ARBEITNEHMER Wochenhöchstarbeitszeit Flexibilisierung oder Belastung? Die Bundesregierung will die Arbeitszeit flexibilisieren. Statt einer täglichen Höchstarbeitszeit soll laut Koalitionsvertrag künftig eine flexiblere Wochenarbeitszeit gelten. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat errechnet, dass in Deutschland im internationalen Vergleich zu wenig gearbeitet wird. 2023 arbeiteten Menschen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren in Deutschland durchschnittlich 1 036 Stunden pro Jahr. In Griechenland waren es 1 172 Stunden, in Polen sogar 1 304. Beim Spitzenreiter Neuseeland lag der Wert bei über 1 400 Stunden. Das IW gibt allerdings zu, dass diese Länderangaben schwer vergleichbar sind. Da in den nächsten Jahren immer mehr Babyboomer den Arbeitsmarkt verlassen und in den Ruhestand gehen, wird das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen – die Summe aller geleisteten Stunden – rückläufig sein, weil es weniger Arbeitskräfte gibt. Als Gegenmaßnahme empfiehlt das IW die Erhöhung der durchschnittlichen Arbeitszeit sowie die Reduzierung von Teilzeit. Gründe für vermehrte Teilzeit sieht das IW im progressiven Steuertarif sowie einem früheren Renteneintritt. Zusätzlich steht die Idee im Raum, einen Feiertag zu streichen, um so rechnerisch einen zusätzlichen Arbeitstag pro Jahr zu gewinnen. Das deutsche Arbeitszeitgesetz (ArbZG) regelt die zulässige Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit mit dem Ziel, Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten zu schützen. Die tägliche Arbeitszeit darf acht Stunden nicht überschreiten. Eine Ausweitung auf bis zu zehn Stunden ist erlaubt, sofern innerhalb von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen im Durchschnitt nicht mehr als acht Stunden pro Werktag gearbeitet werden. Die gesetzlich zulässige Wochenarbeitszeit liegt bei maximal 48 Stunden, basierend auf einer Sechs-Tage-Woche. In Ausnahmefällen kann sie kurzfristig auf bis zu 60 Stunden steigen – allerdings nur, wenn der Durchschnitt von 48 Wochenstunden über den Ausgleichszeitraum hinweg eingehalten wird. Die politisch vorgeschlagenen Flexibilisierungen stellen den gesetzlich verankerten Acht-Stunden-Tag infrage. Dann könnte es möglich sein, die tägliche Arbeitszeit auf bis zu 13 Stunden auszudehnen, solange die wöchentliche Höchstarbeitszeit bei 48 Stunden bleibt. Damit würde sich Deutschland stärker an der EU-Arbeitszeitrichtlinie orientieren, die weniger strenge Vorgaben macht als das ArbZG. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht die Debatte deutlich kritischer. Es verweist darauf, dass das gesamtwirtschaftliche Arbeitszeitvolumen in Deutschland trotz sinkender individueller Arbeitszeiten seit 2005 deutlich gestiegen ist. 2023 wurde mit rund 55 Milliarden geleisteten Stunden ein Höchststand seit der Wiedervereinigung erreicht. 1991 lag das Volumen bei 52 Milliarden, 2005 bei nur 47 Milliarden Stunden jährlich. Der Anstieg der Gesamtarbeitszeit ist unter anderem auf die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen zurückzuführen. Trotz hoher Teilzeitquote hegen viele Frauen den Wunsch nach einer längeren Arbeitszeit. Um dieses Potenzial zu heben und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, empfiehlt das DIW gezielte Maßnahmen wie einen Ausbau der Kinderbetreuung sowie steuerliche Anreize. Auch DIW-Präsident Marcel Fratzscher betont, dass der Arbeitskräftemangel nicht durch weniger Feiertage behoben werden könne, sondern durch gezielte Zuwanderung und den Abbau von Hürden für die Erwerbstätigkeit von Frauen und Geflüchteten. Ein häufig übersehener Aspekt in der Debatte ist die hohe Zahl an unbezahlten und undokumentierten Überstunden – hier liegt die Bundesrepublik nach Zahlen des Portals statista.de im europäischen Vergleich weit vorn. „Eine Ausweitung der täglichen Arbeitszeit untergräbt den Schutzgedanken des Arbeitszeitgesetzes und gefährdet gewerkschaftliche Errungenschaften wie den Gesundheitsschutz“, sagt dbb Chef Volker Geyer. Mit steigender Arbeitszeit sinken Konzentration und Leistungsfähigkeit – Fehler und Unfälle nehmen zu, die Produktivität leidet. Kürzere Ruhezeiten verschärfen das Problem. Auch der scheinbar flexible Umgang mit der wöchentlichen Arbeitszeit birgt Risiken, so Geyer: „Längere Arbeitstage könnten am Ende zu einer faktisch erhöhten Wochenarbeitszeit führen – vor allem, wenn weiterhin unbezahlte Überstunden geleistet werden. Die Frage, wie stark belastete Beschäftigte diese zusätzliche Arbeitszeit bewältigen sollen, bleibt unbeantwortet.“ _ Model Foto: Colourbox.de 6 AKTUELL dbb magazin | September 2025
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