dbb magazin 10/2019

interview Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages Der Föderalismus hat Schwung verloren dbb magazin Die Diskussion um „gleich­ wertige Lebensverhältnisse“ in Deutschland hat – nicht zuletzt durch den wieder ge­ schärften Blick auf den Osten – zuletzt an Fahrt gewonnen. Wie stehen Sie zu diesem Be­ griff? Und was ist für Sie das Minimum an (staatlicher) In­ frastruktur, das auch an jeder sprichwörtlichen Milchkanne verfügbar sein muss? Dr. Wolfgang Schäuble Das Grundgesetz spricht in Art. 72 von der Herstellung gleichwertiger Lebensverhält­ nisse. Gleichwertige Lebensver­ hältnisse sind zwingende Vor­ aussetzung für den sozialen Frieden, zu große Unterschiede gefährden die soziale Balance. Gleichwertigkeit heißt aber nicht Gleichheit. Das ist ein entscheidender Unterschied, der der Vielfalt unseres Landes Rechnung trägt. Ungleichhei­ ten bestanden und bestehen – erst recht im föderalen Staat. Es muss einen Ausgleich geben, aber Unterschiede dürfen er­ halten bleiben. Das Grundge­ setz spricht seit 1994 ja auch nicht mehr von der „Wahrung“, sondern der „Herstellung“ gleichwertiger Lebensverhält­ nisse. Es verweist also auf ei­ nen andauernden dynamischen Prozess, und dieser Prozess ent­ hält den Wettbewerbsgedan­ ken. Ich plädiere deshalb schon lange auch für mehr Wettbe­ werb unter den Ländern. Das Streben nach immer stärkerer Vereinheitlichung widerspricht doch dem föderalen Gedanken. Richtig ist aber auch, dass Wettbewerb allein, der Markt, nicht alles regelt. Für die Infra­ struktur muss der Staat schon mitsorgen, gerade im Bereich moderner Kommunikation. Es ist nicht hinnehmbar, dass wir beim Ausbau der digitalen Da­ tenautobahnen so hinterher­ hinken, dass sich manche länd­ liche Gegenden inzwischen wieder zu „Tälern der Ahnungs­ losen“ entwickeln, weil sie vom schnellen Internet abgekoppelt sind. Wir brauchen 5G-Netze – überall. Und der Staat muss dafür sorgen, dass sie jetzt be­ reitgestellt werden. „Gleichwertige Lebensverhält­ nisse“ sind eine Sache. Gleich­ zeitig treten aber politisch und kulturell wieder verstärkt regi­ onale Unterschiede zutage, die Länder spielen dabei mit Blick auf Identität und Heimatge­ fühl eine wichtige Rolle. Sind Sie zufrieden mit dem Zustand des Föderalismus in Deutsch­ land oder sehen Sie hier Hand­ lungsbedarf? Die föderale Ordnung gehört zu den historischen Grundtat­ sachen der Deutschen und ist das Organisationsprinzip un­ seres Staates. Damit sind wir viele Jahrzehnte gut gefahren. Nicht zuletzt deshalb, weil Identität und Heimatgefühl, nach denen die Menschen, wie Sie zu Recht anmerken, ein starkes Bedürfnis haben, in föderalen Ordnungen leich­ ter herzustellen und zu bewah­ ren sind. Aber im real existie­ renden Föderalismus hat sich ein Stück weit der Schwung verloren, auf veränderte Rah­ menbedingungen hinreichend zu reagieren. Durch Verschrän­ kung der Kompetenzen mit dem Bund hat sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt, was die Wissenschaft eine „Politik­ verflechtungsfalle“ nennt. Bund und Länder einigen sich aufgrund des hohen Koopera­ tionsaufwands am Ende nur noch auf den kleinsten ge­ meinsamen Nenner – zulasten der Problemlösung. Ich selbst erinnere mich noch lebhaft an die Reform der Erbschaftssteu­ er in der vergangenen Legisla­ turperiode. Damals ließ die Vorgabe – keine Erhöhung der Gesamtbelastung einerseits und andererseits kein geringe­ res Steueraufkommen für die Bundesländer – den Entschei­ dungsspielraum nahe Null ten­ dieren. Gelebter Föderalismus bedeutet heute zu oft Kompe­ tenzwirrwarr, diffuse Verant­ wortlichkeiten, ein Durchein­ ander von verschränkten Verhandlungsarenen und eine intransparente föderale Fi­ nanzverflechtung, die zudem falsche Anreize setzt. Wir soll­ ten stattdessen die Kraft auf­ bringen, auch über Möglich­ keiten einer grundlegenden Reform nachzudenken. Den großen Schritt, ohne deshalb alles über den Haufen zu wer­ fen. Es gibt andere dezentral << Dr. Wolfgang Schäuble 4 dbb > dbb magazin | Oktober 2019

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