für nachhaltige Veranstaltungen. Das Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA) schließlich widmet sich unter anderem hitze- und strahlungsbedingten Risiken, die durch die globale Erwärmung zunehmen. So wurde zum Beispiel im Rahmen des Projektes Genesis-UV bereits seit 2014 die UV-Belastung von Menschen bei der Arbeit, aber auch in ihrer Freizeit ermittelt. In Fragen des Arbeitsschutzes haben wir den Anspruch, zu agieren anstatt zu reagieren. Zukünftige Entwicklungen früh zu erkennen, heißt, adäquat vorsorgen zu können. Zu diesem Zweck hat die DGUV ein sogenanntes Präventionsradar entwickelt. Mit verschiedenen Befragungen begleiten wir aktuelle Entwicklungen in der Arbeitswelt. Dazu gehören auch Themen wie Nachhaltigkeit, Klimawandel und Ressourcenschutz. Der Klimawandel ist nichts, was in ferner Zukunft passieren wird. Die Krise ist da und wirkt sich schon jetzt auf die Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten aus. Betriebe und Einrichtungen müssen sich deshalb mit den bereits spürbaren und den absehbaren Folgen des Klimawandels beschäftigen und sich an sich verändernde klimatische Bedingungen anpassen. Als gesetzliche Unfallversicherung stehen wir mit unserem Know-how fest an der Seite der Unternehmen. ■ Dr. Stefan Hussy © DGUV/Jan Röhl 14 FOKUS dbb magazin | Oktober 2023

BEAMTE Arbeitsschutz und Unfallfürsorge für Beamtinnen und Beamte Im Dienst rundum abgesichert Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn umfasst auch den Schutz von Leben und Gesundheit seiner Beamtinnen und Beamten. Er muss sie bei der Ausübung ihrer amtlichen Tätigkeit vor berufsbedingten Gefahren und schädigenden Belastungen schützen. Auch hier gelten das Arbeitsschutzgesetz, das Arbeitssicherheitsgesetz sowie die darauf basierenden Rechtsvorschriften. Im Falle eines Dienstunfalls greift die beamtenrechtliche Unfallfürsorge. Arbeitsschutz Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 4 ArbSchG (Arbeitsschutzgesetz) unterliegen Beamtinnen und Beamte grundsätzlich den Regelungen des allgemeinen Arbeitsschutzes für Beschäftigte. Die entsprechenden Unfallverhütungs- und Arbeitsschutzvorschriften werden gemäß § 18 Abs. 1 ArbSchG als Rechtsverordnungen von der Bundesregierung oder den Unfallversicherungsträgern erlassen. Nach § 20 Abs. 2 ArbSchG kann für bestimm- te Tätigkeiten im öffentlichen Dienst des Bundes bestimmt werden, dass Vorschriften des Arbeitsschutzes ganz oder zum Teil nicht angewandt werden, soweit öffentliche Belange – insbesondere zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit – dies zwingend erfordern. Das gilt insbesondere bei Bundeswehr, Polizei, Zivil- und Katastrophenschutzdiensten, beim Zoll oder bei Nachrichtendiensten. Für die Beamtinnen und Beamten der Länder, Gemeinden und sonstigen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts wird die Anwendung der nach § 18 ArbSchG erlassenen Rechtsverordnungen gesondert mittels Landesrecht angeordnet. Unfallfürsorge Die Regelungen zur eigenständigen Unfallfürsorge für Beamtinnen und Beamte sind dagegen in Bund und Ländern systematisch im jeweiligen Beamtenversorgungsrecht enthalten. Sie sind das Äquivalent zum Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, das im SGB VII geregelt ist, jedoch mit beamtenrechtlichen Besonderheiten. Die beamtenrechtliche Unfallfürsorge dient der Absicherung von dienstlich verursachten Beeinträchtigungen körperlicher Art. Jede Beamtin und jeder Beamte soll durch besondere Leistungen vor spezifischen, mit dem Dienst verbundenen Risiken und dort erlittenen Beschädigungen oder durch den Dienst hervorgerufene