dbb magazin 7-8/2023

dbb magazin Gesundheitspolitik | Operation Systemrettung Interview | Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach Reportage | Justizvollzugskrankenhaus Berlin 7/8 | 2023 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

STARTER Der unheilbare Patient? Krisen kosten Geld. Die durch Coronapandemie und Energiekrise verursachten Sonderausgaben des Staates schlagen sich in der Haushaltsgestaltung des Bundes nieder. Trotz einer geplanten Schuldenaufnahme von 16,6 Milliarden Euro verordnet das Bundesministerium der Finanzen allen Ressorts für das Jahr 2024 einen Sparkurs, den auch Bürgerinnen und Bürger zu spüren bekommen werden. Das erklärte Ziel des Haushaltsentwurfs von Bundesfinanzminister Christian Lindner: Ausgaben und Maßnahmen priorisieren, Einsparpotenziale identifizieren und vor allem realisieren. Das gilt auch für den Gesundheitsbereich. Dort will der Finanzminister dem Entwurf zufolge 2023 rund acht Milliarden Euro einsparen, obwohl demografische Faktoren den Bedarf an medizinischer Versorgung und Pflege erhöhen und damit steigende Ausgaben verursachen. Weiter erfordern Engpässe bei Ärzten und Pflegekräften Maßnahmen zur Nachwuchsförderung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Auch die Digitalisierung im Gesundheitsbereich wird nicht zum Nulltarif zu haben sein, ganz zu schweigen von den Folgekosten einer möglicherweise weitgehend in die EU zurückgeholten Produktion wichtiger Arzneimittel, um Lieferengpässe zu vermeiden. Fast scheint es, als sei das deutsche Gesundheitswesen ein unheilbarer Patient. Das dbb magazin geht auf Visite, wertet Diagnosen aus und evaluiert alternative Medikationen. br 14 5 TOPTHEMA Gesundheitspolitik 28 AKTUELL NACHRICHTEN dbb Bundesvorstand: Starker Staat braucht starken öffentlichen Dienst 4 Beamtinnen und Beamte des Bundes: Besoldung und Versorgung werden angepasst 5 Gespräch im Innenausschuss des Bundestages: Die Arbeit beim Bund muss attraktiver werden 6 FOKUS INTERVIEW Prof. Dr. Karl Lauterbach, Bundesminister für Gesundheit: Wir müssen die medizinische Versorgung neu denken 8 ONLINE E-Rezept und Online-Terminmanagement: Digital schneller zumMedikament 10 Elektronische Patientenakte und E-Rezept: Mehr Daten für das Gesundheitssystem 12 REPORTAGE Justizvollzugskrankenhaus Berlin: Haus der Schlüssel 14 GESUNDHEITSPOLITIK Pflegekräfte: Kampf gegen den Kollaps 18 BRENNPUNKT Klinikreform: Gesundheitsversorgung auf neuen Leveln? 21 MODERNES LEBEN Barrierefreies Wohnen: Selbstbestimmt weiterleben 24 INTERN FRAUEN Frauenpolitische Fachtagung 2023: Null Toleranz bei sexueller Belästigung 28 dbb Podcast „DienstTag“: „Die Babyboomer gehen und wir werden jedes Jahr weniger“ 35 NACHGEFRAGT Alexander Tönnies, Landrat imOberhavelkreis: Die Verwaltung muss imAlltag funktionieren 36 SERVICE SOZIALWAHL dbb Erfolg bei den Sozialwahlen 2023: Mehr Stimmen, mehr Sitze, mehr Möglichkeiten 41 Impressum 42 KOMPAKT Gewerkschaften 44 Model Foto: Colourbox.de 18 AKTUELL 3 dbb magazin | Juli/August 2023

NACHRICHTEN dbb Bundesvorstand Starker Staat braucht starken öffentlichen Dienst Für den Staat der Zukunft ist die Nachwuchsgewinnung von zentraler Bedeutung. Das hat Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil vor dem dbb Bundesvorstand bekräftigt. Wir erleben grundlegende Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen in rasender Geschwindigkeit: Pandemie, Digitalisierung, Demografie, Klimawandel, Migration. Die daraus resultierende Verunsicherung der Menschen ist eine enorme Herausforderung für den Staat und seine Beschäftigten. Dass wir durch die Krisen der vergangenen Jahre relativ gut durchgekommen sind, haben wir vor allem den Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst zu verdanken. Ohne einen starken öffentlichen Dienst gibt es keinen starken Staat“, sagte Weil am 19. Juni 2023 in Hannover bei der Sitzung des dbb Bundesvorstands. „Das alles wird künftig nicht ohne wirksame Nachwuchs- und Fachkräftegewinnung funktionieren und dabei wird es dann auch um attraktive Einkommensbedingungen gehen. Wir leiden jetzt schon an einem eklatanten Fachkräftemangel im IT-Sektor und bei allen Bauberufen. Hier werden wir bei der Bezahlung im öffentlichen Dienst viel flexibler sein müssen, sonst hängt uns die Privatwirtschaft ab.“ Der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach verwies in diesem Zusammenhang auf die im Herbst anstehende Einkommensrunde für die Beschäftigten der Länder: „Benchmark ist der Abschluss mit Bund und Kommunen aus dem Frühjahr. Denn Wettbewerb gibt es nicht nur zwischen öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft, sondern auch zwischen den Gebietskörperschaften. Hier haben die Länder also bald Gelegenheit, mindestens nachzuziehen.“ Silberbach verwies außerdem darauf, dass zu guten Arbeitsbedingungen mehr als nur faire Einkommen gehören. Mittlerweile seien durch die wachsende Gewaltbereitschaft selbst elementarste Dinge wie der Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Beschäftigten gefährdet: „Egal ob Erzieherin, Jobcentermitarbeiter, Polizist oder Lehrerin – inzwischen sind nahezu alle Berufsgruppen im öffentlichen Dienst von Übergriffen und Gewalterfahrungen betroffen. Gerade angesichts des eklatanten Nachwuchsmangels ist es wichtig, dass potenzielle Bewerber nicht den Eindruck bekommen, ihre Dienst- beziehungsweise Arbeitgebenden seien nicht willens oder in der Lage, sie vor Übergriffen im Dienst zu schützen.“ ■ Der Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil, sprach vor dem Bundesvorstand des dbb. © Michael Weil Aufsichtsratswahl bei der Autobahn GmbH Wählen! Gewinnen! Mitbestimmen! Der dbb hat aktuelle Flyer mit Informationen rund um die anstehende Aufsichtsratswahl bei der Autobahn GmbH veröffentlicht. Mit dem TV Autobahn haben die dbb Gewerkschaften eine gute Basis für die Beschäftigten gelegt. Mit ihrer Mehrheit im Betriebsrat sorgen sie täglich dafür, dass die Arbeitsumfelder den Vorstellungen der Belegschaft entsprechen. Nur mit einer starken Interessenvertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat der Autobahn GmbH können Alleingänge des Arbeitgebers rechtzeitig gestoppt werden. Bei der anstehenden Aufsichtsratswahl kommt es auf die Beschäftigten in den Betrieben an. Sie wählen Wahlmänner und Wahlfrauen, die dann in Berlin den neuen Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat wählen. Nur wer wählt, kann gewinnen! Und nur wer gewinnt, kann im Aufsichtsrat mitbestimmen. „Der dbb ist mit seinen Fachgewerkschaften VDStra., komba und BTB bei der Autobahn GmbH gut aufgestellt. In