dbb magazin 6/2020

standpunkt << Der Autor … … ist Grafiker, Philologe und promovierter Kunstpädago­ ge. Er unterrichtet seit 1985 Gestaltungstechniken mit analogen und digitalen Werkzeugen, seit 2002 als Professor für Digitaldesign und Medientheorie an der HS Offenburg. Er setzt sich seit Jahren kritisch mit dem Einsatz digitaler Techniken in Bildungseinrichtungen auseinander und publiziert unter anderem auf der Web­ site futur-iii.de . notwendigen Vertrauen, das insbesondere für das sozial isolierte Lernen nötig ist. Egal auch, ob Schülerinnen und Schüler, ob Lehrkräfte und Eltern darauf vorbereitet sind oder nicht. Corona schafft Fak­ ten, sodass über Alternativen (analoge Angebote, nicht kom­ merzielle Lösungen mit Open Source) nicht einmal nachge­ dacht werden muss. Wie üblich bei Digitalisierungskampagnen für Bildungseinrichtungen wird weder zwischen Altersstufen, Schulformen, Fächern oder So­ zialstruktur der Schülerschaft unterschieden. „One size fits all“ wird zu: „Eine Technik für alle wird es richten.“ << Scheingefechte mit Schattengegnern Konsequent werden altbe­ kannte Scheingegnerschaften behauptet – Technikbefürwor­ ter gegen vermeintliche Tech­ nikgegner –, obwohl sich die Gegnerschaft nicht am Einsatz von analogen oder digitalen Medien oder dem Einsatz von Medientechnik im Unterricht entzündet. Gestritten wird darüber, ob Schülerdaten auf­ gezeichnet und nach den Vor­ gaben und Prämissen der Soft­ wareanbieter in Datenbanken ausgewertet werden dürfen. Gestritten wird darüber, ob Bildungseinrichtungen ein weiteres Geschäftsfeld der Datenökonomie werden oder Schutzräume für Minderjähri­ ge bleiben, deren Lernbiografi­ en und Entwicklungswege und Persönlichkeitsentwicklung nicht von IT-Monopolen ver­ datet werden dürfen. Die Gretchenfrage ist nicht, welche technische Codierung Medien haben, sondern: Was passiert mit den Daten? Wer steht hinter den Anwendungen, welche Konzerne und welche Geschäftsmodelle? Arbeiten im Netz generiert permanent Da­ ten. Diese Nutzerdaten werden in Datensilos gesammelt und mithilfe von Big Data ausge­ wertet. Bei Bildungseinrichtun­ gen heißt dieses algorithmische Auswerten und Profilieren der Lernenden: Learning Analytics. Diese Daten über Lernverhalten sind dann die Grundlage für die datengestützte Schulentwick­ lung der empirischen Bildungs­ forschung. Das Ziel ist, Lern­ prozesse computergesteuert (algorithmisch berechnet) zu optimieren. Aus Kindern und Jugendlichen vor dem Bild­ schirm werden Probanden zur Optimierung der Systeme. In der Folge entstehen voll­ automatisierte Systeme zum Beschulen und Testen von (automatisiert prüfbaren) Lern­ ergebnissen. Die Systeme seien einsatzbereit, erklärte Fritz Breithaupt, Professor in New York, schon 2016, es fehlten nur die Freilandversuche. Der DigitalPakt Schule schafft dafür die Infrastruktur (Breitband­ anschluss und WLAN in jedem Klassenzimmer), obwohl gera­ de Endgeräte zu Hause ge­ braucht würden, aber logisch ist derzeit wenig. Immerhin das Ziel ist klar: die netzbasierte und computergesteuerte De­ humanisierung von Schule und Unterricht. Über technische Al­ ternativen für den Einsatz von Digitaltechnik an Schulen ohne Rückkanal für Schülerdaten wird nicht einmal diskutiert. << Brandbeschleuniger sozialer Spaltung Wie zu erwarten wird auch das Argument der vermeint­ lichen Bildungsgerechtigkeit durch den Einsatz von Technik bemüht. Zwar hat die OECD- Studie zu