Krankheiten geschützt beziehungsweise entschädigt werden. Der Anspruch auf Unfallfürsorge entsteht durch einen Dienstunfall. Was ein Dienstunfall ist, definiert § 31 BeamtVG oder entsprechendes Landesbeamtenrecht als „ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist“. Zum von der Unfallfürsorge geschützten Dienst gehören auch Dienstreisen, dienstliche Tätigkeiten am Bestimmungsort und die Teilnahme an dienstlichen Veranstaltungen. Dies gilt auch für verpflichtende Nebentätigkeiten im öffentlichen Dienst sowie für Tätigkeiten, die von Beamten im Zusammenhang mit den Dienstgeschäften erwartet werden, die aber nicht kraft Gesetzes in der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 2 SGB VII) abgesichert sind. Als Dienst gilt dabei auch der Arbeitsweg, allein oder in Fahrgemeinschaft. Hier dürfen Beamte vom unmittelbaren Weg zwischen Wohnung und Dienststelle abweichen, um zum Beispiel Kinder zur Kita zu bringen. Das gilt beim Bund und in einigen Ländern auch für Homeoffice und Telearbeit. Leistungen Wenn Beamte, die aufgrund ihrer dienstlichen Tätigkeit einem erhöhten Risiko für bestimmte Krankheiten ausgesetzt sind, an einer Krankheit, die gemäß der Berufskrankheiten-Verordnung definiert und spezifiziert ist, wird dies als Dienstunfall betrachtet. Ausnahme: Die Beamtin oder der Beamte hat sich die Krankheit außerhalb des Dienstes zugezogen. Die Leistungen der Dienstunfallfürsorge umfassen spezielle materielle Erstattungen sowie dauerhafte Versorgungszahlungen im Falle von Dienstunfähigkeit oder Tod. Zu diesen Leistungen gehören zunächst die Erstattung von Sachschäden, die Kosten für die Durchführung des Heilverfahrens, der Unfallausgleich und die einmalige Unfallentschädigung. Darüber hinaus besteht im Falle von Dienstunfähigkeit aufgrund eines Dienstunfalls Anspruch auf ein erhöhtes Unfallruhegehalt und im Todesfall gibt es eine erhöhte Hinterbliebenenversorgung. Im Fall einer Schädigung im Rahmen einer besonderen Auslandsverwendung greift die sogenannte Einsatzversorgung. wa Model Foto: Colourbox.de FOKUS 15 dbb magazin | Oktober 2023

BLICKPUNKT Arbeitsschutz und Klimawandel Hitzeschutz am Arbeitsplatz ist kein Nischenthema mehr Besonders in Südeuropa war der Sommer 2023 extrem heiß. Auch in Deutschland lagen die Juni- und Juli-Temperaturen im Mittel deutlich über denen der Referenzperiode von 1961 bis 1990. Der zwischenzeitliche Absturz der Werte auf beinahe frühherbstliches Niveau im August kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Klimawandel auch Deutschland betrifft. Arbeitgeber und Dienstherren müssen verstärkt über Hitzeschutzkonzepte nachdenken. Das Center for Planetary Health Policy (CPHP) und die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) haben im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) ein Gutachten zum Thema „Klimawandel und Gesundheit – Auswirkungen auf die Arbeitswelt“ herausgegeben. Die Autorinnen der Studie, Dr. Stefanie Bühn (KLUG) und Maike Voss (CPHP), kommen zu dem Schluss, dass die Verknüpfung der Folgen des Klimawandels mit den Erfordernissen von Arbeitsschutz und betrieblichem Gesundheitsmanagement noch am Anfang steht, woraus künftig neue Handlungsfelder resultieren. Darüber hinaus hätten externe Krisen und Systemschocks wie klimawandelbedingte Extremwetterereignisse oder die Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gezeigt, wie anfallig die Sozialsysteme seien. Weil in den Bereichen Klimapolitik und Sozialpolitik bisher vorwiegend getrennt geforscht werde, sei „die Evidenz zu integrierter Klima- und Sozialpolitik dünn“. Forschungslücken bestünden vor