allen Regionen und für alle Berufsbilder sind sie kompetente Ansprechpartner. Damit sie gemeinsammit dem dbb noch stärker auftreten können, ist es wichtig, dass wir euer Vertrauen und eure Stimme bekommen! Deshalb: Geht wählen! Wählt die Listen von VDStra., komba und BTB. Gemeinsam gestalten wir die Autobahn GmbH“, sagt dbb Tarifchef Volker Geyer. Die Informationsflyer gibt es hier: https://t1p.de/autobahnwahl. ■ Aufsichtsratswahl Autobahn GmbH des Bundes BTB – Gewerkschaft Infrastruktur Straße BTB-GIS Bundesgeschäftsstelle Friedrichstraße 169 10117 Berlin Telefon 030/65 700 - 102 Fax 030/65 700 - 104 E-Mail btb-gis@btb-online.org Internet www.btb-online.org 2023 www.btb-online.org Name* Vorname* Straße* PLZ/Ort* Dienststelle/Betrieb* Beruf Beschäftigt als*: Tarifbeschäftigte/r Azubi, Schüler/in Beamter/Beamtin Anwärter/in Rentner/in Versorgungsempfänger/in Ich möchte weitere Informationen über den dbb erhalten. Ich möchte mehr Informationen über die für mich zuständige Gewerkschaft erhalten. Bitte schicken Sie mir das Antragsformular zur Aufnahme in die für mich zuständige Gewerkschaft. Unter dem Dach des dbb bieten kompetente Fachgewerkschaften eine starke Interessenvertretung und qualifizierten Rechtsschutz. Wir vermitteln Ihnen gern die passende Gewerkschaftsadresse. dbb beamtenbund und tarifunion, Geschäftsbereich Tarif, Friedrichstraße 169, 10117 Berlin, Telefon: 030. 4081 - 5400, Fax: 030. 4081 - 4399, E-Mail: tarif@dbb.de, Internet: www.dbb.de Datum / Unterschrift Bestellung weiterer Informationen Datenschutzhinweis: Wir speichern und verarbeiten die uns mitgeteilten Daten, um den uns erteilten Auftrag zu erfüllen. Die mit einem Sternchen* versehenen Daten sind Pflichtdaten, ohne die eine Bearbeitung nicht möglich ist. Rechtsgrundlage der Verarbeitung ist Art. 6 (1) b DSGVO. Wenn Sie Informationen über eine Mitgliedsgewerkschaft wünschen, so geben wir Ihre Daten dorthin weiter. Sonst erfolgt keine Weitergabe an Dritte, sondern lediglich an Auftragsverarbeiter. Wir löschen die Daten, wenn sie für die verfolgten Zwecke nicht mehr erforderlich sind. Verantwortlicher für die Datenverarbeitung ist: dbb beamtenbund und tarifunion, Friedrichstraße 169, 10117 Berlin, Telefon: 030. 4081 - 40, Telefax: 030. 4081 - 4999, E-Mail: post@dbb.de. Unseren Datenschutzbeauftragten erreichen Sie unter derselben Anschrift oder unter: E-Mail: datenschutz@dbb.de. Informationen über Ihre Rechte als Betroffener sowie weitere Informationen erhalten Sie hier: www.dbb.de/datenschutz.html. dbb beamtenbund und tarifunion Friedrichstraße 169 10117 Berlin Telefon 030/4081 - 5400 Fax 030/4081 - 4399 E-Mail tarif@dbb.de oder post@dbb.de Internet www.dbb.de Die BTB-GIS ist Mitglied im 310523_Autobahn_GmbH_ARW2023_Flyer_6stg_BTB.indd 1 31.05.2023 13:36:57 Aufsichtsratswahl Autobahn GmbH des Bundes VDStra. Fachgewerkschaft der Straßen- und Verkehrsbeschäftigten Bundesgeschäftsstelle Von-der-Wettern-Straße 7 51149 Köln Telefon 02203 / 503 11 - 0 Fax 02203 / 503 11 - 20 E-Mail info@vdstra.de Internet www.vdstra.de 2023 www.vdstra.de Name* Vorname* Straße* PLZ/Ort* Dienststelle/Betrieb* Beruf Beschäftigt als*: Tarifbeschäftigte/r Azubi, Schüler/in Beamter/Beamtin Anwärter/in Rentner/in Versorgungsempfänger/in Ich möchte weitere Informationen über den dbb erhalten. Ich möchte mehr Informationen über die für mich zuständige Gewerkschaft erhalten. Bitte schicken Sie mir das Antragsformular zur Aufnahme in die für mich zuständige Gewerkschaft. Unter dem Dach des dbb bieten kompetente Fachgewerkschaften eine starke Interessenvertretung und qualifizierten Rechtsschutz. Wir vermitteln Ihnen gern die passende Gewerkschaftsadresse. dbb beamtenbund und tarifunion, Geschäftsbereich Tarif, Friedrichstraße 169, 10117 Berlin, Telefon: 030. 4081 - 5400, Fax: 030. 4081 - 4399, E-Mail: tarif@dbb.de, Internet: www.dbb.de Datum / Unterschrift Bestellung weiterer Informationen Datenschutzhinweis: Wir speichern und verarbeiten die uns mitgeteilten Daten, um den uns erteilten Auftrag zu erfüllen. Die mit einem Sternchen* versehenen Daten sind Pflichtdaten, ohne die eine Bearbeitung nicht möglich ist. Rechtsgrundlage der Verarbeitung ist Art. 6 (1) b DSGVO. Wenn Sie Informationen über eine Mitgliedsgewerkschaft wünschen, so geben wir Ihre Daten dorthin weiter. Sonst erfolgt keine Weitergabe an Dritte, sondern lediglich an Auftragsverarbeiter. Wir löschen die Daten, wenn sie für die verfolgten Zwecke nicht mehr erforderlich sind. Verantwortlicher für die Datenverarbeitung ist: dbb beamtenbund und tarifunion, Friedrichstraße 169, 10117 Berlin, Telefon: 030. 4081 - 40, Telefax: 030. 4081 - 4999, E-Mail: post@dbb.de. Unseren Datenschutzbeauftragten erreichen Sie unter derselben Anschrift oder unter: E-Mail: datenschutz@dbb.de. Informationen über Ihre Rechte als Betroffener sowie weitere Informationen erhalten Sie hier: www.dbb.de/datenschutz.html. dbb beamtenbund und tarifunion Friedrichstraße 169 10117 Berlin Telefon 030/4081 - 5400 Fax 030/4081 - 4399 E-Mail tarif@dbb.de oder post@dbb.de Internet www.dbb.de VDStra. ist Mitglied im 310523_Autobahn_GmbH_ARW2023_Flyer_6stg_VDStra.indd 1 31.05.2023 11:16:56 Ausichtsratswahl Autobahn GmbH des Bundes komba gewerkschaft Bundesgeschäftsstelle Friedrichstraße 169 10117 Berlin Telefon 030/4081 - 6870 Fax 030/4081 - 6879 E-Mail bund@komba.de Internet www.komba.de 2023 Name* Vorname* Straße* PLZ/Ort* Dienststelle/Betrieb* Beruf Beschäftigt als*: Tarifbeschäftigte/r Azubi, Schüler/in Beamter/Beamtin Anwärter/in Rentner/in Versorgungsempfänger/in Ich möchte weitere Informationen über den dbb erhalten. Ich möchte mehr Informationen über die für mich zuständige Gewerkschaft erhalten. 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Beamtinnen und Beamte des Bundes Besoldung und Versorgung werden angepasst Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf zur Übertragung des Tarifergebnisses für die Beschäftigten von Bund und Kommunen vom April 2023 auf die Beamtinnen und Beamten des Bundes vorgelegt. Wir begrüßen ausdrücklich die Übertragung des Tarifabschlusses vom vergangenen April auf die Beamtinnen und Beamten des Bundes“, betonte Friedhelm Schäfer, der zweite Vorsitzende und Fachvorstand für Beamtenpolitik des dbb, bei einer Anhörung am 26. Juni 2023 im Bundesministerium des Innern und für Heimat. „Die Innenministerin hält Wort und schafft für Bundesbeamtinnen und -beamte ebenso wie für Versorgungsempfängerinnen und -empfänger einen finanziellen Ausgleich für die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten. Dies hatte der dbb während der gesamten Einkommensrunde immer wieder gefordert.