Resilienz 2017 ge- nau das Gegenteil gezeigt. Der Einsatz von Digitaltechnik in Schulen schadet den Kin­ dern und Jugendlichen aus bil­ dungsfernen Schichten und verstärkt die soziale Spaltung. Was ihnen fehlt und hilft, sind klare Regeln und Strukturen, ein sozialer Schutzraum, An­ sprechpartner und konkrete Hilfestellung beim Lernen. Die meisten Kinder brauchen sowohl Hilfen bei der Struktu­ rierung des Tages wie beim Lernen mit Medien. Besonders wichtig sind zuverlässige und qualifizierte Rückmeldungen. Kinder aus bildungsnahen Fa­ milien sind da in vielerlei Hin­ sicht im Vorteil. Sie werden von den Eltern betreut und un­ terstützt, weil Bildung zum Selbstverständnis gehört. Bei Kindern aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten fehlen oft nicht nur zum Ler­ nen sinnvolle Endgeräte wie PC oder Laptop (während Spiele­ konsole und Smartphone oft vorhanden sind), sondern auch Ruhe und Unterstützung. Es ist schon jetzt zu prognostizieren, dass die Corona-Krise die sozia­ le Spaltung verschärft und die Defizite gerade bei schwäche­ ren Schülerinnen und Schülern vertieft. << Was tun? Als Erstes sollten man erken­ nen: Um Kinder und Jugendli­ che und ihre Lernprozesse geht es gar nicht in den Diskussio­ nen über Medien- oder Digital­ technik. Eine einfache Sprach­ analyse zeigt, was bei den Kampagnen im Fokus steht: Benannt werden Geräte und Dienste. Auch beim DigitalPakt Schule sind 80 Prozent der Gel­ der für den Aufbau der digita­ len Infra- und Netzstruktur vorgesehen. Maximal 20 Pro­ zent bleiben für Endgeräte. Das mag einer der Gründe sein, wa­ rum bislang nur ein Bruchteil der Paktgelder abgerufen wur­ de. Die Zweckbindung geht an den Bedarfen der Schulen vor­ bei und bedient nur die Inter­ essen der IT-Wirtschaft samt ihrer Berater. Wer stattdessen die Schulen vor Ort stärken wollte, müsste an der Schule vor Ort fragen, was genau gebraucht wird. Man müsste Zuhören statt mit zweckgebundenen Mitteln fal­ sche Anreize zu setzen. Man müsste im Idealfall bis auf die Ebene einzelner Schulen diver­ sifizieren und eine Vielfalt an analogen und digitalen Medi­ enkonzepten zulassen, bei denen Theaterrequisiten und Musikinstrumente genauso als Mittel zur Medienbildung verstanden würden wie Bild­ schirmmedien. Man könnte sich auch als Erstes darauf einigen, dass Bildungseinrichtungen keine Wirtschaftsunternehmen, Kinder keine „Kunden“, Leh­ rerinnen und Lehrer keine Dienstleister sind und die Kom­ merzialisierung von Schule und Unterricht zu genau so desas­ trösen Ergebnissen führt wie in den Public Schools in Amerika und anderswo. Man könnte die vielen Berater, Start-ups und Verkäufer aus den Schulen schmeißen und sich darauf ver­ ständigen, dass kein Material von Lobbyisten eingesetzt wird, kostenlos oder nicht. Man könnte die DigitalPakt- Gelder umwidmen zu Schulför­ dermitteln, die über die fünf Jahre hinaus verstetigt würden und über die jede einzelne Schule nach eigenem Bedarf entscheiden kann. Man könnte sich darauf einigen, dass beim Einsatz von Rechnern und Soft­ ware keinerlei Daten von Min­ derjährigen gespeichert und ausgewertet werden und kei­ nerlei Persönlichkeits-, Lern- oder sonstige Profile erstellt werden. Man könnte … Man könnte, man müsste, man muss: anfangen. Die Techniken und die Ideen für einen ande­ ren Einsatz von IT sind da. Ralf Lankau 21 dbb > dbb magazin | Juni 2020

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