dbb magazin 9/2021

akademie Hier kommen einige Aspekte, die Sie in Ihre eigenen Über­ legungen in der Dienststelle oder dem Betrieb einbeziehen sollten: Zunächst ist Arbeitszeit nicht gleich Arbeitszeit. Zum einen geht es nämlich um Arbeitszeit im Sinne des Schutzes vor Über­ beanspruchung, der – auf der Basis der EU Arbeitszeitricht­ linie – durch das deutsche Ar­ beitszeitgesetz (ArbZG) gere­ gelt wird. Dort sind vor allem Vorgaben für die werktägliche Höchstarbeitszeit, die Ruhe­ pausen und Ruhezeiten enthal­ ten. In diesem Sinne des Schut­ zes vor Überbeanspruchung sind bestimmte Zeiten, die sehr anstrengend sein können (zum Beispiel der mitunter quälend lange Weg von und zur Arbeit sowie Dienstreisezeiten), keine Arbeitszeit. Das Arbeitszeitge­ setz schützt die Beschäftigten also nicht davor, täglich zwei Stunden zur Arbeit zu pendeln oder 14 Stunden zu einem aus­ wärtigen Arbeitsort anzureisen. Wo ansonsten die genaue Grenze ist, ab der von Arbeits­ zeit im schutzrechtlichen Sinne auszugehen ist, wird derzeit vor allem bei der Rufbereitschaft diskutiert. Dabei gerät die tradi­ tionelle Unterscheidung (wo­ nach Rufbereitschaft imGegen­ satz zum Bereitschaftsdienst keine Arbeitszeit darstellen soll) zunehmend ins Wanken. Denn mitunter können die Vorgaben des Arbeitgebers zur Rufbereit­ schaft so sehr in die Gestaltung der Freizeit eingreifen, dass die Rechtsprechung das Vorliegen von Arbeitszeit bejaht, kürzlich etwa im Fall eines (allerdings verbeamteten) Feuerwehrbe­ schäftigten, der im Fall der Inanspruchnahme die Stadt­ grenze so kurzfristig erreichen sollte, dass er quasi in Schutz­ kleidung einkaufen gehen musste. Auch der Anknüp­ fungspunkt beziehungsweise Maßstab des Schutzes vor Überbeanspruchung wird (vor allem arbeitgeberseitig und wegen der Erfahrungen aus dem Homeoffice) zunehmend infrage gestellt. Das betrifft etwa das vielleicht entspannte, aber Ruhezeiten auslösende abendliche Abarbeiten von E-Mails oder das Abstellen auf eine tägliche statt (wie gele­ gentlich gefordert) eine wö­ chentliche Höchstarbeitszeit. Von der Arbeitszeit im schutz­ rechtlichen Sinne ist die Ar­ beitszeit im vergütungsrecht­ lichen Sinne zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang kann man perspektivisch (aber nicht auf der Basis der derzeiti­ gen Tarifrechtslage) darüber nachdenken, ob es Sinn macht, die Gegenleistung des Arbeit­ nehmers, die dieser im Aus­ tausch für die monatliche Ver­ gütung erbringen muss, in erster Linie über den Umfang der zu leistenden Stunden statt über das Arbeitsergebnis zu definieren. Ein Umdenken würde allerdings voraussetzen, dass sich andere Formen der Leistungsmessung (am Ar­ beitserfolg) etablieren. Eine aktuelle Gestaltung der Ar­ beitszeit kann selbstverständ­ lich nur auf der Basis der derzeit gültigen Rechtslage erfolgen. Dabei werden Personal- oder Betriebsrat und Arbeitgeber zunächst überlegen müssen, in welchen Bereichen wirklich feste Arbeitszeiten erforderlich sind oder stattdessen das ge­ naue „Timing“ den Beschäftig­ ten überlassenwerden kann. Das betrifft den Übergang von fes­ ten Einteilungen zu (am besten möglichst großzügigen und nicht mit der Rahmenzeit des § 6 Abs. 7 TVöD/TV-L zu verwechselnden) Gleitzeitrahmen ebenso wie den Verzicht auf Kernzeiten (der für die Beschäftigten allerdings negative Konsequenzen bei Arztbesuchen hat und gelegent­ lich durch die Einführung von weitergehenden „Servicezei­ ten“ zugunsten der Arbeitge­ berseite überkompensiert wird). Immerhin sind bei näherem Nachdenken Flexibilisierung auch in solchen Bereichen denk­ bar, in denen bislang traditionell mit festen Arbeitszeiten gear­ beitet wurde. Der Schlüssel ist hier eine Dezentralisierung und Verlagerung der Verantwort­ lichkeit auf die Beschäftigten. Im Kontext der Flexibilisierung muss in der Dienststelle/dem Betrieb auch darüber nach­ gedacht werden, ob und in welchem Umfang von den Öff­ nungsklauseln der §§ 7, 12 ArbZG Gebrauch gemacht wird. Die Tarifvertragsparteien haben durch § 6 Abs. 4 TVöD/TV-L die ihnen vom Gesetzgeber einge­ räumte Befugnis weiterge­ reicht und lediglich geregelt, dass entsprechende Dienst- oder Betriebsvereinbarungen auf dringenden betrieblichen/ dienstlichen Gründen beruhen müssen. Soweit diese vorlie­ gen, kann aber ein Abweichen von der werktäglichen Höchst­ arbeitszeit, den Ruhepausen oder der Ruhezeit vereinbart werden. Die Beschäftigtenver­ tretung wird dabei jeweils überlegen, inwieweit Abwei­ chungen sinnvoll und unter Be­ achtung des Arbeitsschutzes vertretbar sind (inwieweit kann etwa die Ruhezeit nach Ableistung eines nächtlichen Winterdienstes verkürzt wer­ den, um den Beschäftigten die Erbringung ihrer geschuldeten Arbeitszeit nicht erst ab dem Nachmittag des kommenden Tages zu ermöglichen? Ist im Verwaltungsbereich vielleicht an einzelnen Tagen eine mehr als zehnstündige Arbeitszeit vertretbar, um eine Veranstal­ tung tagsüber vorzubereiten und abends an ihr teilzuneh­ men?). Nicht nur im Kontext der Pau­ sen, sondern auch bezüglich der gesamten täglichen Ar­ beitszeit stellt sich weiterhin Bitte nehmen Sie sich die (Arbeits-)Zeit, darüber nachzudenken! Viele Beteiligte, vom Gesetzgeber über die Tarifvertragsparteien bis zu den Regelungspartnern in Dienststelle und Betrieb, denken derzeit über das Thema Arbeitszeit nach. Dies hat mit Veränderun­ gen der Arbeitswelt, dem Bestreben nach attraktiven und familien­ freundlichen Arbeitsbedingungen, verschiedenen Urteilen der Gerichte und aktuellen Erfahrungen in der Pandemie zu tun. © c o r n e c o b a / s t o c k . a d o b e . c o m > dbb magazin | September 2021 22

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