“ Als Ausgleich für die gestiegene Inflation sollen Bundesbeamtinnen und -beamte für den Monat Juni eine einmalige Sonderzahlung von 1240 Euro und für die Monate Juli 2023 bis Februar 2024 monatliche Sonderzahlungen in Höhe von jeweils 220 Euro erhalten. Insgesamt wird damit eine abgabenfreie Inflationsprämie von 3000 Euro gewährt. Versorgungsempfängerinnen und -empfänger werden entsprechend dem persönlichen Ruhegehaltssatz sowie gegebenenfalls dem Anteilssatz der Hinterbliebenenversorgung einbezogen. Im Jahr 2024 ist zum 1. März eine Anhebung der Dienst- und Versorgungsbezüge nach Maßgabe eines Sockelbetrags in Höhe von 200 Euro und eine darauf aufsetzende Linearanpassung von 5,3 Prozent vorgesehen. „Es gilt nun, eine möglichst schnelle Umsetzung in Form von Abschlagsauszahlungen zu erreichen, damit das Geld zügig – also noch vor Verabschiedung des Gesetzes – bei den Kolleginnen und Kollegen ankommt“, sagte Schäfer. Polizeizulage wieder ruhegehaltsfähig Positiv bewertete Schäfer auch die Wiedereinführung der Ruhegehaltsfähigkeit der sogenannten Polizeizulage. Dies entspricht einer langjährigen Forderung des dbb. Jedoch gebe es auch Anlass für Kritik: „Der Gesetzgeber möchte die Höhe des ruhegehaltsfähigen Betrags nicht einheitlich festlegen, ausschlaggebend soll der jeweilige Betrag beim letztmaligen Bezug der Polizeizulage sein. Darin sehen wir einen Bruch allgemeiner Strukturprinzipien der Bemessung von Besoldung und Versorgung.“ Auch die Sprecherin der Bundesbeamtengewerkschaften im dbb, Christina Dahlhaus, begrüßte den Gesetzentwurf, kritisierte jedoch, „dass die in Elternzeit befindlichen Beamtinnen und Beamten die Inflationsausgleichsprämie nur dann bekommen sollen, wenn sie Anspruch auf Dienstbezüge haben. In Teilzeit beschäftigte Beamtinnen und Beamten sollen die Prämie ebenfalls – wie Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger – nur anteilig erhalten. Beide Personengruppen sind jedoch in gleicher Weise von den gestiegenen Lebenshaltungskosten wie alle anderen Beamtinnen und Beamten betroffen. Dem Bund ist es finanziell durchaus möglich, an diese Personengruppen die Prämie in voller Höhe zu zahlen.“ ■ dbb Vize Friedhelm Schäfer und die Sprecherin der dbb Bundesbeamtenverbände, Christina Dahlhaus (Mitte), beim Beteiligungsgespräch im Bundesministerium des Innern und für Heimat © Jan Brenner Am 13. Juli 2023 hat das Bundeskabinett den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Bundesbesoldung und -versorgung beschlossen. Das umfasst auch die Gewährung von Abschlagsauszahlungen und die Wiedereinführung der Ruhegehaltsfähigkeit der sogenannten Polizeizulage. Der Gesetzentwurf wird ins parlamentarische Verfahren eingebracht und nach der Sommerpause behandelt. Da das Gesetzgebungsverfahren erst Ende 2024 abgeschlossen sein wird, sind Abschlagsauszahlungen vorgesehen, um einen Ausgleich für die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten zu schaffen. Mit den auch rückwirkenden Auszahlungen ist voraussichtlich mit den September-/Oktoberbezügen zu rechnen. Kabinett billigt Gesetzentwurf AKTUELL 5 dbb magazin | Juli/August 2023

Am 1. Juni 2023 hat sich dbb Chef Ulrich Silberbach (links) im Roten Rathaus in Berlin mit dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner getroffen. ImMittelpunkt des Gesprächs standen die Verwaltungsmodernisierung und die personelle Ausstattung des öffentlichen Dienstes im Land Berlin. Antrittsbesuch in Berlin Gespräch im Innenausschuss des Bundestages Die Arbeit beim Bund muss attraktiver werden Hoher Altersdurchschnitt, lange Arbeitszeiten, verfassungswidrige Besoldung: Bei der Nachwuchsgewinnung gerät die Bundesverwaltung ins Hintertreffen, warnt der dbb. Mehr als 30 Prozent der Beschäftigten sind über 55 Jahre alt und werden absehbar in den Ruhestand gehen. Rund 55 Prozent sind über 45 Jahre. Ich habe nicht den Eindruck, dass der Bundesregierung die Dramatik hinter diesen Zahlen wirklich bewusst ist. Die Arbeit in der Bundesverwaltung muss viel attraktiver werden, sonst wird sie eher früher als später personell ausbluten“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach beim Arbeitsgespräch mit Mitgliedern des Innenausschusses am 21. Juni 2023 im Deutschen Bundestag. Die Probleme seien vielfältig, erklärte der dbb Chef: „Alle Welt redet über die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf, der Trend geht klar hin zu einer kürzeren Wochenarbeitszeit. Für die Beamtinnen und Beamten des Bundes gilt dagegen immer noch die 41-Stunden-Woche. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Ganz abgesehen davon, dass die Erhöhung ursprünglich temporär sein sollte – nun aber schon über 17 Jahre gilt.“ Außerdem habe die Bundesregierung zwar den Tarifabschluss aus dem April auf Besoldung und Versorgung übertragen. „Wir begrüßen das ausdrücklich. Aber es liegt immer noch kein Gesetzentwurf für die Lösung der grundsätzlichen Probleme bei der amtsangemessenen Alimentation vor. Es ist offen gesagt ein Armutszeugnis, dass die Bezahlung weiterhin nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht. Werbung in eigener Sache ist das alles nicht, wenn man junge Menschen für die Arbeit in der Bundesverwaltung gewinnen will.“ Silberbach mahnte außerdem, das Thema „Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes“ nicht aus den Augen zu verlieren. „Jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst hat bei seiner Tätigkeit bereits Gewalt am Arbeitsplatz erfahren, wie eine vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene Studie im vergangenen Jahr gezeigt hat. Diese hohe Zahl war selbst für viele Fachleute erschütternd. Doch die Erkenntnis nutzt wenig, wenn darauf keine Taten folgen. Wir wollen deshalb mit Bund, Ländern und Kommunen die Gewaltprävention und den Schutz aller Beschäftigten konsequent weiterentwickeln.“ ■ © Jan Brenner © Marco Urban Ulrich Silberbach und dbb Vize Friedhelm Schäfer im Innenausschuss. 6 AKTUELL dbb magazin | Juli/August 2023

