dbb magazin 10/2019

jugend Appell für einen Dialog im eigenen Land Ostdeutsche Identität wächst sich nicht wie angenommen heraus Ost und West: Das haben wir hinter uns. Könnte man denken. Dem ist aber nicht ganz so. Denn auch junge Menschen, die nach 1990 geboren sind, füh­ len sich noch immer ostdeutsch. Wir sollten anfangen nachzufragen, warum das so ist, findet die Journalistin Marie-Sophie Schiller. Ich bin im Osten geboren. Nur wenige Monate vor dem Fall der Mauer. Bis zu meinem 18. Lebensjahr war das für mich niemals Thema. Geteiltes Land, das war vor meiner Zeit. Dach­ te ich. Dann zog ich nach Berlin und merkte schnell, meine Her­ kunft ist sehr wohl noch The­ ma. Ach, du kommst aus dem Osten. Zack, Stempel. Vorurtei­ le und Zuschreibungen begeg­ neten mir auch Jahre später immer wieder. Anfangs reagier­ te ich darauf zurückhaltend, irgendwann fing ich an mich zu verteidigen. Ich fing an, den Osten zu verteidigen. Erst als ich dieses Thema – die ostdeut­ sche Identität – auch journalis­ tisch aufarbeitete, begriff ich, dass ich damit nicht allein bin. Im Gegenteil. Eine ostdeutsche Identität ist auch bei den Gene­ rationen, die nach 1990 gebo­ ren sind, deutlich ausgeprägt. Daniel Kubiak, Soziologe an der Humboldt-Universität Berlin, erforscht die Frage, ob sich jun­ ge Erwachsene auch 30 Jahre nach demMauerfall noch west- oder ostdeutsch fühlen. Auch sein Ergebnis: Ja, das tun sie – zumindest im Osten. In den Gruppendiskussionen, die er mit Jugendlichen aus ganz Deutschland führt, hat er fest­ gestellt, dass es diese ostdeut­ sche Identität noch immer gibt – eine westdeutsche Identität hingegen gebe es kaum. Der Forscher meint, dass Ostdeutsche noch immer als zusammenhängende Gruppe angesprochen und benannt werden. Und darauf würden sie auch reagieren. Aber wenn junge Erwachsene sich heute als Ossi bezeichnen, bedeutet das etwas anderes als noch vor 20 Jahren: Es geht nicht um ei­ nen DDR-Bezug. Es geht nicht darum, dass sie sagen, früher sei alles besser gewesen. Es geht um Abwertungserfah­ rungen wegen ihrer Herkunft, sagt Kubiak. << Ostdeutsche: Bürger zweiter Klasse? Solche Erfahrungen von Ab­ wertung haben bereits die Eltern der Nachwendegenera­ tion erlebt – und das ist ein Grund dafür, weshalb die ost­ deutsche Herkunft auch heute noch Thema ist. Weniger als die Hälfte, nur 46 Prozent der 18- bis 29-Jährigen in Ost­ deutschland, glauben, ihren Eltern ginge es durch die Wie­ dervereinigung besser. 21 Pro­ zent glauben sogar, es ginge ihnen dadurch schlechter. Das fand die Otto-Brenner- Stiftung heraus. Auch der Soziologe Daniel Kubiak erklärt, das Ostdeutsch­ sein wird sehr stark darüber verhandelt, dass die Eltern in der DDR aufgewachsen sind, und vor allem, wie es den El­ tern nach der Wiedervereini­ gung ging. Arbeitslosigkeit, geschlossene Betriebe, all das wirke bis heute nach. In einer Umfrage der Sächsi­ schen Zeitung vom Januar 2018 heißt es: Ostdeutsche fühlen sich noch immer – durch alle Bildungsschichten hinweg – als Bürger zweiter Klasse. Überraschend ist, dass dem vor allem die 18- bis 29-Jährigen zustimmen – und zwar mit über 70 Prozent. Nun gut, die ostdeutsche Iden­ tität wächst sich nicht einfach heraus wie bislang angenom­ men. Das müsste ja auch nichts Schlechtes heißen. Schließlich ist ein Bewusstsein für die eigene Herkunft auch manchmal wichtig und richtig. Ich glaube, es sollte uns trotz­ dem interessieren. Denn auch bestimmte Einstellungen zu Politik, Institutionen und Ge­ sellschaft sind in der Nachwen­ degeneration noch nicht ge­ samtdeutsch vereint. Das fand die Otto-Brenner-Stiftung in einer diesjährigen Studie her­ aus. Verglichen wurden dabei die Einstellungen junger Men­ schen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren. Und zwar in Ost und West. Was auffällt: Fast allen öffent­ lichen Institutionen vertrauen junge Menschen im Osten Deutschlands weniger als die Befragten aus demWesten. Insgesamt vertraut die Nach­ wendegeneration der Polizei ammeisten. Aber auch Gerich­ ten und der Justiz vertrauen im Marie-Sophie Schiller lebt in Leipzig und ar­ beitet als Journalistin für die ARD und den Deutschlandfunk. Seit März 2019 betreibt sie außerdem den Podcast „Ost – Eine Anleitung“ – ost.podigee.io © Privat 28 dbb > dbb magazin | Oktober 2019

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