dbb magazin 12/2020

europa Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa Bedrohte Selbstverständlichkeit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erschienen lange Zeit selbstverständlich im wiedervereinten Europa. In Deutschland garantieren Grundgesetz und Bundes­ verfassungsgericht sowie ein bisher noch großer gesellschaftlicher Konsens diese gute Ordnung. Der vor wenigen Wochen veröffentlichte erste Rechtsstaatbericht der Euro­ päischen Kommission zeigt je­ doch, dass diese und vergleich­ bare Garantien in Europa vielerorts an Grenzen stoßen. Zu Anfang der 2020er-Jahre treten die ungebrochene Dyna­ mik der Geschichte und die Vergänglichkeit jeder Ordnung mit Macht ins Bewusstsein. Die Pandemie ist dabei nicht ein­ mal ein Schlüsselfaktor. Viel wirkmächtiger sind durch viel­ fältige Modernisierungsprozes­ se ausgelöste Verunsicherung, soziale Abstiegsängste und die diese begünstigenden tektoni­ schen Verschiebungen in der Welt, der Auf- und Abstieg von Groß- und Weltmächten, die seit Jahren schwächer werden­ de Gravitationskraft der USA und damit einhergehend im­ mer größere Zentrifugalkräfte auch in Europa. Europa und der Westen, wie sie sich nach dem Zweiten Welt­ krieg unter amerikanischer Auf­ sicht entwickelten, haben die Bundesrepublik Deutschland und ihr politisches System ge­ prägt. Die freiheitlich demokra­ tische Ordnung, die das Grund­ gesetz der alten Bundesrepublik 1949 begründete, hat stabile, auf Dauer angelegte Institutio­ nen hervorgebracht. Lehren aus der eigenen, katastrophalen Geschichte und eine alliierte Kontroll- und Besatzungsmacht haben dies ermöglicht. Nicht umsonst verbietet die Ewig­ keitsgarantie des Grundgeset­ zes jede die Menschenwürde berührende Abschwächung der Grundrechte sowie die Ab­ schaffung der föderativen Ord­ nung. Dass die Bundesrepublik Deutschland eine rechtsstaatli­ che Demokratie mit Gewalten­ teilung sowie ein Bundes- und ein Sozialstaat ist, wird jeder Änderung durch den Ver­ fassungsgesetzgeber, Bundestag und Bundesrat, entzogen. Selbst heute, nach vielen Krisen und im Angesicht einer gespal­ tenen und geschwächten Euro­ päischen Union, vermag sich kaum jemand ein Europa vorzu­ stellen, dessen Staaten nicht vermittels integrierter Politiken gemeinsam für Frieden und Wohlstand sorgen. Zu Anfang der 1990er-Jahre ging dies so weit, dass der politische Wes­ ten über die Geschichte gesiegt zu haben schien. Das Grundge­ setz blieb auch nach der Wie­ dervereinigung bestehen, nahm die neuen Bundesländer auf. Und auch Europa wurde immer größer. Das Gros der von der Sowjetunion und demWar­ schauer Pakt befreiten Staaten trat mit NATO und EU westli­ chen Ordnungssystemen bei. Dass die freiheitlich demo­ kratische Grundordnung und die europäische Integration je­ doch alles andere als selbstver­ ständlich sind, wird zu Beginn der 2020er-Jahre angesichts ei­ ner Vielzahl von Bedrohungen, Herausforderungen und Krisen immer deutlicher. Gewiss war es immer schon naiv anzunehmen, unsere Ordnung, sei es die grund­ gesetzliche oder die europäi­ sche, unterliege nicht der Willkür der Zeit. Wenn sich der Fluss der Geschichte in Stromschnellen beschleunigt, können auch vermeintlich stabile Boote untergehen, dauerhafte Institutionen ins Wanken geraten. Eindeutig ins Wanken geraten ist der politische Westen. Großbri­ tannien ist aus der EU ausge­ treten, das Leuchtfeuer der Freiheit jenseits des Atlantiks zumindest vorübergehend erloschen. Die Pax Americana bietet Europa nicht mehr den Kitt, der rechtsstaatliche De­ mokratie, Freiheit und gesell­ schaftlichen Zusammenhalt über Jahrzehnte als entschei­ dende Kraft gewährleistete. So nimmt es nicht wunder, dass die freiheitlich demo­ kratische Grundordnung, Foto: Kristian Kirk Mailand/Maimento/Colourbox.de 40 dbb > dbb magazin | Dezember 2020

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