23. Konferenz der Jobcenterpersonalräte Aktiv für bessere Arbeitsbedingungen Vom 20. bis 22. Juni 2023 tagte die 23. Konferenz der Jobcenterpersonalräte in Radebeul. Zum traditionellen Meinungsaustausch der unter dem Dach des dbb bei der vbba, komba und GdS organisierten Personalratsvorsitzenden waren auch Interessenvertreter eingeladen, die sich über Gewerkschaftsarbeit informieren wollten und noch nicht organisiert sind. Die dbb Gewerkschaften werden die Entscheidungen der Politik und der Träger sowie die Arbeit der Geschäftsführungen auch künftig kritisch und konstruktiv begleiten, Missstände, soziale Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen innerhalb der Jobcenter offenlegen und die persönlichen und sozialen Arbeitsbedingungen der dort Beschäftigten verbessern. Neben aktuellen tariflichen Themen wurden die anstehenden Personalratswahlen 2024 beleuchtet: Mit welchen Strategien kann der Mehrwert von Personalratsarbeit bei den Beschäftigten in den Fokus gerückt werden? Wie können mehr Kolleginnen und Kollegen für die Mitarbeit im Personalrat gewonnen werden? Wie kann die Präsenz der Gewerkschaften in regionalen Dienststellen insbesondere im Hinblick auf die Teilnahme an Personalversammlungen erhöht werden? Der dbb unterstützt die Personalräte seiner Mitgliedsgewerkschaften seit Einrichtung der bundesweiten Arbeitsgruppe der Jobcenterpersonalräte im Jahr 2011 intensiv bei der Beantwortung dieser Fragen. An einem gemeinsamen Informationsstand von dbb, vbba, komba, GdS und dbb akademie konnten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Plenartagung über die Arbeit der Gewerkschaften sowie über fachspezifische Schulungsangebote informieren. ■ © Mathias Schulz Fachkräftemangel in Europa Internationale Bildungspartnerschaften angeregt Um dem Fachkräftemangel in Europa zu begegnen, hat dbb Vize Simone Fleischmann strategische Bildungskooperationen mit Drittstaaten ins Spiel gebracht. Die Bildungspolitik braucht dringend eine Aufwertung, in Deutschland und in ganz Europa. Das ist ein wesentlicher Baustein, um den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die in einigen Mitgliedstaaten der Europäische Union immer noch sehr hoch ist, zu intensivieren. Zudem können strategische Bildungspartnerschaften mit Staaten in Europas Nachbarschaft helfen, um qualifizierte und integrationsbereite Arbeitnehmende aus diesen Drittstaaten zu gewinnen“, sagte die stellvertretende dbb Bundesvorsitzende, die auch Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes ist, am 30. Mai 2023. Wo es hohe Geburtenraten und hohe Arbeitslosigkeit gebe, könnten solche Bildungspartnerschaften die lokalen Wirtschafts- und Sozialstrukturen in den Drittstaaten stärken. Gleichzeitig könne ein Teil der jungen Menschen konkrete Perspektiven auf dem europäischen Arbeitsmarkt erhalten. „Das wäre eine Win-win-­ Situation“, so Fleischmann. Gleichzeitig müsse die Arbeitsmarktintegration der bereits in Europa lebenden Menschen mit Migrationshintergrund deutlich verbessert werden. „Wir brauchen hier echte Chancengleichheit, und dafür muss Bildung endlich höchste Priorität in der Politik haben. Bildungsberufe müssen in ganz Europa deutlich aufgewertet werden. Lippenbekenntnisse reichen längst nicht mehr.“ Aus dem Fachkräftemangel sei längst ein genereller Arbeitskräftemangel geworden, der auch den öffentlichen Dienst in Deutschland betreffe. Aufgrund des demografischen Wandels brauche es dagegen ein umfassendes Maßnahmenpaket: „Bildungspartnerschaften mit Drittstaaten können eine wichtige Ergänzung zu bisherigen Initiativen sein.“ ■ Model Foto: Graham Oliver/Colourbox.de AKTUELL 7 dbb magazin | Juli/August 2023

INTERVIEW Prof. Dr. Karl Lauterbach, Bundesminister für Gesundheit Wir müssen die medizinische Versorgung neu denken Die Pflege durch Angehörige ist die stärkste Säule der Pflegeversicherung. Der dbb, der im unabhängigen Beirat zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf an einem entsprechenden Modell mitgearbeitet hat, fordert eine steuerfinanzierte Entgeltersatzleistung für pflegende Angehörige. Wie weit sind die entsprechenden Pläne gediehen? Eines vorweg: Pflegende Angehörige leisten Herausragendes. Daher haben wir auch die Leistungen für die häusliche Pflege deutlich ausgebaut. Auch die Unterstützung derjenigen, die kurzfristig die Pflege eines nahen Angehörigen organisieren müssen, haben wir mit dem Ende Mai beschlossenen Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz erweitert. Brauchen pflegende Angehörige einmal eine Auszeit von der Pflege, steht ihnen künftig dazu ein Betrag von bis zu 3539 Euro pro Jahr zur Verfügung, den sie flexibel einsetzen können. Die Entlastung Pflegebedürftiger und ihrer Angehöriger ist eines der Kernthemen der Gesundheitspolitik in dieser Legislaturperiode. In Kürze wird der unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf seinen zweiten Bericht meiner Kollegin, Bundesfamilienministerin Lisa Paus, übergeben. Auf dieser Grundlage wird dann im zuständigen Familienministerium ein entsprechender Vorschlag erarbeitet. Frauen sind in der Sorgearbeit deutlich überrepräsentiert. Gleichzeitig herrscht in den Gesundheitsberufen erheblicher Personalmangel. Wie will die Bundesregierung den Gender Pay Gap beseitigen und sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Attraktivität der CareBerufe verbessern? Auch in den Pflegeberufen variieren wie in vielen anderen Berufen die Löhne zwischen Frauen und Männern. Dieser Unterschied ist imWesten Deutschlands mit einem Gender Pay Gap von 12,4 Prozent noch deutlich spürbar, in Ostdeutschland ist das Verhältnis weitgehend ausgeglichen. Auch insgesamt nähern sich Gehaltsniveaus von Frauen und Männern in der Pflege an. Wir © karllauterbach.de 8 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2023

sind also auf einem guten Weg. Dennoch müssen wir enorme Anstrengungen unternehmen, ummehr junge Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern. Daher haben wir Pflegeeinrichtungen seit September 2022 dazu verpflichtet, mindestens in Tarifhöhe zu entlohnen, andernfalls riskieren sie ihre Zulassung. Geld ist aber nur ein Faktor für die Attraktivität des Pflegeberufs. Wir müssen auch an die Arbeitsbedingungen ran. Pflegekräfte brauchen ausreichend Kolleginnen und Kollegen an ihrer Seite. Seit dem 1. Juli 2023 gilt daher in der Alten- und Langzeitpflege ein bundeseinheitliches Personalbemessungsverfahren für Pflegeeinrichtungen. Mit dem Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz verlängern wir das Förderprogramm zur Unterstützung betrieblicher Maßnahmen zur Vereinbarkeit von familiärer Pflege, Familie und Beruf für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Langzeitpflege bis 2030. Was speziell für Männer den Pflegeberuf interessant macht, haben wir in einem vom BMG geförderten Projekt namens „Modern Men do Care – mehr Männer für die Pflege von morgen“ untersucht. Hier müssen auch ganz klar tradierte Rollenbilder aufgebrochen werden. Prävention hilft im Gesundheitsbereich, Kosten gar nicht erst entstehen zu lassen. Wie stehen Sie zu Vorschlägen, die Finanzierung der geriatrischen Reha von den Krankenkassen