dbb magazin 11/2025

RUHESTAND Arbeiten im Alter Zwischen Freiheit, Pflicht und Inszenierung Die politische Debatte über Altersvorsorge und Ruhestand verschiebt den Fokus zunehmend auf die Verantwortung des Einzelnen. Forderungen nach einer höheren Lebensarbeitszeit, wie kürzlich von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche ins Spiel gebracht, zeichnen das Bild des „faulen Rentners“, der trotz jahrzehntelanger Erwerbstätigkeit Mitschuld an der Rentenkrise trägt. Die Lösung allein in der Bereitschaft der älteren Generation zu suchen, länger zu arbeiten, ist nicht nur kurzsichtig, sondern auch diskriminierend. Die strukturellen Ursachen für den Kostendruck in der Rentenversicherung wie die Auswirkungen des Niedriglohnsektors, die unzureichende Besteuerung extrem hoher Vermögen, die zunehmende Prekarisierung und demografische Faktoren werden weitgehend ausgeblendet. Viele Ruheständlerinnen und Ruheständler fühlen sich dadurch nach einem langen Arbeitsleben abgewertet und unter Druck gesetzt. Ein ganz anderes Bild zeichnet der amerikanische Fahrdienstanbieter Uber in einem Werbeclip: Kazem M., 75 Jahre alt, hält lächelnd ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin in Rente und möchte arbeiten. Uber macht dies möglich“ in die Kamera und erzählt, dass er im Ruhestand nichts mit seiner freien Zeit anzufangen wusste und Uber-Fahrer wurde. Die Realität ist allerdings nicht nur statistisch betrachtet komplexer. Viele Personen in Rente arbeiten nicht nur aus persönlicher Motivation, sondern auch aus finanziellen Gründen. Im März 2025 gaben gegenüber dem Statistikportal statista.de 53 Prozent der Befragten an, über das Rentenalter hinaus arbeiten zu können und zu wollen – 64 Prozent nannten allerdings finanzielle Aspekte. Weitere Motive waren soziale Kontakte (53 Prozent), Angst vor Langeweile (42 Prozent) und Arbeit als Mittel zur Selbsterfüllung (33 Prozent). Unter den 65- bis 75-Jährigen, die bereits Rente beziehen und weiterarbeiten, üben 69 Prozent eine abhängige Beschäftigung aus, 50 Prozent lediglich als Minijob – nur ein Drittel nennt finanzielle Notwendigkeit als Grund. Arbeitspsychologische Theorien erklären, warum finanzielle Motive oft nicht offen genannt werden. Laut Selbstwahrnehmungstheorie interpretieren Menschen ihr Verhalten zum Beispiel als Hinweis auf intrinsische Motivation: Personen in Rente nehmen ihre Tätigkeit lieber als sinnvoll oder sozial bereichernd wahr, auch wenn Geld letztlich entscheidend ist. Die Zwei-FaktorenTheorie zeigt, dass Gehalt Unzufriedenheit verhindert, während Sinn, soziale Interaktion und Aktivität Zufriedenheit erzeugen. Zusammen kann dies dazu führen, dass Personen in Rente ihre Arbeit als selbst gewählt und erfüllend empfinden, auch wenn sie aus finanzieller Notwendigkeit handeln. Auf die Uber-Werbung angewendet zeigen diese Theorien, wie solche Darstellungen die Wahrnehmung prägen. Die Darstellung im Werbeclip betont ausschließlich intrinsische Gründe, während finanzielle Erwägungen ausgeklammert bleiben. Indirekt kann das sowohl Unternehmen als auch der Politik in die Hände spielen: Unternehmen gewinnen flexible Arbeitskräfte auf Minijobbasis, während sich die Politik weniger um strukturelle Maßnahmen zur Stabilisierung der Versorgungssysteme kümmern muss, solange die ältere Generation bereit ist, länger zu arbeiten, und dies als eigene Entscheidung wahrnimmt. Die Kombination aus gesellschaftlichem Druck, politischen Vorstößen, finanzieller Notwendigkeit und psychologischen Mechanismen kann Menschen in Rente dazu bewegen, länger zu arbeiten, als sie es ohne äußere Einflüsse getan hätten. Die Politik muss ihrer Verantwortung gegenüber den Alterssicherungssystemen gerecht werden. Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, sollten ihren Ruhestand selbstbestimmt und ohne finanziellen Zwang gestalten können – inklusive flexibler Möglichkeiten für Ältere, die weiterarbeiten möchten und können. Die jüngst erzielte Einigung der Bundesregierung über die Aktivrente ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sie soll es Rentnerinnen und Rentnern ab 2026 ermöglichen, bis zu 2 000 Euro pro Monat steuerfrei hinzuzuverdienen. Doch auch hier muss nachjustiert werden. Das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) kritisiert zum Beispiel, dass davon wahrscheinlich überwiegend ehemals gut verdienende Menschen profitieren werden, während Ältere mit niedrigem Einkommen eher in Minijobs arbeiten. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Druck jedoch, der Ältere zur Arbeit im Ruhestand zwingt, untergräbt die Autonomie und würdigt Lebensleistungen herab. Deshalb müssen auch Lösungen für diejenigen gefunden werden, die trotz Arbeit aufgrund ihrer Erwerbsbiografien oder Krankheit kein hinlängliches Auskommen im Alter haben. eh © Unsplash.com/Getty Images 26 FOKUS dbb magazin | November 2025

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==