allem hinsichtlich der Umweltauswirkungen von Sozialleistungen oder der Resilienz sozialer Sicherungssysteme gegenüber Klimawandelfolgen. Nach Auffassung von Maike Voss zeigt das Gutachten deutlich, dass der Klimawandel nicht nur massive Auswirkungen auf die Gesundheit und Sicherheit von Menschen an ihren Arbeitsplätzen hat, sondern dabei auch doppelt wirkt: „Zum einen können neue Arbeitsschutzrisiken auftreten, zum anderen können sich die bestehenden intensivieren und häufen. Da geht es zum Beispiel um die Auswirkungen von Ozon, UV-Strahlung und Extremwettereignissen. Aber auch Allergiezeiträume verschieben und verlängern sich, und wir sehen neue übertragbare Krankheiten.“ Model Foto: M-Production/Colourbox.de 16 FOKUS dbb magazin | Oktober 2023

Hitze erhöhe zudem das Risiko für Arbeitsunfälle, zum Beispiel durch verschwitzte Hände, verminderte Konzentration oder beschlagene Brillengläser. Deshalb müsse dem Thema Hitzeschutz besondere Aufmerksamkeit in den Betrieben zukommen. Zwar seien von Hitze grundsätzlich alle Menschen betroffen. Aber es müsse auch spezifische Schutzkonzepte für besonders vulnerable Gruppen geben. Darunter zählt Voss Menschen mit Vorerkrankungen, Schwangere, schwer körperlich Arbeitende, über 65-Jährige, Menschen, die bestimmte Medikamente nehmen, oder Menschen mit Behinderungen. Weiter seien Beschäftigte betroffen, die häufig draußen arbeiten sowie Beschäftigte im Schichtdienst, die sich zum Beispiel in Tropennächten nicht richtig erholen können. In ihrem Gutachten haben Voss und Bühn den Fokus besonders auf das betriebliche Gesundheitsmanagement, den Arbeitsschutz, die betriebliche Gesundheitsförderung und -prävention sowie das betriebliche Wiedereingliederungsmanagement gelegt: „Man muss das Rad nicht neu erfinden, sondern kann das nutzen, was in den Betrieben schon da ist. Im ersten Schritt geht es darum, das Thema auf die Agenda zu setzen und darüber zu sprechen. Im Bereich Arbeitsschutz sind Arbeitgebende schon verpflichtet, Klimarisiken mitzudenken, das wird nur noch nicht so häufig gemacht. Wichtig ist, sich Mehrfachbelastungen anzuschauen – Luftverschmutzung wie Feinstaubbelastung und Hitze potenzieren sich gegenseitig“, erklärt Maike Voss im Interview mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Grundsätzlich sei ein Zusammenspiel von Akteuren wie den Betriebskrankenkassen, der Rentenversicherung, den Berufsgenossenschaften und Sozialpartnern entscheidend, um gemeinsam Programme und Unterstützung für Betriebe aufzusetzen. Dabei gehe es auch um die Akzeptanz von Maßnahmen. Von der verbreiteten Mentalität „Windkraft, ja gerne, aber nicht in meinem Garten“ müsse sich die Gesellschaft verabschieden, konstatieren die Autorinnen. Dazu trage auch bei, dass derzeit weder die Risiken durch den Klimawandel noch die Chancen, die Klimaschutz und Klimaanpassung mit sich bringen, ausreichend kommuniziert würden. Auf der anderen Seite unterschätze die Politik gerne die vorhandene Unterstützung für Klimaschutz und -anpassung in der Bevölkerung. Hier böten betriebliche Strukturen gute Ansatzpunkte, um Beschäftigte über die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels zu informieren, um dann gemeinsam kontextspezifische Maßnahmen zu entwickeln. „Gesundheitsakteure genießen hohes Vertrauen in der Gesellschaft. Über Betriebsärzte und -ärztinnen lassen sich die Zusammenhänge von Gesundheit und Klimawandel gut kommunizieren“, stellen die Autorinnen fest. Die Zeit, damit anzufangen, sei jetzt, denn alle konkreten Maßnahmen, die heute umgesetzt würden, wirkten auch in die Zukunft. Zusammengefasst werden könnten solche Aktivitäten in Hitzeaktionsplänen. Für die Umsetzung könnten auch Hitzeaktionsbündnisse innerbetrieblich und zusammen mit anderen Akteuren hilfreich sein, um gemeinsam Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. „Doch das Problem ist, dass viele Betriebe für die gesundheitlichen Auswirkungen von Hitze weder sensibilisiert,informiert noch auf die gesundheitlichen Risiken vorbereitet sind.