auf die Pflegekassen zu verlagern? Kein Zweifel: Prävention und Reha tragen einen wesentlichen Anteil dazu bei, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, sie zu überwinden oder zumindest zu mindern. Und auch wenn wir den Kostenfaktor berücksichtigen, ist das Thema für mich in erster Linie eine Frage von mehr Selbstständigkeit und Lebensqualität. Daher begrüße ich Vorschläge für eine höhere Inanspruchnahme und einen leichteren Zugang der Pflegebedürftigen zu Rehamaßnahmen. Wir dürfen die Krankenkassen und die gesetzliche Rentenversicherung als Rehabilitationsträger aber nicht aus ihrer Verantwortung für die Reha von Pflegebedürftigen entlassen: Denn müssten Pflegekassen als Träger die Reha übernehmen, wäre dies mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden. Neue Strukturen müssten innerhalb der Pflegeversicherung geschaffen, neue Versorgungs- und Vergütungsverträge mit den Rehaanbietern ausgehandelt werden. Und ohne irgendein Konzept der Gegenfinanzierung kann die soziale Pflegeversicherung außerdem keine zusätzlichen Finanzlasten übernehmen. Der Ärztemangel bedroht die medizinische Versorgung besonders im ländlichen Raum, aber auch die fachärztliche Versorgung stößt bundesweit an von Patientinnen und Patienten deutlich wahrnehmbare Grenzen. Demografische Faktoren drohen die Fachkräfteproblematik künftig weiter zu verschärfen. Wie reagiert die Gesundheitspolitik darauf? In Deutschland gibt es so viele Ärztinnen und Ärzte wie noch nie. Allerdings gibt es ein Verteilungsproblem. Und anders als in früheren Zeiten wollen nicht alle Fulltime oder sogar als Selbstständige arbeiten. Und richtig ist auch: Der demografische Wandel ist im Gesundheitswesen in der Vergangenheit weitgehend ignoriert worden. Das sehen wir bei den Pflegekräften, aber auch bei den Ärztinnen und Ärzten. In den kommenden Jahren werden Zehntausende Ärzte altersbedingt aus dem Beruf ausscheiden. Wollen wir, dass die Babyboomer-Generation auch in naher Zukunft noch gut versorgt ist, müssen wir dringend die Zahl der Medizinstudienplätze deutlich erhöhen. Dazu werbe ich bei den zuständigen Ländern. Gleichzeitig müssen wir die medizinische Versorgung neu denken, das heißt, neue Angebote in strukturschwachen Regionen schaffen und starre Sektorengrenzen überwinden. Mit dem ersten Versorgungsgesetz wollen wir die Medizin in den Kommunen stärken und Gesundheitskioske in benachteiligten Regionen und Stadtteilen einrichten. Diese können beraten, aber auch einfache medizinische Routineaufgaben übernehmen, Blutdruck- und Blutzuckermessungen etwa oder die Wundversorgung. Zugleich werden wir die Gründung kommunaler medizinischer Versorgungszentren erleichtern, in denen die Ärztinnen und Ärzte als Angestellte arbeiten. Nutzen müssen wir aber auch die Chancen der Digitalisierung. Die flächendeckende Einführung der elektronischen Patientenakte wird helfen, unnötige Doppeluntersuchungen zu vermeiden und lästigen Papierkram zu reduzieren. Videosprechstunden – das sehen wir bereits in der Praxis – erleichtern die Versorgung auf dem Land enorm. Sie haben einen ersten Vorstoß gemacht, die Arzneimittelproduktion zurück in die EU zu holen, um Lieferengpässen zu begegnen. Solange sich die Pharmaindustrie jedoch stark auf einträgliche Medikamente der neuesten Generation fokussiert, werden die Kosten bei europäischer Produktion unweigerlich explodieren. Wie bleiben Medikamente mit versorgungskritischen Wirkstoffen in Deutschland sowohl lieferbar als auch bezahlbar? Das übergeordnete Ziel muss doch sein, dass Patientinnen und Patienten unverzüglich die Arzneimittel erhalten, die sie benötigen. Und die Erfahrungen der vergangenen Monate und Jahre haben gezeigt, dass wir es mit der Ökonomisierung im Gesundheitswesen übertrieben haben. Insbesondere die Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten hat sich über die vergangenen Jahre deutlich verschlechtert. Das korrigieren wir und ändern die Rahmenbedingungen so, dass Deutschland als Absatzmarkt für Arzneimittel wieder attraktiver wird. Mit dem gerade erst vom Deutschen Bundestag beschlossenen Arzneimittelversorgungs- und Lieferengpassgesetz schaffen wir vor allem finanzielle Anreize für die Hersteller von patentfreien Arzneimitteln, die zumeist preisgünstigen Arzneimittel auch künftig zu produzieren. Durch ergänzende Vorgaben für Rabattverträge wollen wir zunächst die europäische Produktion von Antibiotika stärken. Wenn wir sicherstellen, dass generische Arzneimittel verfügbar sind, vermeiden wir damit auch höhere Arzneimittelausgaben für die Krankenkassen. Denn diese müssen bei Nichtverfügbarkeit generischer Arzneimittel dann alternative und in der Regel teurere Arzneimittel bezahlen. ■ Wir dürfen die Krankenkassen und die gesetzliche Rentenversicherung als Rehabilitationsträger nicht aus ihrer Verantwortung für die Reha von Pflegebedürftigen entlassen. FOKUS 9 dbb magazin | Juli/August 2023

ONLINE E-Rezept und OnlineTerminmanagement Digital schneller zumMedikament Mit dem E-Rezept können Patientinnen und Patienten verordnete Medikamente oder Hilfsmittel papierlos in der Apotheke vor Ort oder direkt online beziehen. Arztpraxen und Krankenhäuser sparen Papier- und Druckkosten. AmMVZ Campus Bad Neustadt soll das E-Rezept noch besser in den Praxisalltag eingebettet werden. Wir wollen Patientinnen und Patienten einen einfachen Zugang zum E-Rezept ermöglichen“, sagt Julian Schäfer, Teamleiter Medizinische Fachsysteme & eHealth bei der Rhön-­ Klinikum IT-Service GmbH. Wenn das E-Rezept genutzt werden soll, müssten Gesundheitseinrichtungen die Anwendung in ihre Angebote integrieren, so Julian Schäfer weiter. Und so sieht der neue Prozess aus: Bei der Terminbuchung mit einem Online-Terminbuchungstool können Patientinnen und Patienten des MVZ ab sofort spezielle Terminslots für Rezeptabholungen auswählen. Sie geben an, welche Medikamente sie benötigen, und wählen dann aus, wie sie ihr neues Rezept erhalten wollen. Entweder holen sie das Rezept im MVZ ab oder sie erhalten das E-Rezept direkt in ihrer E-Rezept-App. Die Bestellung von E-Rezepten läuft so komplett online. „Stellen Sie sich vor, der Patient will ein Rezept telefonisch bestellen, aber in seiner Praxis ist die Leitung durchgängig besetzt“, erklärt Katharina Rammig, die am Campus Bad Neustadt die ambulante Medizin leitet. Gerade während Krankheitswellen könne es manchmal schwer werden, in der Praxis durchzukommen. „Wenn man jetzt das Rezept online über ein Terminbuchungstool beziehen kann, ist das für die Patientinnen und Patienten sehr bequem.