• Ioannis Vardakastanis im Portrait, im Hintergrund Fahnen der EU-Mitgliedstaaten

Europäischer Behindertenausweis

Meilenstein auf dem Weg zu einer uneingeschränkten Unionsbürgerschaft

von Ioannis Vardakastanis, Vorsitzender des Europäischen Behindertenforums (EDF) und Berichterstatter des EWSA für den Europäischen Behindertenausweis.

dbb europathemen

Unionsbürger haben laut Artikel 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union „das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“. Dieses Grundrecht gilt für alle Menschen, und demnach auch für Menschen mit Behinderungen.

Hindernisse im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union verhindern allerdings, dass die Menschen mit Behinderungen uneingeschränkt davon Gebrauch machen können. Gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das in der EU verbindliches Recht ist, müssen Einschränkungen der Mobilität und des Aufenthalts aufgrund von Behinderungen beseitigt werden. Dabei kann es sich um materielle, rechtliche, einstellungsbedingte oder sonstige Hindernisse handeln. Wird eine Behinderung nicht anerkannt, gilt sie bei Reisen des Betroffenen in einen anderen Mitgliedstaat als nicht vorhanden.

Menschen mit Behinderung können ihre Rechte als Unionsbürger nicht in vollem Umfang wahrnehmen.

Dafür gibt es einen genauso ungerechten wie einfachen Grund: Die Mitgliedstaaten erkennen den Behindertenstatus nicht gegenseitig an. Menschen mit Behinderung können bei Reisen zu Freizeit-, Arbeits- oder Studienzwecken nicht die Rechte, Unterstützung und Hilfe in Anspruch nehmen, die sie benötigen, um gleichberechtigt mit Menschen ohne Behinderung zu leben. Wollen sie die für sie notwendige und ihnen zustehende Unterstützung auch im Gastland in Anspruch nehmen, müssen sie ihre Behinderung dort neu bewerten lassen, was Monate oder sogar Jahre dauern kann.

 

Der vorgeschlagene Europäische Behindertenausweis soll nun etwas an diesem Missstand ändern.

Die Idee ist nicht neu, setzt sich doch die Behindertenbewegung schon seit 2010 für einen solchen Ausweis ein, der seinerzeit noch Europäischer Mobilitätsausweis hieß, um den Aspekt des freien Reisens innerhalb der EU hervorzuheben. Später benannte die Europäische Kommission das Dokument in Behindertenausweis um.

Im Zeitraum 2016-2018 führte die Europäische Union in acht Mitgliedstaaten (Belgien, Estland, Finnland, Italien, Malta, Rumänien, Slowenien und Zypern) ein Pilotprojekt durch. Das Projekt beruht auf der gegenseitigen Anerkennung, d. h., jeder der teilnehmenden Mitgliedstaaten erkennt die Behindertenausweise der anderen Mitgliedstaaten an, auch wenn diese nach den jeweiligen nationalen Vorschriften ausgestellt wurden. Die Initiative wurde bei der Bewertung als Erfolg eingestuft und sollte deshalb weiterverfolgt werden.

Das Pilotprojekt bildet einen guten Ausgangspunkt, war allerdings in Reichweite und Ansatz begrenzt. Die Ausweisinhaber erhalten vor allem in den Bereichen Kultur, Freizeit, Sport und Tourismus Vergünstigungen, zum Beispiel ermäßigten Eintritt für Museen, Schwimmbäder oder Kinos. Weitere Vorteile sind kürzere Wartezeiten in Vergnügungsparks oder freier Eintritt für eine Begleitperson bei Musikfestivals oder ähnlichen Veranstaltungen. Außerdem sind die potenziellen Ausweisberechtigten und das Einlasspersonal oft nicht ausreichend über die Ausweise informiert oder damit vertraut. Hier besteht großer Verbesserungsbedarf.

Angesichts dieser Beschränkungen sollte der Europäische Behindertenausweis durch einen verbindlichen EU-Rechtsakt, konkret durch eine Verordnung, eingeführt werden. Die gegenseitige Anerkennung des Behindertenstatus ist dabei eine Notwendigkeit und muss sich auf viele andere Bereiche als nur Kultur, Freizeit und Sport erstrecken. Das heißt, grundsätzlich auch auf den öffentlichen Verkehr auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene, den Bereich der Bildung im Rahmen der EU-Mobilitätsprogramme, die Beschäftigungsförderung in der Übergangsphase für den Zugang zum nationalen Behindertenleistungssystem bei einem Umzug ins Ausland sowie auf kommerzielle Vorteile.

 

Tourismus ist zwar wichtig, doch die meisten Hürden und Diskriminierungen gibt es in den Bereichen Bildung und Beschäftigung.

Außerdem sollte der Ausweis durch eine Website und eine Online-Datenbank auf EU-Ebene in allen EU-Sprachen sowie durch ein EU-Finanzierungsinstrument flankiert werden, das Kontinuität gewährleistet. Als Begleitmaßnahme sollte zudem eine Kommunikations- und Sensibilisierungskampagne durchgeführt werden, um größtmögliche Wirkung zu erzielen.

Wichtig ist dabei, dass die Menschen mit Behinderung und ihre Interessenverbände in den gesamten Prozess von den politischen und legislativen Verfahren bis hin zur Einführung und öffentlichen Bekanntmachung des Ausweises eng eingebunden werden.

Der Ausweis wird nicht alle Probleme lösen, mit denen Menschen mit Behinderung bei Auslandsreisen in der EU zum Beispiel bei der Zugänglichkeit von Infrastrukturen oder Verkehrsmitteln oder bei Nichtbeförderung in Flugzeugen aufgrund der Behinderung konfrontiert sind. Er ist dennoch ein erster symbolischer Schritt, um Menschen mit Behinderungen überall in der EU stärker ins Bewusstsein zu rücken.

 

Die ausführliche Stellungnahme des EWSA findet sich hier.

 

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