“ Das müsse sich dringend ändern. ■ Die Studie: t1p.de/klima_und_arbeitsschutz Mehr Informationen zum Thema Hitzeschutz: hitze.info Tipps zum Hitzeschutz von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: t1p.de/hitzetipps Webtipps Model Foto: M-Production/Colourbox.de FOKUS 17 dbb magazin | Oktober 2023

REPORTAGE Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung Deutschlands nautische Detektei Sportboote, Fischerkutter, Containerschiffe: Sobald ein Schiff in deutschen Hoheitsgewässern verunglückt, ist die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung beteiligt. Doch nicht jeder Unfall ist für die Behörde in Hamburg von Interesse. Samstag, 6. Februar 2016, Sorge im Hafen von Burgstaaken, im Süden der Ostseeinsel Fehmarn: Der Fischkutter „Condor“ ist seit mehreren Stunden überfällig. Noch am Vormittag, gegen 11.30 Uhr, hat der Kapitän bei der Fischereigenossenschaft angerufen und einen reichen Fang gemeldet. So reich, dass er und sein Kollege im Hafen Unterstützung beim Verarbeiten der vielen Fische brauchen. Aber die beiden kommen nicht zurück an Land. Inzwischen ist früher Abend. Keine weitere Nachricht, keine Reaktion auf Anrufe. Die Fischereigenossenschaft verständigt die Wasserschutzpolizei. Versuche, das Schiff zu orten, schlagen fehl. Ein Fischkutter steuert die letzte bekannte Position der „Condor“ an, zwei Seenotrettungskreuzer eilen zur Hilfe, darüber hinaus unterstützt die Bundespolizei die Suche, mit Boot und Hubschrauber. Keine Spur von der „Condor“. Die Wassertemperatur beträgt drei Grad Celsius. Noch am selben Abend, nur wenige Stunden später, traurige Gewissheit: Kurz nach 20 Uhr entdeckt der Hubschrauber einen leblosen Körper im Wasser, gegen 20.50 Uhr einen weiteren. Die Seenotrettungskreuzer bergen die Leichen. Es handelt sich um die beiden Fischer. Was ist passiert? Warum mussten die Männer sterben? Und vor allem: Wäre es möglich gewesen, den Unfall zu verhindern? Antworten auf diese Fragen zu ermitteln, das ist der Job von sechs Beamtinnen und Beamten, die für die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU) arbeiten, eine der kleinsten Behörden der Republik. Ihr Dienstort: Hamburg, ein schmaler Flur in einem mächtigen Backsteingebäude, das direkt hinter den Landungsbrücken an der Elbe thront. Hier legen Boote für Hafenrundfahrten ab, im Osten die Elbphilharmonie, im Westen der Hamburger Containerhafen, wo Kräne die vielen Container wie bunte Bauklötze aufeinanderstapeln. Der Direktor der Behörde: Ulf Kaspera, Jurist, gebürtiger Oldenburger, seit 2017 im Amt. Er und sein Team werden aktiv, wenn sich in deutschen Hoheitsgewässern sehr schwere Seeunfälle ereignen. Heißt: Wenn ein Schiff untergeht, Menschen sterben oder es zu massiver Umweltverschmutzung kommt. Und auch wenn irgendwo auf den Weltmeeren ein Schiff unter deutscher Flagge schwer verunglückt. „Die Presse fragt mich oft, wer Schuld hat“, erzählt Kaspera, dessen Büro sich am Ende des schmalen Flurs befindet, auf der rechSchmaler Flur, breites Aufgabengebiet: Ulf Kaspera erläutert die Organisationsstruktur der BSU. © Jan Brenner © BSU (5) 18 FOKUS dbb magazin | Oktober 2023

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