“ Und auch den Weg in die Praxis sparen sich die Patientinnen und Patienten. „Gerade chronisch erkrankte Menschen oder Menschen, die nicht mobil sind, profitieren davon“, ergänzt Hannes Neumann, Produktmanager bei der gematik – Nationale Agentur für Digitale Medizin. Wer die E-Rezept-App nutze, das E-Rezept darüber direkt empfange und bei einer Apotheke mit Botendienst einlöse, könne sich sogar den Weg in die Apotheke sparen. Vorteile gibt es auch für das medizinische Personal. Indem Rezeptbestellungen online eingehen, hat das Praxisteam immer alle Anfragen im Blick. Missverständnisse am Telefon werden vermieden, Praxisabläufe effizienter und das Patientenaufkommen in der Praxis sinkt. Davon profitieren dann auch die Patientinnen und Patienten, zum Beispiel durch kürzere Wartezeiten. „Der neue E-RezeptProzess imMVZ Campus Bad Neustadt ist ein Erfolg versprechender Weg, wie Gesundheitseinrichtungen das E-Rezept in ihre digitale Infrastruktur einbinden können“, ist Hannes Neumann überzeugt. Mit dem E-Rezept arbeiten mittlerweile verschiedene Praxen, Kliniken und Apotheken in Deutschland, was auch das TI-Dashboard der gematik zeigt. Bis Mai 2023 wurden mehr als 1,7 Millionen E-Rezepte in Apotheken eingelöst. ■ Model Foto: Pressmaster/Colourbox.de © gematik 10 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2023

Der Referentenentwurf des Gesundheitsministeriums sieht vor, dass gesetzlich Krankenversicherte die elektronische Patientenakte (ePA) im Januar 2025 automatisch bekommen. Wer sie nicht nutzen möchte, muss über das sogenannte „Opt-out-Verfahren“ ausdrücklich widersprechen. Bis Ende 2026 mindestens sollen darüber hinaus 300 Forschungsvorhaben mit Gesundheitsdaten durch das neue Forschungsdatenzentrum Gesundheit realisiert werden. „Deutschlands Gesundheitswesen hängt in der Digitalisierung um Jahrzehnte zurück. Das können wir nicht länger verantworten. Deshalb machen wir einen Neustart – erschließen die elektronische Patientenakte für alle, machen das elektronische Rezept alltagstauglich und erleichtern die Forschung auf Grundlage von Gesundheitsdaten. Moderne Medizin basiert auf Digitalisierung und Daten. Ihre Vorteile zu nutzen, macht Behandlung besser“, gab sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf einer Pressekonferenz am 9. März 2023 in Berlin kämpferisch. Das Bundesgesundheitsministerium habe die Digitalisierungsstrategie über mehrere Monate gemeinsammit Patientenvertretern und Akteuren des Gesundheitswesens entwickelt. Sie soll den Rahmen liefern, Versorgungsprozesse, Datennutzung und Technologien bis zum Ende des Jahrzehnts weiterzuentwickeln. Neue digitale Standards Kernpunkte sind das Digitalgesetz, das den Behandlungsalltag mit digitalen Lösungen verbessern soll, sowie das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, mit dem Gesundheitsdaten für die Forschung erschlossen werden sollen. Im Zuge des Digitalgesetzes soll auch die elektronische Patientenakte (ePA) für alle gesetzlich Versicherten eingerichtet werden. Ebenso soll das E-Rezept verbindlicher Standard in der Arzneimittelversorgung sein und sowohl mit der Gesundheitskarte als auch mit der ePA-App eingelöst werden können – und das sogar schneller als ursprünglich geplant: E-Rezepte sollen laut Lauterbach bereits ab 1. Juli 2023 möglich sein. „Das E-Rezept ist endlich alltagstauglich“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland am 13. Juni und bekräftigte: „Zum 1. Juli 2023 können Patienten das erste Mal das E-Rezept in den Apotheken ganz einfach mit ihrer Versichertenkarte abrufen. Bis Ende Juli werden voraussichtlich schon 80 Prozent der Apotheken in Deutschland an das System angeschlossen sein. Wenn die Patienten ihre Versichertenkarte in den Apotheken in die Lesegeräte einstecken, liegt das E-Rezept dann bereits in der Datenbank vor. Es geht jetzt mit der Digitalisierung los.“ In enger Verknüpfung mit dem E-Rezept könnten damit auch ungewollte Wechselwirkungen von Arzneimitteln vermieden werden, indem die ePA für jeden Versicherten mit einer vollständigen, weitestgehend automatisiert erstellten, digitalen Medikationsübersicht befüllt wird. Ebenfalls im Rahmen des Digitalgesetzes soll die Gesellschaft für Telematik (gematik GmbH) zu einer Digitalagentur in 100-prozentiger Trägerschaft des Bundes weiterentwickelt und in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Die gematik trägt die Gesamtverantwortung für die Telematikinfrastruktur (TI), die zentrale Plattform für digitale Anwendungen im deutschen Gesundheitswesen. Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) soll darüber hinaus eine zentrale Datenzugangs- und Koordinierungsstelle aufgebaut werden, die den Zugang zu Forschungsdaten aus verschiedenen Quellen wie Krebsregister oder Krankenkassendaten ermöglicht. Auch soll die federführende Datenschutzaufsicht für bundesländerübergreifende Forschungsvorhaben auf alle Gesundheitsdaten erweitert werden. Die datenschutzrechtliche Aufsicht für länderübergreifende Forschungsvorhaben im Gesundheitswesen hätten damit die Landesdatenschutzbeauftragten. Zustimmung und Kritik Der GKV-Spitzenverband, die zentrale Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen in Deutschland, begrüßte die Vorhaben der Bundesregierung: „Die elektronische Patientenakte hat das Potenzial, zum Herzstück eines digital modernisierten Gesundheitswesens zu werden. Wir unterstützen das Vorhaben, sie künftig allen gesetzlich Versicherten obligatorisch zur Verfügung zu stellen. Schon heute bieten alle gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten die Nutzung einer ePA an. Allerdings kann sie nur dann Die elektronische Patientenakte soll für alle Bürgerinnen und Bürger zügig eingeführt werden. Wer sie nicht nutzen möchte, muss ausdrücklich widersprechen. Das Vorhaben ist Teil der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung für das Gesundheitswesen und die Pflege. Mehr Daten für das Gesundheitssystem Elektronische Patientenakte und E-Rezept Model Foto: Colourbox.de 12 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2023

