dbb magazin 11/2021

die andere meinung < Der Autor Nils Markwardt ist Leitender Redakteur/Chefredakteur Online des „Philosophie Magazin“. Verwaltung braucht Bürokratie Nicht möglichst „schlank“, sondern möglichst gut, effizient und gerecht Die Pandemie hat viele vermeintliche Gewisshei­ ten erschüttert. Dazu gehörte hierzulande auch das eifrig gepflegte Selbstbild als teutonischer Organisationsweltmeister. Denn plötzlich, so schien es, versagte die deutsche Verwaltung. Ob bei Kontaktnachverfolgun­ gen, beim Testen oder Impfen: Die Behörden hingen lange hinterher. War deshalb zuletzt viel von Staats- und Bürokra­ tieversagen die Rede, erscheint das einerseits nachvollziehbar. Zumal es ja nicht nur die Pan­ demie ist, die den Bürgerinnen und Bürgern Anlass zur Aufre­ gung gibt. Man denke etwa an die jüngsten Pannen bei der Wahl in Berlin, die tatsächlich so haarsträubend und zahl­ reich waren, dass bis dato nicht einmal klar ist, ob der Urnengang in der Hauptstadt womöglich sogar wiederholt werden muss. Andererseits offenbart sich die zum Volks­ sport avancierte Klage über träge Beamte und dysfunktio­ nale Verwaltungen bisweilen aber auch als eigentümlich un­ differenziert, ja ungerecht. Nun kann Letzteres nicht völlig überraschen, hat die Bürokra­ tie im kollektiven Bewusstsein doch seit jeher ein schlechtes Image. Denn so sehr man sich in Deutschland gerne der Vor­ stellung hingibt, man könne einfach besser planen und ab­ lochen als der Rest der Welt, fungierte die geteilte Empö­ rung über komplizierte Vor­ schriften und langsame Bear­ beitungsvorgänge gleichzeitig immer auch als alltagskommu­ nikatives Schmiermittel der bundesrepublikanischen Ge­ sellschaft. Und dabei konnte man sich sogar auf die ganz Großen berufen. Hatte doch schon Goethe in Dichtung und Wahrheit das Bild von lethargischen Beamten gezeichnet, Kafka die Büro­ kratie als dadaistische Dauer­ gängelung beschrieben oder Adorno vor der „verwalteten Welt“ gewarnt. Was bei der eingeübten Bürokratiekritik jedoch oft aus dem Blick gerät: Verwaltungen sind per definitionemmit einem organisationssoziologi­ schen Dilemma konfron­ tiert, das sich nie ganz auflösen lässt. Sollen sie doch, mit Max Weber gesprochen, einerseits ein „stahlhartes Gehäuse“ der Rati­ onalität sein, das Gesellschaft erst ermöglicht, indem es alles, was der Fall ist, effizient und schnell in zu bearbeitende Bah­ nen lenkt. Andererseits soll die Bürokratie dabei aber auch Gerechtigkeit herstellen, also korrekt und vor allem ohne Ansehen der Person handeln. Gerade deshalb sind viele Vor­ schriften ja auch derart kom­ pliziert und kleinteilig: So lässt sich die Gefahr von Willkür oder Diskriminierung minimie­ ren. Dass Effizienz und Gerech­ tigkeit dabei in Spannung gera­ ten können, liegt nicht nur auf der Hand, sondern zeigte sich im Zuge der Pandemie etwa in den USA, wo zwar im Vergleich zu Deutschland schneller ge­ impft wurde, Schwarze und Latinos jedoch viel langsamer zum Zuge kamen als Weiße. Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich muss dys­ funktionales Verwaltungshan­ deln kritisiert werden, insbe­ sondere wenn es wie in der Pandemie um Leben oder Tod geht. Ebenso schütteln Berline­ rinnen und Berliner zu Recht mit den Köpfen, wenn ihre Stadt womöglich bald zum Fall für OSZE-Wahlbeobachter wird oder man den obligatorischen Ämtergang zur Ummeldung innerhalb von zwei Wochen machen muss, die frühesten Termine aber erst in zehn Wo­ chen zu kriegen sind. Doch sollte solch eine Kritik erstens die spannungsreiche Funkti­ onslogik von Verwaltungshan­ deln einrechnen und zweitens im Bewusstsein geschehen, dass es sich dabei auch um eine Folge des seit Jahrzehnten hochgehaltenen Mantras vom „Bürokratieabbau“ handelt. Was sich nämlich gut anhört und nach kurzen Bearbeitungs­ zeiten klingt, bedeutet in der Praxis meist das Gegenteil, nämlich eine chronische Unter­ finanzierung von Bürgeräm­ tern oder Schulbehörden. Um beim Beispiel der Hauptstadt zu bleiben: Die frustrieren­ den Alltagserfahrungen, die man hier mit der Verwal­ tung machen kann, haben auch und vor allem damit zu tun, dass die Ämter an permanentem Personal­ mangel leiden. Die Mitar­ beiterin eines Berliner Bür­ geramts, so konnte man jüngst in einer Reportage in der Süddeutschen Zei­ tung lesen, antwortete auf die Frage, warum sie bereits vor ihrem ei­ gentlich Dienstbe­ ginn Termine anneh­ me, etwa: „Wenn ich das nicht täte, hätten wir hier nur Verzweiflung.“ Sind funktionierende Verwal­ tungen jedoch nicht nur der Maschinenraum des Staates, sondern letztlich auch das Rückgrat der Demokratie, braucht es keinen Bürokratie­ abbau, sondern vielmehr einen Bürokratieausbau. Freilich nicht im Sinne unnötiger Regeln, sondern in Form von durchdigi­ talisierten und personell wie finanziell gut aufgestellten Be­ hörden. Aus demokratietheo­ retischer Sicht müssen Verwal­ tungen nämlich nicht möglichst „schlank“, sondern möglichst gut, also effizient und gerecht, sein. Oder wie Max Weber es formulierte: „Eine Verwaltung ist entweder bürokratisch oder dilettantisch.“ Nils Markwardt Foto: ElenaShow/Colourbox.de MEINUNG 19 dbb > dbb magazin | November 2021

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