dbb magazin 9/2021

tarifpolitik Tarifeinheitsgesetz Koalitionsrecht und Tarifautonomie dürfen nicht angetastet werden Arbeitnehmende können in der Bundesrepublik Deutschland frei über die Gewerkschaftszugehö­ rigkeit ihrer Wahl entscheiden. Die Koalitionsfrei­ heit in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes gibt ihnen das Recht, „zur Wahrung und Förderung der Ar­ beits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigun­ gen zu bilden“. Das 2015 in Kraft getretene Tarif­ einheitsgesetz stellt diese Grundsätze infrage. Und das, obwohl dieses not­ standsfeste Grundrecht aus­ drücklich „für jedermann und für alle Berufe“ gewährleistet ist. Es bleibt den Beschäftigten überlassen, ob sie sich einer berufsspezifischen, branchen­ übergreifenden oder weltan­ schaulich ausgerichteten Ge­ werkschaft anschließen und wen sie mit der Vertretung ih­ rer Interessen in Tarifverhand­ lungen betrauen. Dies wollten in Anbetracht des zunehmen­ den Einflusses sogenannter „Spartengewerkschaften“ verschiedene Kräfte, darunter unter anderem die Bundes­ vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die SPD und der DGB ändern und trieben die Idee einer „Zwangstarifeinheit“ voran. Am 15. Juli 2015 trat das Tarif­ einheitsgesetz (TEG) trotz mas­ siver Proteste und Widerstän­ de zahlreicher Gewerkschaften sowie Expertinnen und Exper­ ten in Kraft. Danach soll nur noch die jeweils mitglieder­ stärkere Gewerkschaft im Be­ trieb die Tarifhoheit haben. Berufsspezifische Arbeitneh­ mervereinigungen, beispiels­ weise zahlreiche Fachgewerk­ schaften unter dem Dach des dbb, sind theoretisch gehin­ dert, eigene Tarifverträge für ihre Mitglieder abzuschließen. Zugleich werden die Mitglieder der kleineren Gewerkschaft faktisch ihres Koalitionsrechts und ihrer Tarifautonomie beraubt. Der dbb und viele weitere betroffene Gewerkschaften und Berufsverbände legten unverzüglich Verfassungs­ beschwerde gegen das TEG ein. Entgegen der überwiegen­ den Rechtsauffassung der Be­ schwerdeführer, Verfassungs- und Arbeitsrechtsexperten entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe am 11. Juli 2017 in einem auch unter den Verfas­ sungsrichtern hochumstritte­ nen Urteil, dass das TEG zwar in die Koalitionsfreiheit ein­ greift und Grundrechte beein­ trächtigen kann, gleichwohl aber „weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar“ ist. Der Senat sah indes das Risiko, dass die Interessen kleinerer Berufsgruppen unter den Tisch fallen könnten, deswegen soll­ te der Gesetzgeber bis Ende 2018 noch schützende Vor­ kehrungen schaffen. Ende November 2018 folgte dann unter dem Deckmantel des Qualifizierungschancen­ gesetzes die durch das BVerfG aufgegebene Änderung des TEG durch die Bundesregierung. Ohne öffentliche Beteiligung und kurz vor Ablauf der gesetz­ ten Nachbesserungsfrist wurde § 4 a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertrags­ gesetz um einen zweiten Halb­ satz ergänzt, der die einseitige Vernachlässigung der Belange der Angehörigen einzelner Be­ rufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge im Sinne der Vor­ gaben des BVerfG verhindern soll. Dort heißt es: „… (Mehr­ heitstarifvertrag); wurden beim Zustandekommen des Mehr­ heitstarifvertrags die Interes­ sen von Arbeitnehmergruppen, die auch von dem nach dem ersten Halbsatz nicht anzuwen­ denden Tarifvertrag erfasst werden, nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt, sind auch die Rechtsnormen dieses Tarifvertrags anwendbar.“ Der dbb ist der Auffassung, dass die durch den Gesetz­ geber vorgenommene Nach­ besserung des TEG den Vorga­ ben des BVerfG nicht gerecht wird. Daher legte der dbb am 13. März 2019 Verfassungs­ beschwerde gegen das TEG in seiner geänderten Fassung ein und macht die Verletzung der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG geltend. Mit Be­ schluss vom 19. Mai 2020 (Az.: 1 BvR 672/19, 1 BvR 797/19, 1 BvR 2832/19) ent­ schied die 3. Kammer des Ers­ ten Senats des BVerfG, die Ver­ fassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Verfassungsbeschwerde sei nachrangig, sodass die auf­ geworfenen Fragen zunächst von den Fachgerichten an ei­ nem konkreten Fall geklärt werden müssten. Ein solcher liegt bislang nicht vor. Zudem hat das BVerfG keine rechtlichen Bedenken, die Aus­ gestaltung der Interessenbe­ rücksichtigung der Minderheits­ gewerkschaft den Tarifparteien zu überlassen. Ob dabei die grundrechtlichen Wertungen des Art. 9 Abs. 3 GG ausrei­ chend berücksichtigt werden, sei dann im konkreten Fall von den Fachgerichten zu klären. Zuvor hatte der dbb bereits am 18. Dezember 2017 auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Klage gegen das TEG eingereicht. Das Straßburger Gericht hat die Be­ schwerde angenommen und sowohl die Bundesregierung als auch den dbb mehrmals zu Stellungnahmen aufgefordert. Hier steht eine Entscheidung noch aus. © Marco Urban 25 dbb > dbb magazin | September 2021

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