dbb magazin 6/2020

europa reits Mitte Mai mit großer Mehrheit eingesetzt. Bei allem Zeitdruck sollte je­ doch ein Kernvorschlag der Kommission zumMFR nicht unter den Tisch fallen, der seit Mai 2018 im Raum steht und mit der Corona-Pandemie noch an Bedeutung gewonnen hat: die Verknüpfung von EU-För­ dermitteln mit der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten. Der damalige EU-Haushaltskommissar Gün­ ther Oettinger hatte das völlig zu Recht damit begründet, dass die Rechtsstaatlichkeit ein wichtiger Indikator für die zweckgerichtete Verwendung der EU-Gelder ist. Die Bundes­ regierung sollte ihr ganzes Ver­ handlungsgewicht einsetzen, damit dieser Vorschlag nicht verwässert wird. << Nicht weniger Demo­ kratie, sondern mehr Der Umgang mit der Pandemie hat gezeigt, dass das europäi­ sche Wertefundament Demo­ kratie, Parlamentarismus, Rechtsstaatlichkeit und Grund­ rechte gerade in Krisenzeiten erodiert. Das ungarische Par­ lament hat sich durch Not­ standsgesetze selbst entmach­ tet und in Polen führte die Regierung nach der Aushebe­ lung der unabhängigen Ge­ richte eine umstrittene Wahl­ rechtsreform durch. Aber wir müssen gar nicht mit dem Fin­ ger auf andere zeigen: Mit sei­ nem Urteil zum EZB-Anleihen­ kauf (und insbesondere der ungewohnt harschen Kritik am Europäischen Gerichtshof in der Begründung) erschütterte das Bundesverfassungsgericht die europäische Rechtsgemein­ schaft und riskierte einen Prä­ zendenzfall, auf den sich na­ tionale Gerichte in anderen Mitgliedstaaten beziehen könnten, wenn sie zukünftig die Rechtsprechung des Euro­ päischen Gerichtshofs in Zwei­ fel ziehen wollen. Dass der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, angekündigt hat, die konsequente Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus (wie er in Art. 7 des EU-Ver­ trags verankert ist) und ei- nen Rechtsstaats-TÜV für alle Mitgliedstaaten der EU zum Schwerpunkt der Ratspräsi­ dentschaft zu machen, ist voll zu unterstützen. Schließlich dürfen die Werte der Europäi­ schen Union nicht zu bloßen Worthülsen degradiert wer­ den, sondern müssen gelebte Werte bleiben, die durchsetz­ bar sind. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass der neue Überprüfungszyklus mit dem erstmalig im Herbst vorgeleg­ ten Bericht über die Lage der Rechtsstaatlichkeit den nöti­ gen Raum auf der Agenda des Rates erhält. Im Dialog mit dem Europaparlament und den Partnerregierungen im Ministerrat können somit rechtsstaatliche Defizite er­ kannt und reaktive Maßnah­ men beschlossen werden. Gleichzeitig sollte die Bundes­ regierung eine Brücke zwi­ schen der EU-Ratspräsident­ schaft und ihrem Vorsitz im Ministerkomitee des Europa­ rates ab November 2020 schlagen und sich für eine Wertediskussion von gesamt­ europäischer Perspektive ein­ setzen. In diesem Rahmen sollte sich die Bundesregie­ rung ganz besonders für den Beitritt der EU zur Europäi­ schen Menschenrechtskon­ vention starkmachen. Nicht zuletzt sollte sich die deutsche Ratspräsidentschaft auch dem Thema Pressefreiheit widmen. Medienfeindliche Rhe­ torik und Beschneidung der Un­ abhängigkeit des Rundfunks gehören immer mehr zur politi­ schen Strategie. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte sich für einen Medienpluralis­ mus starkmachen, die Euro­ päische Kommission in ihren Bemühungen bei der Bekämp­ fung von Fehlinformationen auf Plattformen und sozialen Netzwerken unterstützen und europäische Fördermittel für investigativen Journalismus bereitstellen. Das Solidaritätsversagen zu Beginn der Krise und die Dis­ kussionen zumWiederaufbau­ plan zeigen eines allzu deut­ lich: Wir müssen dringend einen ehrlichen und offenen Dialog über die Zukunft Euro­ pas führen. Und brauchen eine Bundesregierung, die im Rah­ men ihrer Ratspräsidentschaft die Grundlagen dafür legt. Linn Selle Einen neuen Aufbruch für Europa mitgestalten „ [Jetzt ist] eine Zeit zusammenzustehen in Europa und zu zei- gen, dass wir gemeinsam stark bleiben wollen. Dem fühlt sich die Bundesregierung verpflichtet, sowohl was die Ausgestaltung von gemeinsamen europäischen Hilfsprogrammen anbelangt, aber auch, was die Gestaltung unserer Präsidentschaft in den nächsten sechs Monaten ab dem 1. Juli anbelangt.“ In ihrer Vi- deoansprache zum Tag des Grundgesetzes am 23. Mai gab Bun- deskanzlerin Angela Merkel ihr europapolitisches Credo mit Blick auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Zeichen der Pandemie ab. Tatsächlich gibt es auch ohne COVID-19 genug schwierige Dos- siers, die in den kommenden Monaten eines Abschlusses harren: die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich, der nächste Mehrjährige Finanzrahmen der EU und die inhaltliche wie auch finanzielle Ausgestaltung der EU-Förderprogramme sowie nicht zuletzt die Großprojekte der Kommission von der Leyen – Green Deal, Digitalisierung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. Die Bewältigung der Corona-Krise kann hierbei durchaus als Chance verstanden werden, schließlich setzt sie neue Kräfte frei, die die Verhandlungen im Rat, aber auch zwischen den Institutio- nen dynamisieren können. Da kommt die deutsche EU-Ratspräsi- dentschaft zur rechten Zeit: Die Bundesregierung kann nun end- lich den „neuen Aufbruch für Europa“ mitgestalten, den sie sich bereits 2018 mit ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen hat. se << Die Autorin … … ist seit Juli 2018 ehren­ amtliche Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD). Die pro­ movierte Politologin arbei­ tet hauptamtlich als Refe­ rentin für Internationale Handelspolitik beim Ver­ braucherzentrale Bundes­ verband (VZBV). 29 > dbb magazin | Juni 2020

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