dbb magazin 7-8/2025

Calliess. Anders als im nationalen Recht gebe es auf europäischer Ebene keine Instrumente wie ein Parteiverbot. Gleichzeitig stelle sich auf nationaler Ebene die Frage, welche Rolle die EU dabei spiele, die Resilienz ihrer Mitgliedstaaten zu stärken. Ein zentrales Problem sieht Calliess im Vollzug europäischen Rechts: „Die Leute wollen sehen, dass die EU funktioniert. Wir müssen europäisches Recht mit Leben und Glaubwürdigkeit füllen. Es geht um das Recht im Alltag. Darum, dass die Mitglieder das Recht, das die EU beschließt, auch durchsetzen.“ Die EU sei eben kein Bundesstaat, die Mitgliedschaft freiwillig. „Das haben uns auch die Briten gezeigt. Wir brauchen deshalb eine gute Balance zwischen Freizügigkeit, Funktionalität und Steuerung“, erklärt er. Auch Roland Theis MdB, Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Europaausschuss, betonte: „Das Recht alleine kann die Demokratie nicht schützen.“ Vielmehr müsse Politik das Leben der Menschen konkret im Alltag verbessern, um das Vertrauen in die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu erhalten. „Hinzu kommt: Dinge, die man für selbstverständlich hält, meint man nicht verteidigen zu müssen.“ Das gelte für viele Menschen hinsichtlich der Demokratie ebenso wie für die Errungenschaften der Europäischen Union. Hier habe er aber bereits ein verändertes Bewusstsein gerade bei jungen Menschen festgestellt: „Zwischen den Europawahlen 2019 und 2024 gab es einen Quantensprung beim Bewusstsein für den Wert der demokratischen Prozesse, auch in Europa.“ Die Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Britta Haßelmann, hat angesichts aktueller Herausforderungen mehr Geschlossenheit und einen klaren Wertekompass in der Europäischen Union gefordert. „Wir haben einen enormen Nachholbedarf, haben aber in den 27 EU-Ländern keinen Konsens“, erklärte Haßelmann. Als Beispiel nannte sie Ungarn: „Wir müssen uns fragen, ob in Zukunft Rechtsstaatlichkeit an Zahlungen aus der EU geknüpft ist.“ Haßelmann plädierte dafür, die Menschen stärker für das europäische Projekt zu gewinnen. „Wir müssen gemeinschaftlich aktiver sein. Wie können wir die Energie und Begeisterung für die EU nutzen? Viele fragen sich, was die EU konkret in ihrem Alltag bedeutet“, sagte sie. Es gehe darum, verständlich zu vermitteln, was Europa leiste: „Wenn ich über Finanzplanung und Green Deal rede, hole ich die Leute nicht ab. Aber wenn ich über europäische Freizügigkeit spreche, dann gewinne ich die Herzen und das Gehör der Leute.“ In einer Zeit, in der Ex-Präsident Trump mit „America First“ eine Politik der Abschottung propagiert habe, müsse Europa ein klares „Europe United“ entgegensetzen. Dr. Anna-Maija Mertens, Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland, verwies auf eine repräsentative Forsa-Umfrage. Demnach gibt knapp die Hälfte der Befragten in Deutschland an, zwar an der Europäischen Union interessiert zu sein, jedoch die Arbeitsweise der einzelnen EU-Institutionen nicht zu verstehen. 80 Prozent halten die EU für wichtig, fühlen sich aber gleichzeitig nicht „mitgenommen“. „Wir müssen Europa und die Rolle Deutschlands in Europa besser erklären“, forderte Mertens. Anderenfalls, so warnte sie, „lassen wir den Platz frei für die, die Europa zerstören wollen“. Mit Blick auf Mitgliedsländer mit Rechtsstaatsdefiziten wie Ungarn sprach sie sich für eine „Koalition der Willigen“ aus, um eine „strukturierte Integration“ zu ermöglichen. Die deutsch-finnische Politikerin kritisierte die deutsche Praxis der Stimmenthaltungen in den vergangenen Jahren, das sogenannte „German Vote“. Dieses Vorgehen schade Europa, weil kleinere EU-Mitgliedstaaten wie Finnland gezwungen seien, abzuwarten, wie Deutschland sich entscheide. Stattdessen brauche es Führung und Klarheit – etwa in Fragen der Verteidigung. Finnland habe es beispielsweise für notwendig gehalten, entlang der russisch-finnischen Grenze mit sogenannten Pushbacks auf russische Provokationen zu reagieren. Diese Provokationen hätten darauf abgezielt, das Land und die EU durch das gezielte Einschleusen von Migranten zu destabilisieren. Finnland habe dabei bewusst gegen EU-Recht verstoßen. Wenn es um Sicherheit gehe, müssten die Europäer kohärenter zusammenarbeiten. „Und damit müssen wir jetzt anfangen.“ Gosia Binczyk, stellvertretende Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, erläuterte, was die Arbeit der Kommission im Kern ausmacht: Die Priorität liege klar auf dem Schaffen und Durchsetzen eines Rechtsrahmens für die Zusammenarbeit – eines Rahmens, der mit Leben gefüllt werden müsse. Ihr selbst sei es, die noch im Polen des Kriegsrechts aufgewachsen sei, quasi in die Wiege gelegt worden, die Demokratie als etwas zu begreifen, das man schützen müsse, weil man es liebe. Bei jungen Menschen sei dieses Bewusstsein womöglich nicht mehr so ausgeprägt. Deshalb gebe es Initiativen, die an Schulen gehen, Pixibücher zum Thema „Demokratie“ und – für Teenager – sogar das Computerspiel „Fabulous Council“, das zeige, „was es bedeutet, Kompromisse zu finden“. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit sei die Bekämpfung von Desinformation. „Europa ist Teamsport“, betonte sie weiter und wies – wie auch Mertens – darauf hin, dass Deutschland als Land mit dem größten Stimmanteil mit einer Politik der Stimmenthaltungen kleinere Staaten mit nur wenigen Stimmen mitunter in Bedrängnis bringe. Binczyk erinnerte an ihre Erfahrungen als Teilnehmerin an den TTIP-Verhandlungen vor einigen Jahren: „Man muss erklären: Was verteidigen wir und warum verteidigen wir es?“ Nur so könne man Angriffe auf die Demokratie von außen wie von innen abwehren. Lilian Schwalb, Geschäftsführerin beim Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE), warnte in ihrem Schlusswort: „Zivilgesellschaftliches Engagement ist Angriffen ausgesetzt, international, aber auch in Deutschland. Hier stellt sich die Frage: Wo beginnt legitime Kontrolle, wo beginnt politische Einschüchterung? Da müssen wir alle gemeinsam wachsam sein, denn eine lebendige Zivilgesellschaft ist der beste Schutz für die Demokratie.“ ada, dsc, ef Lilian Schwalb INTERN 35 dbb magazin | Juli/August 2025

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==