selbstverständlicher Teil der Versorgung sein, wenn ihre Nutzung durch einen einfachen und möglichst intuitiven Zugang alltagstauglich ausgestaltet wird. Hier erwarten wir möglichst schnell neue rechtliche Vorgaben, die dies ermöglichen“, sagte die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und der Datenschutz müssten Hand in Hand für das Wohl der Patientinnen und Patienten arbeiten. Der Verband erwarte von allen Akteurinnen und Akteuren im Gesundheitswesen, dass sie die Chancen der Digitalisierung nutzen. Wichtig sei darüber hinaus, dass jede und jeder Versicherte die Möglichkeit bekomme, auf die eigenen Gesundheitsdaten zuzugreifen und diese für seine eigene Behandlung, aber auch für Wissenschaft und Forschung zur Verfügung zu stellen. Auch der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) steht den Digitalisierungsbemühungen grundsätzlich positiv gegenüber und setzt auf das Smartphone als Schnittstelle für eine bessere Gesundheitsversorgung seiner Versicherten. Dazu sollen die Privatversicherten ab Mitte 2023 sogenannte digitale Identitäten erhalten können, die ihnen einen ebenso einfachen wie sicheren Zugang zu digitalen Services rund um ihre Gesundheit bieten. Dazu hat der PKV-Verband bereits 2022 Verträge mit der „IBM Deutschland GmbH“ und der Firma „Research Industrial Systems Engineering (RISE) Forschungs-, Entwicklungs- und Großprojektberatung GmbH“ abgeschlossen. Mit deren Hilfe soll es den Kunden der PKV künftig möglich sein, sich mit dem Smartphone beim Arzt online einzuchecken und auch digitale Anwendungen wie die elektronische Patientenakte oder das elektronische Rezept einfach über ihr Smartphone zu nutzen. Doch es gibt auch Kritik an den Plänen. So unterstützt die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zwar nutzbringende Lösungen, lehnt aber unrealistische Konzepte ab: „Es kann Gründe dafür geben, jeden Versicherten mit einer elektronischen Patientenakte auszustatten, sofern dieser dem nicht aktiv widerspricht. Das derzeitige Vorgehen von Politik und gematik erinnert jedoch fatal an die Fehler der vergangenen Jahre bei der Digitalisierung, in denen Anwendungen teilweise unausgereift als verbindlich erklärt wurden“, kritisierten die KBV-Vorstände Andreas Gassen, Stephan Hofmeister und Sibylle Steiner. Die ePA und das, was sie für eine noch bessere Versorgung leisten könne, sei zu wichtig, um überhastet angestoßen zu werden, „ohne Ziele, Abläufe, geschweige denn die Versorgungsrealität in den Praxen ausreichend einzuplanen und abzubilden und darüber hinaus als eine Art Zwangsbeglückung für die Versicherten“. Mit Blick auf die noch fehlenden konkreten inhaltlichen Vorgaben, die daraus abgeleiteten technischen Festlegungen und ihre datenschutzkonformen Implementierungen in den IT-Systemen sei das erklärte Ziel einer verpflichtenden Einführung ab 1. Juli 2024 „für jeden erkennbar unrealistisch“. Datenschutz verbessern Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Ulrich Kelber, äußerte sich am 9. Mai 2023 auf den Verbandstagen des Berufsverbandes der Datenschutzbeauftragten Deutschlands (BvD) e. V. in Berlin und kritisierte, dass die ePA auch rund 20 Jahre nach ihrer Konzeption noch immer nicht umgesetzt sei. Das liege nicht am Datenschutz, sondern „an den vielen Akteuren im Gesundheitswesen, die sich seit 20 Jahren behindern, beharken und gegenseitig beschuldigen. Die – oft aus wirtschaftlichen Motiven – kein Interesse an Digitalisierung, digitalen Übertragungswegen und gemeinsamen Datenformaten hatten und haben.“ Es sei kein Wunder, dass kaum ein Versicherter ein Produkt nutze, das bisher kaum über die Testphase hinausgekommen sei. Auch bei der nun geplanten flächendeckenden Einführung im Jahr 2024 blieben viele Fragen offen: „Sollen zum Beispiel auch die bisher in Praxen, Kliniken und Krankenkassen vorhandenen Patientendaten in die ePA eingepflegt werden und wer soll dies tun? Sind diese Daten miteinander kompatibel und strukturiert sowie für alle Praxen, Krankenhäuser und Apotheken nutzbar und machen alle diese Institutionen mit? Können die Versicherten tatsächlich entscheiden, wer welche ihrer Daten lesen und nutzen darf, und können sie selbst überhaupt diese Daten lesen?“ Daher machten das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) bei ePA und E-Rezept nicht etwa Auflagen bei der Nutzung, sondern Vorgaben zur besseren Ausgestaltung und zur Schließung von Sicherheitslücken. „Gesundheitsdaten sind die sensibelsten Daten der Menschen, deshalb darf es hier kein ,da drücken wir mal die Augen zu‘ oder ,das können wir ja später noch nachbessern‘ geben“, so Kelber. Noch weiter geht die Kritik des Ärzteverbandes Freie Ärzteschaft, der die Aushöhlung der Schweigepflicht befürchtet, wenn künftig Krankheitsdaten automatisiert und verpflichtend aus den Praxen heraus in zentralen Datensammlungen gespeichert und möglicherweise sogar europaweit abrufbar werden und das im Falle der sogenannten „Forschungsinteressen“ sogar ohne jede Möglichkeit des betroffenen Patienten, zu widersprechen: „Die gesamte Planung zielt darauf ab, die ärztliche Schweigepflicht aufzuheben und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten gleich mit“, kritisierte Dr. Silke Lüder, stellvertretende Vorsitzende der Freien Ärzteschaft und Allgemeinärztin in Hamburg, das Vorhaben scharf. Nachbesserungen am Gesetzentwurf fordert auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz, weil Patientinnen und Patienten nicht die Kontrolle über ihre medizinischen Informationen entzogen werden dürfe. „Schweigen bedeutet nicht Zustimmung“, so Stiftungsvorstand Eugen Brysch. Darüber hinaus befürchtet Brysch, dass technisch weniger versierte Menschen in ihren Rechten beschnitten werden könnten und das seien mehr als 20 Prozent der über 65-Jährigen. Auch der Forschung umfassende Daten anonymisiert zur Verfügung zu stellen, sei bedeutsam für die Bevölkerung. Der Gesetzgeber habe aber dafür Sorge zu tragen, dass so gewonnene Ergebnisse nicht ungefiltert veröffentlicht werden. Auch der dbb ist der Auffassung, dass Umsicht gefragt ist, wenn es um Gesundheitsdaten geht. Selbst wenn die Dateninfrastruktur zu 100 Prozent sicher vor unbefugtem Zugriff ist, bleibt das Risiko des individuellen Umgangs mit den eigenen Daten. Weitere mögliche „Nebenwirkungen“ der Digitalisierung könnten Eingriffe in die Patientenautonomie sein: Die elektronische Gesundheitskarte wird zu einem Datenspeicher par excellence, über den theoretisch Behandlungs- und Verordnungsdaten ausgewertet werden können. So wäre zum Beispiel eine Beschränkung der Arztbesuche pro Quartal leicht umsetzbar, um Kosten zu sparen. Die Möglichkeit für gesetzlich Krankenversicherte, unproblematisch eine Zweit- oder Drittmeinung einholen zu können, stünde dann zur Disposition. br FOKUS 13 dbb magazin | Juli/August 2023

