dbb magazin 10/2022

Fachkräftemangel Die Stellschrauben müssen jetzt gedreht werden Es gibt Dinge, die lassen sich nur schwer vorhersehen. Wladimir Putins brutaler Angriffskrieg in der Ukraine gehört dazu. Die möglichen Konsequenzen aus der Entscheidung, sich bei der Energieversorgung weitgehend von einem einzigen Lieferanten abhängig zu machen, hätte man zumindest erahnen können. Glasklar prognostizieren ließ sich dagegen der Arbeits- und Fachkräftemangel, der zu einer echten Wachstumsbremse zu werden droht. Geburtenziffern, Schulanfänger, Ausbildungs- und Studienabsolventen, Alterskohorten, Renteneintritte, Einwanderungszahlen – die Daten, aus denen sich Mangel oder Überangebot auf dem Arbeitsmarkt ablesen lassen, sind bekannt. Und die Probleme fangen erst richtig an, wenn sich ab Mitte des Jahrzehnts die geburtenstarken BabyboomerJahrgänge in den Ruhestand verabschieden. Der Mangel trifft Wirtschaft und Verwaltungen in der Breite. ITFachkräfte werden ebenso gesucht wie Erzieherinnen, Handwerker, Polizistinnen oder Kellner. In der Industrie, der Bauwirtschaft oder bei den Dienstleistern war der Fachkräftemangel im Frühsommer nach einer DIHKUmfrage das zweitgrößte Geschäftsrisiko, gleich hinter den Energie- und Rohstoffpreisen. Mehr als 360000 Beschäftigte fehlen allein im öffentlichen Dienst. Dabei ist gerade die Personalknappheit in den Kitas und Schulen besonders fatal, weil sie das Problem des Fachkräftemangels verschärft. Ohne ausreichende Betreuungsmöglichkeiten ist Eltern der Weg in den Beruf oder zu einer höheren Stundenzahl versperrt – betroffen sind meist gut qualifizierte Frauen. Und jede Stunde Unterrichtsausfall in den Schulen verkleinert den potenziellen Fachkräftepool und vergrößert den Anwärterkreis für das künftige Bürgergeld. Ohne ausreichende Personalausstattung verspielt der öffentliche Dienst aber auch das Vertrauen, das er sich in zwei Jahren Pandemie aufgebaut hat. Das ist fatal, wenn man bedenkt, dass der öffentliche Dienst momentan so gefragt ist wie lange nicht mehr. Beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren für Flüssiggasterminals oder Windparks, die große Bildungsoffensive, die Umsetzung des neuen Bürgergeldes, die Auszahlung von Krisenhilfen an Bürger und Unternehmen – überall kommt es auf funktionierende Verwaltungen an. Die Politik muss für eine bessere Berufsorientierung und leistungsfähige Bildungseinrichtungen sorgen und bestehende Beschäftigungshürden abbauen. Dazu zählen steuerliche Fehlanreize wie das Ehegattensplitting genauso wie fehlende Ganztagsbetreuung. Auch sollte die Regierung dem späten Bekenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, endlich auch ein praxistaugliches Migrationsrecht folgen lassen. Nicht zuletzt kommt es darauf an, Produktivitätspotenziale zu heben. Solange Verwaltungsmitarbeiter damit beschäftigt sind, Papierakten von A nach B zu schicken, weil die versprochene E-Akte weiter auf sich warten lässt oder Bürger für jede Kleinigkeit auf dem Amt vorsprechen müssen, ist die Personalnot im öffentlichen Dienst auch hausgemacht. Arbeitgeber und Gewerkschaften sind gemeinsam gefragt, für vernünftige Arbeitsbedingungen zu sorgen, wozu neben einer angemessenen Bezahlung auch eine ausreichende Personalausstattung gehört. Im öffentlichen Dienst muss die Bereitschaft der Finanzminister und Parlamente in Bund und Ländern hinzukommen, sich einen leistungsfähigen Staat auch etwas kosten zu lassen. Die Gewerkschaften müssen sich allerdings auch fragen lassen, ob sie mit einer vor allem auf untere Entgeltgruppen ausgerichteten Tarifpolitik so gut beraten sind, wenn in Ämtern und Behörden IT-Kräfte oder Ingenieurinnen und Ingenieure fehlen. Die Beschäftigten selbst sind gut beraten, regelmäßig die eigene berufliche Tätigkeit auf ihre Zukunftsfähigkeit abzuklopfen. Und bei Bedarf die Bereitschaft mitzubringen, sich weiter zu qualifizieren oder etwas ganz Neues anzufangen. Sonst droht das Paradox, dass in Deutschland Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel gleichzeitig zunehmen. Der Fachkräftemangel ist nicht plötzlich gekommen und er wird auch nicht über Nacht wieder verschwinden. Aber die Stellschrauben, mit denen er sich beheben lässt, sind bekannt. Jetzt müssen nur noch alle daran drehen. Frank Specht ... Frank Specht berichtet für das „Handelsblatt“ aus Berlin. Der Autor ... Solange Verwaltungsmitarbeiter Papierakten von A nach B schicken, ist die Personalnot im öffentlichen Dienst auch hausgemacht. Foto: Enenvski/Colourbox.de MEINUNG 6 AKTUELL dbb magazin | Oktober 2022

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==