dbb magazin 6/2021

interview Das wird unserer komplexen Welt nicht gerecht. Ebenso we­ nig der Vielfalt der Perspektiven und Interessen in einer freiheit­ lichen Gesellschaft. Ich werde nicht müde, für den Föderalis­ mus zu werben: Föderalismus begrenzt Macht und sichert Freiheit. Er garantiert Nähe zu den Menschen und gibt ihnen gerade angesichts der Globali­ sierung Halt. Vor allem ermög­ licht er einen Wettbewerb um die besten Lösungen. Diese Vor­ züge haben sich doch auch in der Pandemie gezeigt. Im ver­ gangenen Frühjahr, als sich das Infektionsgeschehen regional sehr unterschiedlich entwickel­ te, hat unsere föderale Ordnung ermöglicht, mit angepassten Konzepten zu reagieren. Weil die Länder unterschiedliche Wege erproben konnten, sind dort wegweisende Modellpro­ jekte wie in Jena, Rostock oder Tübingen entwickelt worden. Davon hat am Ende ganz Deutschland profitiert. Die föderale Ordnung der Bun- desrepublik ist im Grundgesetz verankert. Anhänger eines zen- tralistischeren Ansatzes verwei- sen aber immer wieder gerne auf die ebenfalls im Grundge- setz genannte „Herstellung gleichwertiger Lebensverhält- nisse“. Und die oben bereits ge- nannten Probleme sind ja nicht von der Hand zu weisen. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bun- destagsfraktion, Ralph Brink- haus, forderte sogar schon „eine Jahrhundertreform – vielleicht sogar eine Revoluti- on“. Was erwarten Sie für die kommenden Jahre: Reförm- chen oder Revolution? Unsere föderale Struktur erfor­ dert stets die Bereitschaft zur Reform. Nichts ist so häufig am Grundgesetz geändert worden, wie jene Artikel, die die Bezie­ hungen zwischen Bund und Ländern regeln. Besser gewor­ den ist unsere Verfassung da­ durch nur selten. Natürlich müssen wir Lehren aus der Corona-Bekämpfung ziehen. Offensichtlich haben wir in Deutschland Defizite bei der Digitalisierung. Es kann nicht sein, dass staatliche Hilfen an Unternehmen und Selbststän­ dige über Wochen nicht ausge­ zahlt werden konnten, weil es für deren Berechnung an den erforderlichen Softwareschnitt­ stellen zwischen Bund und Län­ dern gefehlt hat. Die unter­ schiedlichen Programme in den Gesundheitsämtern haben die Pandemiebekämpfung eben­ falls erschwert. Wir sollten da­ bei allerdings nicht vergessen, dass die Mitarbeiter des öffent­ lichen Dienstes in den vergan­ genen Monaten sehr viel geleis­ tet haben. Auch sie sind Teil unseres Föderalismus, in dem Länder und Kommunen für den größten Teil der Verwaltung zu­ ständig sind. Bei der Pandemie­ bekämpfung sind auch Miss­ stände sichtbar geworden. Wer aber alle Probleme auf den Fö­ deralismus schiebt, macht es sich zu einfach. Wir sind seit Längerem in einem Sicherheits­ denken gefangen. Eine exzes­ sive Rechtsprechung hat das Handeln der Behörden stark eingeengt – das hat uns schon lange vor der Pandemie ge­ bremst. Eine gute Verwaltung übernimmt Verantwortung, re­ agiert auf Anliegen der Bürger und versteht sich als Problem­ löser. Dafür braucht es Ermes­ sensspielräume – und die Be­ reitschaft der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, sie auch zu nutzen. Oft werden Verän­ derungen erst in Krisensitua­ tionen möglich, weil der Druck dann besonders groß wird. Der Schock der Pandemie hat im letzten Frühjahr vielfach zu einer neuen Beweglichkeit ge­ führt. Daran sollten wir uns künftig ein Beispiel nehmen. Jetzt dürfen wir nicht wieder in die alte Bedenkenträgerei zurückfallen. Eine Revolution brauchen wir nicht, mehr Prag­ matismus aber schon. Nur so kann unser Land eine neue Dynamik entfalten. Wir möchten Sie zu einem kleinen Gedankenspiel ein­ laden. Wenn Sie jetzt sofort drei Dinge am deutschen Föde- ralismus verbessern könnten: Welche wären das? Als Bundestagspräsident ist es nicht mehr meine Aufgabe, eine detaillierte Reformagenda vorzulegen. In meiner Zeit als Bundesminister habe ich aber dafür geworben, den Ländern mehr Eigenständigkeit und Verantwortung zu geben und den Wettbewerb um beste Lösungen als Chance anzuneh­ men. Warum sollen sie nicht einen größeren Spielraum haben, eigene Steuern zu er­ heben oder das Niveau von Sozialleistungen selbst zu bestimmen? Das würde die Kommunen und Länder stär­ ken und ihr Handeln verän­ dern. Eine solche Reform halte ich nach wie vor für richtig. Derzeit gibt es ein Wirrwarr an Kompetenzen, zu viele miteinander verschränkte Verhandlungsarenen und eine intransparente föderale Finanzverflechtung, die falsche Anreize setzt. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf alte bewährte Grundsätze: Wer politisch handelt, muss dafür die Verantwortung tragen. Bei aller zuvor genannten Kritik: Der Staatsaufbau der Bundesrepublik hat sicherlich auch seine Stärken und sich über Jahrzehnte in vielen Berei- chen bewährt. Die Europäische Union ist nun kein föderaler Bundesstaat, aber wenn wir nach Brüssel schauen: Gibt es etwas, dass die EU Ihrer Mei- nung nach vom deutschen Föderalismus lernen kann? Grundsätzlich gilt für Europa genauso wie für Deutschland: Wir verbessern die Legitimität – und Qualität – von Entschei­ dungen, indem wir die Kom­ petenzen zwischen den Ent­ scheidungsebenen richtig austarieren. Subsidiarität be­ schreibt genau, was wir brau­ chen: Entschieden wird so viel wie möglich auf unterster Ebe­ ne, nur das Nötigste wird auf die übergeordneten Ebenen gehoben. Das bedeutet aber auch, dass die Europäische Uni­ on gestärkt werden muss, um in den großen Zukunftsfragen und bei Krisen handlungsfähi­ ger zu werden – auch das ist eine Lehre aus der Pandemie. Vor wenigen Wochen hat die Konferenz zur Zukunft Europas begonnen, die von hohen Er­ wartungen begleitet wird, in der EU aus dem ständigen Re­ paraturmodus herauszukom­ men. Der Erfolg dieses ambiti­ onierten Projekts wird nicht allein an ihren Ergebnissen, son­ dern auch an deren konkreten Umsetzung gemessen werden. Die Erfahrung lehrt deshalb, nicht gleich eine Neugründung der EU anzustreben – auch wenn wir uns zutrauen sollten, in den kommenden Monaten Vertragsveränderungen wenigs­ tens zu diskutieren. < Wolfgang Schäuble © Henning Schacht/Deutscher Bundestag (2) 5 dbb > dbb magazin | Juni 2021

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