Warten. Vor dem Tor. Hübsch ist die Stadt hier nicht, wo zwischen dem Industriegelände des Nordhafens, dem Hohenzollernkanal, dem Berliner Großmarkt und der Stadtautobahn die Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee liegt. „Gefängnisse wurden historisch immer am Stadtrand oder sogar vor den Stadttoren angelegt“, erzählt Thomas Goiny schon vor dem Eingang. Goiny arbeitet als Justizvollzugsbeamter in der JVA Tegel, ist Berliner Landesvorsitzender des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschland und begleitet uns, die Reporterin und den Fotografen. Während wir noch auf den Einlass in das Justizvollzugskrankenhaus (JVK) warten, beschreibt Goiny aus seiner Sicht die Hauptprobleme im Strafvollzug: Es wer- de generell mehr Personal gebraucht, die Gebäude müssten dringend saniert und erweitert werden. Berlin habe, wie jedes Bundesland, eigene Strafvollzugsgesetze. Diese gelten im bundesdeutschen Vergleich als besonders liberal. Auf der anderen Seite gebe es hier die größte Staatsanwaltschaft des Landes mit den meisten Verfahren. Die Situation der medizinischen Betreuung der im Land Berlin Inhaftierten ist nach Goinys Meinung grundsätzlich geprägt vom gestiegenen Bedarf an altenpflegerisch ausgebildetem Personal: „Die Inhaftierten werden immer älter. Die Insassen in Gefängnissen bilden die demografische Entwicklung in Deutschland eins zu eins ab.“ In einer Welt abseits der Welt „Wir hatten gerade die zweithöchste Alarmstufe. War aber nur eine Übung“, erklärt uns die freundliche junge Beamtin, die uns später durch mehrere Sicherheitsschleusen hineinholt. Das JVK des Landes Berlin ist zwar Teil der JVA Plötzensee, innerhalb dieser aber komplett räumlich getrennt, hat einen eigenen Eingang und eine besonders hohe Sicherheitseinstufung. Das bedeutet Mauern. Hohe, mit NATO-Draht. Zäune, Türen, Tore. Jede Laterne ist mit einem Kletterschutz versehen, zwischen den Gehwegplatten wächst kein Unkraut; die Fenster sind ausnahmslos vergittert und jede Tür hat ein großes Sicherheitsschloss. Man muss das wirklich wollen, das Hier-Arbeiten. Steffen Gerber ist einer, der das will. Tattoos und Vollbart entsprechen dem Bild eines Vollzugsbeamten, das manch einer im Kopf hat, vielleicht nicht ganz. Ein Hauch von Heavy Metal scheint den Endvierziger in Justizuniform zu umwehen. Seit 1993 ist er REPORTAGE Justizvollzugskrankenhaus Berlin Haus der Schlüssel Justizvollzugskrankenhäuser sind Krankenhäuser, die Häftlinge behandeln, und Haftanstalten für Erkrankte. Der Spagat, den diese doppelte Rolle dem Personal abverlangt, gelingt im Alltag gut. Aber die Allgemeinheit draußen reagiert häufig mit komplettem Unverständnis. Das erleichtert die Arbeit drinnen nicht. Steffen Gerber ist Justizvollzugsbeamter und Krankenpfleger in Personalunion. © Jan Brenner (12) 14 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2023

Krankenpfleger, danach hat er bei der Bundeswehr gearbeitet. Nach einer sechsmonatigen Vollzugsschulung mit Unterrichtsinhalten wie Straf- und Strafvollzugsrecht, Psychologie und Eigensicherung arbeitet er seit 2002 hier im Krankenhaus, ist inzwischen Medizinproduktebeauftragter und stellvertretender Vorsitzender des Personalrates. Wie alle, die hier arbeiten, ist er beides: Justizvollzugsbediensteter und medizinische Fachkraft. Gerber zeigt uns das Haus. Das Klappern seines Megaschlüsselbundes ist die Begleitmusik unseres Rundgangs. Alle Schlösser sind viermal so groß wie die Sicherheitsschlösser „draußen“, ebenso die Schlüssel. Für ihn Routine, für die Besucher befremdlich. Ob als Zugang zum Treppenhaus, auf die Stationen oder zu jedem einzelnen Raum: Gerber schließt jede Tür vor uns auf, lässt uns passieren und schließt hinter uns sorgfältig wieder ab. Das ist die eine Seite seines Berufes, die des Justizvollzugsbeamten. Dann zeigt er uns die Behandlungsräume und die Stationszimmer, in denen das Pflegepersonal die Patienten auch medizinisch überwacht. Die sehen so aus, wie in ganz normalen Krankenhäusern – wären da nicht die Fenstergitter und die Überwachungskameras. Selbst Räume für kleinere chirurgische Eingriffe gibt es hier. Auch die Patientenzimmer sehen kaum anders aus als Ein- oder Zweibettzimmer mit Nasszelle in anderen Berliner Krankenhäusern – nur haben die Fenster eben Gitter und die sehr soliden Türen neben den Schlössern auch große Riegel. In einigen ist der Durchgang zur Toilette zusätzlich mit einem Gitter gesperrt. Da in Zellen geraucht werden darf und Patientenzimmer Hafträume sind, sind Häftlinge wohl die einzigen Patienten, die im Krankenhaus rauchen dürfen. Das ist deutlich zu riechen. Einen Unterschied machen aber vor allem die Kriseninterventionsräume, in denen sich außer einer Matratze, einer Toilette, einer Deckenkamera und einer Panzerglasscheibe zum danebenliegenden Überwachungsraum nichts befindet. Nichts womit der Patient sich selbst verletzen oder jemanden vom Personal angreifen könnte. Medizinische Versorgung auf der Höhe der Zeit Im Haus arbeiten Fachabteilungen wie Physio- und Ergotherapie. Die Gänge sind mit Bildern, die Häftlinge im Rahmen der Kunsttherapie geschaffen haben, geschmückt. Es gibt mit Fitness- und Sportgeräten ausgestattete Therapieräume, denn die Patienten des JVK leiden doppelt unter dem Bewegungsmangel, den eine Haft mit einer Stunde Hofgang pro Tag ohnehin bedeutet. Der ambulante Teil des Krankenhauses wirkt wie ein medizinisches Versorgungszentrummit Untersuchungszimmern, einer Röntgenabteilung, Räumen auch für zahnmedizinische Versorgung. Ultraschall und endoskopische Untersuchungen können hier vorgenommen werden. Gerber ist auf die medizintechnische Ausstattung seines Hauses stolz. Er möchte wie alle, mit denen wir hier sprechen können, seine Patienten und Patientinnen gut versorgt sehen. Das ist die andere, die pflegerische Seite seines Berufes. Täglich kommen auch Insassen anderer Berliner Haftanstalten zu Untersuchungen ins Haus. Fürs CT oder MRT, aber auch für größere chirurgische Eingriffe, eben für alles, was das JVK nicht leisten kann, werden die Häftlinge „ausgeführt“ – also unter Bewachung in die entsprechend ausgerüsteten Berliner Kliniken gebracht und dort behandelt. Über die medizinische Notwendigkeit entscheiden die Ärzte, über den Bewachungsaufwand, der für den Häftling bei solchen Ausführungen betrieben werden muss, entscheidet die Leitung der Haftanstalt. Mitunter wird in der Öffentlichkeit kolportiert, dass Häftlinge so eine Vorzugsbehandlung erführen, da sie schneller an Termine bei Spezialisten kämen und auch keine Wartezeiten hätten. Wer so argumentiert, übersieht, dass als gefährlich eingeschätzte Häftlinge mitunter mit nicht magnetischer Fesselung imMRT untersucht werden. Die „vollzugliche SicherSogar endoskopische Untersuchungen sind im JVA-Krankenhaus möglich. Eingriffsraum im JVK Plötzensee. FOKUS 15 dbb magazin | Juli/August 2023

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