dbb magazin 10/2020

die andere meinung © J e a n - P h i l i p p e D e l b e r g h e / U n s p l a s h . c o m 30 Jahre deutsche Einheit Mit mehr Eigen­ verantwortung in die Zukunft In 30 Jahren ist Wohlstand gewachsen und Mo­ dernisierung erfolgt. Lücken gibt es noch immer. Jetzt ist es Zeit für einen nächsten Schritt. Mehr Eigenverantwortung stehe dem Osten gut, meint Marie-Sophie Schiller. Pünktlich zu den Jubiläen ist es wieder so weit: Einheitsberich­ te loben. Studien mahnen. Poli­ tikerinnen und Politiker erzäh­ len, was bereits geschafft ist. Und es wird ausgerechnet, wo wie viele Prozente noch zum Westniveau fehlen. Es ist jedes Jahr ähnlich und hat beinah schon Tradition. Aber was ler­ nen wir daraus? Ja, natürlich. Noch immer gibt es Unterschiede zwischen Ost- und Westlöhnen. Noch immer entwickelt sich die Wirtschaft langsamer als in den westdeut­ schen Bundesländern. Und es stimmt ja: Kein Bundesland im Osten ist wirtschaftlich so stark wie etwa das schwächste Bun­ desland imWesten. Man könn­ te zugespitzt auch sagen: Der Osten ist wirtschaftlich noch immer ein Stück abhängig vom Westen. Denn nicht nur der Niedriglohnsektor ist etwa in Mecklenburg-Vorpommern hö­ her als in Baden-Württemberg. Es fehlen auch heute noch die großen Konzernzentralen im Osten. Immer wieder gibt es Meldungen, dass große Firmen neue Zweigstellen in Branden­ burg oder Sachsen eröffnen. Das ist gut und schafft Arbeits­ plätze. Aber noch immer hat kein einziges DAX-Unterneh­ men seinen Sitz in Ostdeutsch­ land. Das führt zu mindestens einem weiteren strukturellen Prob­ lem. Drei Jahrzehnte im verein­ ten Land hat Ostdeutschland ein massives Teilhabeproblem. Nur etwa zwei Prozent der DAX-Vorstände stammen aus dem Osten. Aber die mangeln­ de Teilhabe hört in der Wirt­ schaft nicht auf. Hochschulen, Gerichte, Medienhäuser: Über­ all fehlen Menschen mit ost­ deutschen Biografien an Spit­ zenpositionen. Das Problem dabei? Es fehlen Identifikationsfiguren für ost­ deutsche Karrieren, für das Ge­ fühl von Mitbestimmung und Macht in der öffentlichen Wahrnehmung. Nach der Wie­ dervereinigung gab es den so­ genannten Eliteaustausch. Vor 30 Jahren sicher an vielen Stel­ len richtig und wichtig. Schließ­ lich wanderte so auch viel Wis­ sen an verschiedene Positionen. Aber wo bleiben die öffentlich diskutierten Konzepte, die Spätfolgen eines solchen Ost- West-Transfers von Personal zu beenden? Aus verschiedenen Eliteforschungen weiß man, dass sich eine Elite auch oft aus sich selbst heraus rekrutiert. Also Menschen an bestimmte Positionen gelangen, die deren Vorgängerinnen und Vorgän­ gern ähnlich sind. Diese Diskus­ sion gibt es auch im Bereich Teilhabe von Frauen und Peo­ ple of Color. In regelmäßigen Abständen taucht daher das Wort Ostquote auf. Berechtigter Ein­ wand: Heute ist solch eine Quote nur sehr schwer umsetzbar – wer ist denn dann ost genug für die Quote? Ich bin im Jahr 1989 geboren, zählt das? Was, wenn jemand im Osten gebo­ ren ist, aber die meiste Zeit im Westen gelebt hat? Oder an­ dersherum. Vielleicht wäre eine solche Quote viel eher notwendig gewesen. Um klar­ zumachen: Der Elitetransfer war wichtig für den Prozess der Wiedervereinigung, aber eben nur eine Übergangslösung. Die frühe Quote hätte ein Signal sein können, um klarzuma­ chen: Es ist von Anfang an eine frühe Teilhabe ostdeutscher Personen in wichtigen Ämtern und Chefpositionen gewollt. Schauen wir nicht zurück, son­ dern nach vorn, wird aber eines auch ganz deutlich: Die ost­ deutsche Teilhabe ist rein wirt­ schaftlich gesehen nicht das Hauptproblem von morgen. Es ist weniger die Frage, wer bestimmte Jobs nicht machen soll, sondern vor allem, wer sie überhaupt machen kann. Jahr­ zehntelange Abwanderung und strukturschwache Regionen führen dazu, dass der Fach­ kräftemangel im Osten noch gravierender als imWesten ist. Der Osten ist noch stärker auf Zuwanderung angewiesen als westdeutsche Länder. Wie kann das überhaupt gelin­ gen? Nach 30 Jahren reicht es vielleicht nicht mehr, die Un­ gleich­ heit der Vergangen­ heit zu be­ schreien. Es reicht auch nicht mehr, politi­ sche Änderungen einzufordern. Es muss etwas anderes noch stärker als bislang dazukom­ men: die eigenverantwortliche Gestaltung der Zukunft im ost­ deutschen Raum. Denn zu den größten Proble­ men der ostdeutschen Wirt­ schaft wird das Fehlen gut ausgebildeter und qualifizier­ ter Menschen gehören. Sie fehlen schon jetzt. Und noch immer werden Menschen ab­ geschreckt, ihren Lebensmit­ telpunkt in den Osten zu verla­ gern. Rassismus und Intoleranz dürfen nicht länger laut aus den Ländern herausschallen. Eine weltoffene, Demokratie bejahende und tolerante Mitte muss noch lauter werden. Auch in ländlichen Regionen. Nur dann wird der Einheits­ bericht in zehn Jahren ein positiver Bericht sein. Marie-Sophie Schiller << Die Autorin … … lebt in Leipzig und arbei­ tet als Journalistin für die ARD und den Deutschland­ funk. Nach ihrem Studium der Fächer Politikwissen­ schaft und Hörfunk volon­ tierte sie beimMitteldeut­ schen Rundfunk. Im Jahr 2019 startete sie außerdem den Podcast „Ost – Eine An­ leitung“. In den halbstündi­ gen Folgen erklären Gäste die Zusammenhänge von Politik und Gesellschaft im Osten Deutschlands. Sie ist Redaktionsleiterin des Pod­ cast-Radios detektor.fm . 24 > dbb magazin | Oktober 2020

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