dbb magazin 4/2022

Resilienz und Gestaltungsfähigkeit des Staates Krise? Welche Krise? „Crisis? What Crisis?“ hieß ein 1975 erschienenes Album der britischen Popgruppe Supertramp. Man kann diesen Titel lesen als zweifelnde Frage, ob es denn überhaupt eine Krise gibt. Oder aber, und das erscheint aus heutiger Sicht viel plausibler, als Frage, welche der zahlreichen Krisen denn konkret gemeint ist. Viele Bürger beschleicht das Gefühl, dass Deutschland sich seit einiger Zeit – und nicht erst seit Ausbruch der Coronapandemie – im permanenten Krisenmodus befindet. Und nun auch noch der nur wenige Hundert Kilometer entfernt tobende Krieg Russlands in der Ukraine. Dieser Krieg und ebenso die Pandemie sind schon deshalb tiefgreifende Krisen, weil sie unsere gesamte bisherige Vorstellungswelt in ihren Grundfesten erschüttern. Wohl niemand in Deutschland konnte sich noch vor ein paar Wochen vorstellen, dass die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts bestehende Friedensordnung in Europa dermaßen brutal attackiert würde. Ebenso wenig schien es noch Anfang 2020 vorstellbar, dass ein Virus weite Teile unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems lahmlegen, alle privaten und beruflichen Routinen infrage stellen würde. Hier wurden scheinbare Gewissheiten einfach vom Tisch gewischt, das erzeugt Unsicherheit und Ängste. Aber damit längst nicht genug. Abgesehen von der Klimakrise und einer sich derzeit abzeichnenden Energiekrise hat die Pandemie weitere Krisenherde ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. So wurde offenbar, dass immer neue Sparrunden in Teilen der öffentlichen Verwaltung und namentlich in den Gesundheitsämtern große personelle Löcher hinterlassen haben. Dem deutschen Bildungssystem wurde schon vor Corona attestiert, in der Krise zu stecken. Geradezu himmelschreiend war und ist, was sich dann in den vergangenen zwei Jahren an Deutschlands Schulen abspielte, was Schülern, Eltern und Lehrern zugemutet wurde. Insbesondere die Länder haben sich damit selbst ein Armutszeugnis ausgestellt. Angesichts solcher Befunde liegt es nahe, Deutschland hinsichtlich der Fähigkeit, Krisen anzunehmen und zu bewältigen, ein „Ungenügend“ zu attestieren. Aber trotz der beschriebenen und anderer Schwachstellen wäre so ein Urteil einseitig und falsch. Denn dabei würde ausgeblendet, dass beispielsweise der deutsche Arbeitsmarkt sich in der Pandemie auch dank des Zusammenspiels von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften als erstaunlich krisenfest erwiesen hat. Das Gesundheitssystem geriet zeitweise an seine Grenzen, hielt letztlich aber den Belastungen stand. Nicht zu vergessen der beeindruckende Bürgersinn, der sich in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt hat: bei der Flüchtlingskrise 2015, auch in der Coronapandemie, bei der Flutkatastrophe im Ahrtal und auch jetzt wieder, wo täglich Zehntausende ukrainische Flüchtlinge in Deutschland eintreffen. Zugleich zeigt sich unser politisches System immer wieder und allen Kassandrarufen zum Trotz stabil. Der Regierungswechsel im vergangenen Herbst hatte durchaus das Potenzial für eine länger andauernde politische Krise. Alle Beteiligten aber erwiesen sich als reif und verantwortungsbewusst genug, um es nicht dazu kommen zu lassen. Gleiches gilt für den größten Teil der Wählerinnen und Wähler, die nicht den Lockrufen der Radikalen und Extremen folgten. Letztere verzeichneten in der jüngeren Vergangenheit nicht nur in Deutschland vermehrt Zulauf, weil sie scheinbar einfache Antworten auf anstehende Probleme parat haben. Aber solche einfachen Antworten, so sehr wir alle sie uns manchmal wünschen mögen, werden den Herausforderungen einer immer komplexer werdenden Welt nicht gerecht. Diese Komplexität geht einher mit Veränderungen, die sich ihrerseits immer schneller vollziehen. Viele Menschen fühlen sich dadurch überfordert, erleben auch deshalb das Geschehen als Abfolge immer neuer Krisen. Hier liegt wohl auch das größte Risiko: Wenn die Bürger den Glauben an sich und zugleich an die Krisenresilienz und Gestaltungsfähigkeit des Staates verlieren, droht eine Vertrauenskrise, die letztlich die Fundamente unseres demokratischen Gemeinwesens unterspülen kann. Ralf Joas ... Dr. Ralf Joas ist stellvertretender Leiter des Ressorts Politik, Wirtschaft und Zeitgeschehen der „Rheinpfalz“, die in Ludwigshafen erscheint. Der Autor ... Unser politisches System zeigt sich immer wieder und allen Kassandrarufen zum Trotz stabil. © Ante Hamersmit/Unsplash.com MEINUNG 16 FOKUS dbb magazin | April 2022

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